Ich wurde diese Woche ausgesperrt – für 24 Stunden. So lange durften Journalisten mit einem C1-Ausweis das Parlamentsgebäude in Bern ab Montagabend nicht mehr betreten. Es handelt sich um eine Art Akkreditierung zweiter Klasse für Medienschaffende, die nicht zu mindestens 60 Prozent im Bundeshaus arbeiten. Wegen des Coronavirus waren wir nicht mehr erwünscht.
Ich hätte damit leben können. Hart war der Entscheid vor allem für Vertreterinnen und Vertreter kleinerer Medien, die sich kein festes Büro in Bern leisten können oder wollen, während den Sessionen aber in der Bundesstadt einquartiert sind, um über die Arbeit des Parlaments zu berichten. Sie standen auf einmal vor verschlossenen Türen.
Weiterhin zugelassen waren fest akkreditierte Journalisten – und Lobbyisten mit Zutrittsbadge eines Parlamentsmitglieds. Selbst Vertreter dieser Branche schüttelten den Kopf. Am Dienstagabend liess die von Nationalratspräsidentin Isabelle Moret (FDP) geleitete Verwaltungsdelegation der Bundesversammlung uns C1-er wieder rein.
Ein Besuch am Mittwoch ergab ein seltsames Bild. Es war irritierend ruhig in dem Gebäude, das normalerweise einem Bienenhaus gleicht, wenn das Parlament tagt. «Gewöhnliche» Besucher bleiben coronabedingt von der Frühjahrsession ausgeschlossen, weshalb etwa das Parlamentscafé «Galerie des Alpes» eine regelrechte Leerstelle bildete.
In Gesprächen mit Kolleginnen und Parlamentariern kam eine gewisse Überforderung zum Ausdruck. Das Coronavirus sorgt für einen Ausnahmezustand, der auch für ältere Semester ungewohnt ist. Wir haben nie eine ähnliche Situation erlebt. Das gilt auch für andere Länder, für die Schweiz als von grossen Katastrophen verschonte «Insel der Seligen» aber erst recht.
Überfordert sind viele, nicht nur das Parlament im Umgang mit Journalisten. Selbst das zuständige Bundesamt für Gesundheit (BAG) wirkt nicht immer trittsicher. Mit Daniel Koch verfügt es über einen Fachmann, der Kompetenz und Ruhe ausstrahlt. Der konkrete Umgang mit dem Virus aber lässt zu wünschen übrig.
So gibt es Klagen über schlecht geführte Statistiken. Eine watson-Kollegin versuchte diese Woche zweimal vergeblich, die BAG-Hotline zu erreichen. Beim dritten Mal wurde sie nach 28 (!) Minuten mit einer Person verbunden, die sich als inkompetent erwies. Kein Wunder: Die Mitarbeitenden haben keine medizinische Ausbildung, sie wurden notdürftig geschult.
Alain Berset und Heidi Hanselmann erklären vor laufender Kamera die neuen Massnahmen. Dazu gehört es auch, Händeschütteln zu vermeiden. Und was machen die beiden am Ende der Pressekonferenz: Sie verabschieden sich mit Händeschütteln. #coronavirusnews @Blickch pic.twitter.com/6hPhk6KIft
— infonlinemed (@infonlinemed) March 5, 2020
Man kann ihnen keinen Vorwurf machen. Das gilt nicht für den Gesundheitsminister. Als Alain Berset am Mittwochabend vor die Medien trat, beschwor er das Social Distancing. Man solle eine gewisse Distanz zu den Mitmenschen einhalten, um die Verletzlichsten zu schützen. Bereits am Montag hatte das BAG empfohlen, das Händeschütteln zu vermeiden.
Was aber tat Berset nach der Medienkonferenz? Er reichte Heidi Hanselmann, der Präsidentin der kantonalen Gesundheitsdirektoren, die Hand! Hohn und Spott in den sozialen Medien liessen nicht auf sich warten. Ein Gesundheitsminister, der die Empfehlung seiner Behörde ignoriert – wie kann man da den Kampf gegen das Coronavirus ernst nehmen?
Vieles wirkt wenig durchdacht. Das gilt auch für die am Mittwoch beschlossene faktische Bewilligungspflicht für Veranstaltungen mit mehr als 150 Teilnehmenden. Schulen und öffentliche Verkehrsmittel sind ausgenommen. «Es ist ein Balanceakt, griffige Massnahmen zu erreichen, ohne das gesellschaftliche Leben lahmzulegen», räumte Hanselmann ein.
Wenn Züge, Trams und Busse nicht mehr verkehren, steht die Schweiz still. Dabei ist das Ansteckungsrisiko nicht zu unterschätzen, dachte ich ebenfalls diese Woche, als ich zur abendlichen Stosszeit in einer vollen Zürcher S-Bahn unterwegs war. Als der Sitznachbar auch noch auf Italienisch in sein Handy plapperte, kam endgültig so etwas wie Corona-Panik auf.
So schnell können Vorurteile zuschlagen!
Es geht hier wohlgemerkt nicht darum, die Krankheit zu verharmlosen. Sie hat in der Waadt gerade ihr erstes Todesopfer gefordert, eine 74-jährige Frau, was darauf hindeutet, dass ältere Personen tatsächlich besonders gefährdet sind. Experten wie der Epidemiologe Marcel Salathé von der ETH Lausanne warnen, das Virus könnte uns das ganze Jahr verfolgen.
Und genau da beginnt das Problem, etwa mit dem vom Bundesrat am letzten Freitag angeordneten Verbot von Veranstaltungen mit mehr als 1000 Teilnehmern. Die meisten Medien applaudierten dem Entscheid, was mich ziemlich irritierte. In Notlagen schliesst man reflexartig die Reihen hinter der Regierung, ohne die weiteren Konsequenzen zu bedenken.
Die Anordnung ist vorerst bis zum 15. März befristet. Was aber geschieht danach, wenn sich die Lage nicht entspannt, worauf so ziemlich alles hindeutet? Einfach zurücknehmen kann der Bundesrat den Entscheid nicht, dabei beklagen Event-Veranstalter und Sportvereine schon jetzt lautstark die ihnen entgehenden Einnahmen.
Für sie könnte es schnell existenzbedrohend werden. Unsere Fussballklubs brauchen das Geld, das die Zuschauer durch Eintritte und Konsumation ablieferen, weil die Fernsehrechte vergleichsweise wenig einbringen. Geisterspiele sind deshalb keine Option. Ein Abbruch der Meisterschaft würde nicht nur den FC St. Gallen schmerzen.
Erste Rufe nach Subventionen sind bereits laut geworden. Auch Konzertveranstalter hoffen auf Papa Staat. Einzelne Kantone scheinen die Limite gezielt auszureizen, damit ihre hoch subventionierten Theater und Opernhäuser eine Schliessung vermeiden können – obwohl gerade diese Einrichtungen tendenziell ein überaltertes Publikum haben.
Die Absicht der Landesregierung, Tatkraft zu demonstrieren, hat zu Willkür geführt und könnte unabsehbare Folgen haben. Ähnlich drastische Massnahmen hat nur das schwer geprüfte Italien ergriffen. Andere scheinen pragmatischer vorzugehen, etwa die Deutschen, denen man nicht ganz zu Unrecht einen Hang zur Überreaktion nachsagt.
Vielleicht liegt es nicht nur daran, dass wir Schweizer keine Erfahrung im Umgang mit Katastrophen haben. Unsere Manie, alles möglichst perfekt zu erledigen, könnte das harte Durchgreifen ebenfalls motiviert haben. Entstanden ist ein Kuddelmuddel, bei dem Menschenmassen hier verboten sind und dort toleriert werden.
Heute Freitag trifft sich der Bundesrat zu seiner nächsten Sitzung. Das Coronavirus wird bestimmt ein Thema sein. Man darf auf mögliche Entscheide gespannt sein. Und im Parlament werden vielleicht bald alle ausgesperrt, nicht nur wir C1-Journalisten. Danach bleibt nur die Heimreise – zum Beispiel im voll besetzten Zug.
sollen denn keine Züge mehr fahren? dann sind Sie auch wieder ausgesperrt oder nicht? 😉
Die Situation ist für alle neu, ob Mechaniker, Kassiererin, Anwalt, Arzt oder Bundesrat. Ein bisschen mehr Geduld und Verständnis würde sicher nicht schaden.
Insbesondere die Presse scheint ja besonders heiss auf diese Panik zu sein. Es ist echt nicht mehr auszuhalten...