Alles hat seine Geschichte. Auch das Wissen. Während die meisten Menschen vor allem das Ende eines Denkprozesses interessiert, die neusten wissenschaftlichen Erkenntnisse im Hier und Jetzt, beschäftigt sich Anne Kwaschik, Professorin für Wissengeschichte an der Universität Konstanz, mit dessen Anfängen; mit historischen Formen von Wissen und seinen vergangenen Fokussen. Sie zeichnet seine verschlungenen Wege nach, untersucht die gesellschaftlichen Kontexte, in denen Wissen gesammelt wurde, und beleuchtet die Werkstätten seiner Produktion, die Methoden und Bedingungen seiner Gewinnung, Vermittlung, Verteilung und Anwendung.
Wissensgeschichte umfasst alle Felder der Wissensfindung und ist weder auf eine wissenschaftliche Disziplin beschränkt noch überhaupt auf den akademischen Bereich. Sie ist überall dort, wo Menschen ihre Erkenntnisse in irgendeiner Form sammeln, leben und weitergeben.
Frau Kwaschik, sind wir auf geradem Weg ins erkenntnistheoretische Paradies oder verblöden wir zunehmend?
Ich würde sagen, wir stecken in einer interessanten Transformationsphase, deren Ende und Ergebnis wir (natürlich) noch nicht kennen: Die Selbstbeschreibungen unserer Gesellschaften als Wissens- oder Informationsgesellschaften passen nicht mehr, auch «Netzwerkgesellschaft» hat sich überlebt – was kommt nun? Was wird die Künstliche Intelligenz verändern? Wie gehen wir damit um? Im Moment existieren mehrere vielgestaltige Wissensregime nebeneinander, aber worauf einigen wir uns? HistorikerInnen sind ja bekanntlich nur rückwärtsgewandte Prophetinnen …
Stimmt, dann lass' ich Sie besser nichts weissagen, sondern lieber etwas definieren: Was ist Wissen?
Wissen ist einer der zentralen Selbstverständigungsprozesse moderner Gesellschaften (was wird als Wissen angesehen? Wie wird es produziert?), das heisst ein Prozess, in dem eine Gesellschaft aushandelt, welche Themen für sie wichtig sind und wie sie behandelt werden. Wenn wir uns diese Prozesse historisch anschauen, lernen wir eine Menge über die Geschichte von modernen Gesellschaften, darüber, wie sie sich selber verstehen oder verstanden wissen wollen. Wissen ist eine ihrer zentralen, wir nennen das, «Repräsentationen».
Was hat Sie dazu bewogen, Professorin für Wissensgeschichte zu werden?
Ich bin über die Geschichte des Kolonialismus zur Wissensgeschichte gekommen (mein Habilitationsthema, auch als Buch erschienen: Der Griff nach dem Weltwissen). Es ist nach wie vor ein gutes Beispiel, um die Bedeutung von Wissen für historische Phänomene und Prozesse zu verstehen: Wissen ermöglicht Ausbeutung und Eroberung, aber Ausbeutung und Eroberung produzieren auch Wissen – Kolonialismus als Wissensprojekt in seiner gesellschaftlichen Bedeutung wird inzwischen überall erforscht, in transnationaler Perspektive, auf regionaler, lokaler Ebene. Denken Sie an die bis vor Kurzem gezeigte Ausstellung «kolonial – Globale Verflechtungen der Schweiz» im Schweizerischen Landesmuseum.
Dort konnte man zum Beispiel sehen, dass an den Universitäten Zürich und Genf rassistisches Denken gelehrt wurde, das internationale Verbreitung fand und der Legitimation des kolonialen Systems diente.
Das zeigt, dass die Tatsache, ob ein Land Kolonien hat oder nicht, keine Rolle spielt bei der Frage, ob es am Wissensprojekt teilnimmt beziehungsweise davon geprägt ist.
Wie wichtig ist Wissen für die Geschichtswissenschaft?
Wissen ist in den letzten Jahren zur vielleicht wichtigsten Perspektive oder Fragestellung der Geschichtswissenschaft geworden, ebenso wie Kultur in den 90er Jahren oder Gesellschaft in den 60er/70er Jahren. Das hat mit der oben stehenden Definition zu tun, es handelt sich nicht um ein Spezialgebiet – wie die Wissenschaftsgeschichte –, sondern um eine Perspektive, die alle Teilgebiete der Geschichtswissenschaft prägt; Wirtschaftsgeschichte, Globalgeschichte – was Sie wollen. Die damit verbundenen Fragen haben die Geschichtswissenschaft in den letzten Jahrzenten verändert.
Wird Wissen über einen bestimmten Sachverhalt, einen Ort oder eine Gesellschaft immer nur dann gesammelt, wenn es einen wissenschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen oder sozialen Zweck erfüllt?
Ich würde eher sagen, Wissen wird immer produziert, an vielen Orten und auf viele verschiedene Weisen – wenn es aber gesellschaftlich relevant ist, wird es «gefördert», das heisst, es gibt Geld. Ein gutes Beispiel dafür sind die Kolonialschulen, welche in Paris, Berlin, Hamburg, Antwerpen etc. gegründet wurden, in dem Moment, als die Staaten bereit waren, Geld für koloniale Ausbildungen zu geben. Koloniales Wissen wurde eine – ich nenne das – «gesellschaftliche Ressource».
Sprich, die Europäer mussten sich im Zuge der Kolonialisierung Wissen über die Länder und Menschen in Übersee aneignen, um sie beherrschen beziehungsweise ausbeuten zu können.
Macht und Wissen sind nicht voneinander zu trennen, letztlich hat Foucault immer noch Recht mit seiner Beschreibung, dass Macht in der Moderne Wissen ist, das sich durchgesetzt hat (und unsichtbar ist). Das heisst aber auch, dass Macht immer vorhanden und prägend ist – natürlich auch in dem Einigungsprozess, der im Zentrum des aha-Festivals steht, wenn eine Gesellschaft sich über Wissen verständigt – und damit über sich.
Die Beschäftigung mit Wissensgeschichte ist demnach immer auch eine Beschäftigung mit Machtstrukturen und -gefällen. Sie forschen auch zum Thema Gesundheitsfeminismus: Beispielsweise, wie es Frauen in einer von Männern geprägten Welt gelang, sich nicht nur Wissen über ihren Körper anzueignen, sondern dieses auch in Form von eigenen internationalen Netzwerken und Gesundheitszentren zu institutionalisieren. Findet Wissen immer irgendwie seinen Weg?
Neue soziale Bewegungen prägten Wissenskulturen aus, das ist ein entscheidendes Charakteristikum – sie haben ihre Ziele, Themen als Wissen geframt und waren damit, wie im Fall der Frauenbewegung, sehr erfolgreich: Die Frauen haben ja nicht nur darauf hingewiesen, dass ihre Erfahrungen in der Wissenschaft nicht vorkommen, sondern sie sind einen Schritt weitergegangen und haben gefragt, was dann dieser Ausschluss für das Objektivitätsverständnis der bisherigen Wissenschaft heisst: Wie wissenschaftlich ist eine solche Wissenschaft, wenn man sie an ihren eigenen Ansprüchen misst?
Patriarchale Strukturen haben also die wissenschaftliche Objektivität zu ihren Gunsten verbogen. Ideologien können das auch. Ein drastisches Beispiel dafür wäre die Deutsche Physik, eine nationalsozialistische Lehre, die Einsteins Relativitätstheorie und Quantenmechanik aus rassistischen Gründen ablehnte. Im Vorwort zum vierbändigen Lehrwerk jener Disziplin schreibt der Physik-Nobelpreisträger Philipp Lenard 1936:
«‹Deutsche Physik›? wird man fragen. Ich hätte auch arische Physik oder Physik der nordisch gearteten Menschen sagen können, Physik der Wirklichkeits-Ergründer, der Wahrheits-Suchenden, Physik derjenigen, die Naturforschung begründet haben. – ‹Die Wissenschaft ist und bleibt international!› wird man mir einwenden wollen. Dem liegt aber immer ein Irrtum zugrunde. In Wirklichkeit ist die Wissenschaft, wie alles was Menschen hervorbringen, rassisch, blutsmässig bedingt. […] Naturforschung […] hat kein Volk überhaupt je begonnen, ohne auf dem Nährboden schon vorhandener Eigenschaften von Ariern zu fussen.»
Gibt es solche unheilvolle Vermengungen von Ideologie und Wissenschaft auch in heutiger Zeit?
Zunächst muss man sich – das wissen wir dank der Wissenschaftsgeschichte – von der Idee verabschieden, dass es so etwas wie eine reine Wissenschaft im luftleeren Raum gibt. Wissenschaft ist immer ein gesellschaftliches Teilsystem und das betrifft nicht nur die Institutionen, an denen sie stattfindet, sondern eben auch den Prozess der Wissensproduktion. Das heisst: Wissenschaft ist immer anfällig und mit Politik verflochten. Davon zu trennen sind natürlich Ausgrenzungsprozesse und Ideologien – und die beginnen ja auch in ihren Beispielen nicht 1933.
Unheilvolles gibt es Einiges, viel Sorge hat zum Beispiel die Rede von Alice Weidel am AfD-Bundesparteitag aufgewirbelt, der Hass gegen die Genderforschung, die Drohung, diese abzuschaffen – das hat auch mit Wissenschaftsfeindlichkeit zu tun.
Die Corona-Epidemie hat gezeigt, dass Wissenschaftler sich auf beiden Seiten – als Leugner und als Experten in staatlichen Kommissionen – beteiligten. In den USA wird die Rolle der Wissenschaft viel diskutiert; auch viele Beispiele für «science denial» wie «Klimawandel gibt es nicht», «Evolutionstheorie ist falsch» usw. Das wird sicher in Europa noch viel stärker werden …
Und wie kann man dieser Gefahr wirkungsmächtig begegnen?
Ich halte nach wie vor viel von Pluralismus und dem Wert von Debatten in Demokratien, aber da muss es um Sachfragen und Inhalte gehen, das sehe ich selten – und das ist meines Erachtens die Gefahr.
Können wir uns in Zeiten von Fake News und ideologischen Grabenkriegen überhaupt noch auf Wissen einigen?
Wir müssen uns vor allem auf den Prozess der Auseinandersetzung einigen und dürfen nicht aus der Kommunikation aussteigen.
Wie kann das gehen und was können HistorikerInnen tun?
Wir müssen vielleicht viel direkter darüber nachdenken, wie politisch Geschichtswissenschaft sein kann, darf und soll. Für welche Geschichte fühlen sich die HistorikerInnen verantwortlich? Das wird in anderen Ländern angesichts der aktuellen Entwicklungen stark diskutiert: Die Nationalgeschichte gehört nicht der Rechten! Insgesamt würde ich aber sagen: Das ist keine Angelegenheit der Professorinnen. Von den Studierenden hab ich zum Beispiel in diesem Semester gerade gelernt, dass es inzwischen Kurse und Workshops gibt, wie man mit AfD-AnhängerInnen diskutiert. Wie kann man in diesem Kontext gute historische Argumente bringen? Was bedeutet das für die Geschichtslehrerinnen, für deren Ausbildung wir ja verantwortlich sind?
Wer bestimmt in einer global vernetzten Welt, welches Wissensfeld gerade Priorität hat, woran geforscht wird und wer finanzielle Zuwendung erfährt?
Viele Forschungsförderinstitutionen definieren ihre Forschungsprogramme von Gegenwartsfragen aus. Das ist verständlich, wir müssen mehr wissen über die Geschichte von Klima und Rechtsextremismus, aber daneben muss immer auch genügend Geld für Grundlagenforschung da sein. Generell ist die Projektförmigkeit der Forschung (die ja aus den Naturwissenschaften kommt) meines Erachtens für die Humanwissenschaften nicht förderlich.
Mit «Projektförmigkeit» meinen Sie, dass Forschung hauptsächlich in Projekten organisiert ist, was problematisch sei, da es Offenheit in Forschungsprozessen behindert. Stattdessen wird auf Erwartbarkeit, Erreichbarkeit und Abschliessbarkeit der Ergebnisse fokussiert. Was fehlt sind offene Fragen? Heisst das, wir müssen die Art und Weise, wie Wissen entsteht, ständig auf den Prüfstand stellen, um echte Innovation zu ermöglichen und nicht bloss altes Wissen in neuer Verpackung zu produzieren?
Ganz genau! Denn auch das lehrt die historische Auseinandersetzung mit Wissen: Man muss nach den Produktionsbedingungen fragen. Die Geschichte der Einführung des Projektformats zeigt, dass Forscherinnen ihre Arbeitsweisen geändert haben, Fragen anders formulieren, Forscherinnen haben angefangen in Projekten zu denken. Wir wissen also, dass man vor allem Strukturen verändern muss, wenn man etwas ändern will: Finanzierungs- und Bewertungssysteme gehören dazu, ebenso aber symbolische Ordnungen.
Ich würde mir auch wünschen, dass es wieder mehr Pluralismus gibt und Auseinandersetzungen sachlich und konstruktiv geführt werden