Eigentlich nimmt Fabien nie das Velo, um zur Arbeit zu fahren. Doch an diesem Tag im September 2023 entschied sich der 39-jährige Familienvater für ein Mal anders. Es war ein folgenschwerer Entscheid. Als Fabien die Bahnschiene überquerte, verhakte sich das Vorderrad in der Rille. Mit voller Wucht stürzte er aufs rechte Knie, die Knochen wurden zertrümmert.
Nach der Operation, bei der die Bruchstücke mit einer Metallplatte miteinander verbunden wurden, verbrachte er zwei Monate in der Rehaklinik in Sitten. Nochmals zwei Monate später begann er wieder zu arbeiten, erst im Teilzeitpensum, später wieder Vollzeit. Doch: «Die Schmerzen sind geblieben», sagt Fabien.
Er versuchte es mit Physiotherapie, Wassertherapie im Schwimmbad, Muskelaufbautraining – ohne Erfolg. Auch griff er zu Schmerzmitteln, vor allem, wenn er zu Hause war. Denn: «Wir haben zwei kleine Töchter. Ich musste also irgendwie funktionieren.»
Schmerzen sind überlebenswichtig. Sie sind ein Warnsignal, wenn im Körper etwas nicht in Ordnung ist. Doch manchmal hört das Signal einfach nicht auf zu schrillen, selbst wenn Wunden verheilt und Brüche längst wieder zusammengewachsen sind. Dann hat sich der akute Schmerz in einen chronischen verwandelt.
Von chronischen Schmerzen spricht man, wenn der Schmerz länger als drei Monate andauert, obwohl die Ursache bereits abgeheilt ist. Schätzungsweise 1,5 Millionen Menschen sind davon in der Schweiz betroffen. Zu den Auslösern zählen Erkrankungen wie Krebs, Arthritis, Diabetes, neuropathische Schmerzen, Fibromyalgie – oder eben Verletzungen, wie sie nach Unfällen wie bei Fabien auftreten. 5 bis 10 Prozent der Unfallpatienten litten noch zwei Jahre später an Schmerzen, erklärt Bertrand Léger. Der Biologe leitet die Forschung der Suva-Rehakliniken in Sitten und Bellikon.
Chronischer Schmerz entsteht aus einer Verkettung biologischer, emotionaler und psychischer Faktoren, die sich gegenseitig negativ bestärken. In seiner Erforschung rücken zunehmend sogenanntre epigenetische Veränderungen zunehmend in den Fokus, die beim Übergang von akuten zu chronischen Schmerzen eine wichtige Rolle spielen sollen.
Die Epigenetik bestimmt, welche Gene im Erbgut aktiviert werden und welche nicht. Das kann sich im Lauf des Lebens verändern. Beispielsweise hinterlassen Verletzungen, Entzündungen, Stress oder Traumata chemische Spuren in der DNA, was die Epigenetik umprogrammiert. Dies geschieht unter anderem durch sogenannte MicroRNAs. Das sind kurze Molekülstränge in den Körperzellen, die Gene ausschalten können. Für deren Entdeckung erhielten die US-Forscher Victor Ambros und Gary Ruvkun im vergangenen Herbst den Nobelpreis für Medizin.
Ganz bestimmte Typen von solchen MicroRNAs fanden Bertrand Léger und sein Team auch in Blutproben von Reha-Patientinnen und -Patienten mit chronischen Schmerzen. In der Kontrollgruppe mit gesunden Personen kamen diese Moleküle nicht vor. «Diese Erkenntnis eröffnet nicht nur die Möglichkeit, MicroRNAs als diagnostische Marker für chronische Schmerzen zu nutzen, sondern auch als Angriffspunkt für neue Therapien», erklärt Léger.
Eine interessante Beobachtung war ihm zufolge zudem, dass sich in der Studie die «Schmerz-MicroRNAs» zwischen Frauen und Männern unterschieden. Das mag mit ein Grund dafür sein, dass die Schmerzverarbeitung und Schmerzchronifizierung geschlechtsabhängig ist – und auch, warum Schmerzmittel bei Frauen als bei Männern anders wirken und auch andere Nebenwirkungen haben.
Derzeit gilt Bewegung als die beste Therapie gegen chronische Schmerzen. Eine vollständige Heilung oder nur schon eine langfristige Linderung der Schmerzen ist oftmals nicht möglich, auch nicht mit Medikamenten. So bleibt der Schmerz ein ständiger Begleiter der Betroffenen, was ihr Leben massiv einschränkt. Jeder zweite chronische Schmerzpatient klagt über Hoffnungslosigkeit, jeder fünfte verliert seinen Arbeitsplatz.
Fabien konnte seine Arbeitsstelle als Case Manager behalten. Doch privat hadert er manchmal. «Meine erst zwei Jahre alte Tochter kann ich nicht tragen, die Belastung aufs Knie ist zu schmerzhaft», erzählt Fabien. Und selbst vermeintlich einfache Dinge im Haushalt wie den Müll hinaustragen oder Einkaufstaschen schleppen sind derzeit nicht möglich. «Zum Glück erhalten meine Frau und ich viel Unterstützung von unseren Verwandten, Freunden und Nachbarn.»
Die ermutigende Nachricht für chronische Schmerzpatienten wie Fabien ist, dass epigenetische Veränderungen wieder rückgängig gemacht werden können. Eine Hoffnung auf Heilung besteht also darin, einen Wirkstoff zu finden, der gezielt die «Schmerz-MicroRNAs» blockiert. Dass das Prinzip funktioniert, zeigen Studien zu Krebs und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Bei Schmerzen sei man allerdings noch nicht so weit, sagt Léger.
Der Biologe betont zudem, dass es sich bei chronischen Schmerzen um «ein äusserst komplexes Krankheitsbild» handelt. Deshalb sagt er: «Es wird immer eine auf jeden Patienten und jede Patientin zugeschnittene Behandlung brauchen. Selbst wenn wir dereinst einen Wirkstoff gegen die epigenetischen Veränderungen finden werden.»
So lange möchte Fabien ohnehin nicht warten. Deshalb entschied er sich für eine zweite Operation, von der er sich gerade in der Reha erholt. «Ich spüre bereits eine Verbesserung», erzählt er. So könne er das Knie inzwischen beugen, belasten allerdings noch nicht. Doch er ist zuversichtlich: «Ich bin von Natur aus ein sehr positiv eingestellter Mensch und glaube fest daran, dass die Schmerzen bald aus meinem Leben verschwinden werden.»