Schon vor hundert Jahren machte der französische Arzt Albert Calmette eine verblüffende Entdeckung: Kinder, die gegen Tuberkulose geimpft worden waren, erkrankten nicht nur seltener an der Infektion selbst, sondern überlebten auch andere Kinderkrankheiten häufiger. Spätere Studien verdichteten die Hinweise darauf, dass der Tuberkulose-Impfstoff mehr kann als das, wofür er ursprünglich entwickelt wurde. So wird er heute sogar standardmässig zur Behandlung von Blasenkrebs eingesetzt.
Das klingt nach einem grossen medizinischen Rätsel. Zumal die Beobachtung eines breiten Schutzes nicht nur für den Tuberkuloseimpfstoff gilt, sondern auch für andere Impfstoffe. Die Liste ist lang – und wächst weiter:
Aber wie kann das sein? Die Erklärung liegt in einer Fähigkeit des Immunsystems, die erst vor kurzem entdeckt wurde: «Anders als lange vermutet, lässt sich das angeborene Immunsystem offenbar trainieren», sagt Onur Boyman, Professor für Immunologie an der Universität Zürich und Gründer des Swiss Center of Allergy, Immunology and Autoimmunity.
Was er damit meint, lässt sich an einem Bild veranschaulichen: Man stelle sich den Körper als eine Burg vor, die ständig von Krankheitserregern belagert wird. Zunächst eilt der wilde Krieger herbei – das angeborene Immunsystem, das wir von Geburt an mit auf den Weg bekommen. Es schlägt mit seiner Keule auf alles ein, was ihm verdächtig erscheint. In über 90 Prozent der Fälle macht es die Angreifer fertig. Doch raffinierte Feinde entkommen ihm oft.
Dann übernimmt der Meisterfechter – das spezifische Immunsystem mit seinen Antikörpern, B- und T-Zellen. Es analysiert die Gegner, erkennt ihre Schwächen, setzt dann präzise Konterstrategien ein. Und: Es merkt sich jeden einzelnen Feind für zukünftige Schlachten.
Was man heute weiss: Nicht nur der Meisterfechter, auch der Krieger wird mit jedem Kampf besser. «Auch das angeborene Immunsystem, zu dem etwa Fress- und Natürliche Killerzellen gehören, entwickelt eine Art Gedächtnis», erklärt Boyman. Eine Erkenntnis, die in der Immunologie als Paradigmenwechsel gilt. Zwar bleibt die Abwehr unspezifisch und richtet sich nicht gezielt gegen einzelne Erreger. Doch das angeborene Immunsystem wird trainiert, bei der nächsten Bedrohung schneller und schlagkräftiger zu reagieren – indem es sich in permanenter Alarmbereitschaft hält.
Dafür verantwortlich sind gemäss Boyman eine Reihe von epigenetischen Umprogrammierungen in den Immunzellen der Organe und des Knochenmarks. Bei der Epigenetik werden nicht die Gene an sich verändert, sondern sie bestimmt, welche Gene aktiviert werden und welche nicht. Im Fall der trainierten Immunität beobachtete man epigenetische Veränderungen an Genen, die Entzündungsbotenstoffe produzieren, die krankmachende Keime jagen.
Allerdings: Die epigenetischen Veränderungen halten nicht ewig an. Das könnte mit ein Grund dafür sein, dass zum Beispiel der eingangs erwähnte Schutz des Gürtelrose-Impfstoffs gegen Demenz mit der Zeit nachzulassen scheint. Das wirft die Frage auf, ob man sich möglichst oft impfen lassen sollte, um das Immunsystem dauerhaft in Topform zu halten. Immunologe Boyman winkt ab: «Es kann auch ein Zuviel geben, bei dem das Immunsystem in eine Art Übertraining gerät.» Das sei wie im Sport: Regelmässiges Joggen ist gesund, ein Ultramarathon kann den Körper jedoch überfordern und Verletzungen provozieren.
Boyman plädiert daher für einen Mittelweg, orientiert am Schweizer Impfplan. Dazu gehören unter anderem die Basisimpfungen im Kindes- und Jugendalter, die Pneumokokken- und Gürtelrose-Impfung ab 65 Jahren sowie die Grippeimpfung, die sich jährlich allerdings nur für Risikopersonen empfiehlt.
Denn wird das angeborene Immunsystem ständig stimuliert. So gibt es Hinweise, dass die trainierte Immunität chronische Entzündungen und damit Krankheiten wie etwa die Gefässkrankheit Atherosklerose begünstigen kann.
Doch das ist nicht alles: Steht das Immunsystem dauerhaft unter Strom, kann der vermeintliche Schutz vor neurodegenerativen Erkrankungen wie Demenz ins Gegenteil umschlagen. So berichteten US-Forscher 2023 im Fachblatt «Neuron», dass bestimmte Infektionen – etwa Influenza, virale Lungenentzündungen oder Hepatitis – mit einem erhöhten Risiko für Gehirnerkrankungen verbunden sind. Es ist also ein schmaler Grat zwischen sinnvoller Aktivierung und gefährlicher Überstimulation des Immunsystems.
Derweil halten es kanadische Forscher dennoch für möglich, dass die trainierte Immunität ein «Gamechanger» für künftige Pandemien sein könnte. Die Idee, die sie kürzlich im Fachblatt «Frontiers in Immunology» festhielten: Solange noch keine massgeschneiderte Impfung gegen den neuen Erreger existiert, könnte man mit bereits vorhandenen Impfstoffen das Immunsystem der Bevölkerung stimulieren und einen gewissen Grundschutz aufbauen.
Boyman kennt diese Überlegung – sie wurde zu Beginn der Corona-Pandemie in Fachkreisen denn auch diskutiert. Doch man verwarf die Strategie aufgrund zu vieler Unklarheiten. Eine Sorge war, dass das Immunsystem durch eine Grippeimpfung unnötig abgelenkt würde – und weniger Ressourcen für die Abwehr des eigentlichen Feindes, SARS-CoV-2, blieben. «Bevor wir bei einer nächsten Pandemie anders entscheiden würden», sagt Boyman, «braucht es mehr Forschung zu den genauen Mechanismen der trainierten Immunität.» (aargauerzeitung.ch)