Sechs Wochen vor der Bundestagswahl in Deutschland befindet sich die Alternative für Deutschland (AfD) nach wie vor im Hoch: Derzeit steht sie in den Meinungsumfragen bei 21 bis 22 Prozent und wäre damit zweitstärkste Partei im künftigen Bundestag hinter der CDU mit 30 bis 31 Prozent. Realistische Chancen auf eine Regierungsbeteiligung hat die AfD im Moment jedoch nicht: Alle anderen Parteien haben eine Koalition mit ihr ausgeschlossen, hauptsächlich wegen ihrer rechtsextremen Tendenzen und Mitglieder.
Doch dies ficht die in Teilen rechtsextreme Partei anscheinend nicht an: Am Parteitag im sächsischen Riesa nahmen die Delegierten den belasteten Begriff «Remigration» ins Bundestagswahlprogramm auf. Und Alice Weidel, die zur Kanzlerkandidatin der Partei gekürt wurde, stimmte die AfD in ihrer Antrittsrede auf einen radikalen Wahlkampf ein: Sie forderte unter anderem die lückenlose Schliessung der deutschen Grenzen und die Rückführung von Asylbewerbern «im grossen Stil» in deren Herkunftsländer.
Nicht nur diese scharfe Rhetorik wird vom AfD-Parteitag in Erinnerung bleiben – wir halten hier fünf bemerkenswerte Punkte fest:
Die AfD-Delegierten in Riesa kürten Alice Weidel einstimmig zur Kanzlerkandidatin der Partei – doch dieses Glanzresultat dürfte sich nicht zuletzt dem merkwürdigen Wahlprozedere verdanken. Die 45-jährige Ökonomin wurde nämlich in wenigen Minuten per Akklamation gewählt. Es gab keinen Gegenkandidaten und keine geheime Abstimmung mit Auszählung der Stimmen: Wer gegen Weidel war, sollte aufstehen. Niemand erhob sich, damit war Weidel gewählt.
Möglicherweise wollten die Organisatoren so sicherstellen, dass die Co-Vorsitzende der AfD-Bundestagsfraktion tatsächlich 100 Prozent Zustimmung erhielt. Selbst Parteimitglieder sollen spekulieren, dass dies der Grund für das Wahlprozedere war. Weidel geniesst zwar mit Sicherheit einen hohen Rückhalt in der Partei, doch ihr Führungsstil wird auch von manchen Parteimitgliedern als dominant empfunden.
Die AfD stellte übrigens zum ersten Mal in ihrer Geschichte eine Kanzlerkandidatin auf. Bei früheren Bundestagswahlen hatte die Partei keine eigenen Kanzlerkandidaten ins Rennen geschickt. Allerdings war Weidel bereits bei den Wahlen 2017 und 2021 Teil eines Spitzenkandidaten-Duos.
«Remigration» war der zentrale Begriff in Weidels Rede. Wörtlich sagte sie unter dem Jubel der Delegierten: «Und ich muss ganz ehrlich sagen: Wenn es dann Remigration heissen soll, dann heisst es eben Re - Mi - Gra - Tion.» Der umstrittene Begriff war im Programmentwurf zunächst nicht zu finden, wurde dann aber auf Antrag des AfD-Europapolitikers René Aust – Stellvertreter des rechtsextremen Thüringer AfD-Landeschefs Björn Höcke – in das Bundestagswahlprogramm aufgenommen.
Der Begriff, der ursprünglich aus der Soziologie stammt und dort vornehmlich die freiwillige Rückkehr von Ausländern in ihr Heimatland bezeichnet, ist belastet, weil er inzwischen von Rechtsradikalen gekapert worden ist, zuerst von der «Identitären Bewegung» des österreichischen Rechtsextremen Martin Sellner. Mittlerweile wird «Remigration» von der gesamten rechten Szene verwendet, wobei nicht immer klar ist, was genau darunter zu verstehen ist. Gemeint kann die Abschiebung abgelehnter Asylbewerber sein, aber auch die gewaltsame Deportation von Menschen mit Migrationshintergrund oder ganzer Volksgruppen.
In die Schlagzeilen geriet der Begriff Anfang 2023 nach juristisch umstrittenen Recherchen der Faktencheck-Plattform «Correctiv» über ein Treffen von mehreren AfD-Politikern mit Sellner in Potsdam, bei dem es um harte Remigrationspläne gegangen sein soll. Darauf gingen in Deutschland Hunderttausende auf die Strasse, um «gegen rechts» zu demonstrieren – die AfD geriet in die Defensive. Weidel distanzierte sich damals von dem Begriff und verwendete ihn in ihren Reden nicht.
Doch in Riesa vollzog die frischgebackene AfD-Kanzlerkandidatin eine Kehrtwende. Indem sie sich den belasteten Begriff «Remigration» zu eigen machte, schloss sie sich den Bestrebungen der AfD an, ihn aufzuweichen und salonfähig zu machen – und damit auch die Inhalte, für die er in rechtsextremen Kreisen steht.
Die AfD ist nicht als Öko-Partei bekannt: Sie plädiert für den Austritt aus dem Pariser Klimaabkommen und steht wissenschaftlichen Erkenntnissen zur anthropogenen Klimaerwärmung skeptisch gegenüber. Stattdessen setzt die Partei auf die Wiedereinführung der Atomenergie und die Verlängerung der Laufzeiten für Kohlekraftwerke. Erneuerbare Energien wie etwa die Windkraft sind bei der Parteibasis äusserst unbeliebt.
Es verwundert daher nicht, dass Weidel in ihrer Rede mit besonderem Nachdruck gegen den Ausbau der erneuerbaren Energien polemisierte: «Ich kann euch sagen, wenn wir am Ruder sind: Wir reissen alle Windräder nieder! Nieder! Mit diesen Windmühlen der Schande!», rief sie den Delegierten zu. Auch für diesen Aufruf erntete sie tosenden Beifall.
In den sozialen Medien wurde ihre Aussage indes heftig kritisiert. Co-Parteichef Chrupalla erklärte danach auf Nachfrage, Weidel habe sich hauptsächlich auf die Windkraftwerke bezogen, für die Wälder gefällt würden. Weidel selbst fühlte sich missverstanden. Ihre Äusserungen seien aus dem Kontext gerissen worden; sie hätten sich auf den Reinhardswald in Hessen bezogen. Im CDU-regierten Hessen werde der sogenannte Märchenwald abgeholzt «für Windmühlen, die über 240 Meter hoch sind, und das, obwohl wir wissen, dass Windkraft eine ineffiziente Form der Energieproduktion ist». Im Prinzip schloss Weidel Windkraft als Energiequelle nicht aus, dies aber ohne Subventionen.
Nachdem Weidel ihre Rede beendet hatte, riefen die Delegierten enthusiastisch «Alice für Deutschland». Der Spruch, der auch auf grossen blauen Kartonherzen prangte, die vorher an den Tischen verteilt worden waren, ist der neue Wahlkampfslogan der AfD. Noch vor Weidels Rede hatte der sächsische AfD-Vorsitzende Jörg Urban, der Gastgeber des Parteitags, seine Rede mit diesem Slogan beschlossen: «Damit schliesse ich mit dem Wahlspruch, mit dem wir in Sachsen in die Wahl gehen werden: ‹Alice für Deutschland!›»
Der Spruch wirkt harmlos, doch er klingt zum Verwechseln ähnlich wie eine Parole der nationalsozialistischen Sturmabteilung (SA): «Alles für Deutschland». Diese Losung der Nazi-Braunhemden ist in Deutschland verboten. Der AfD-Vorsitzende des Thüringer Landesverbands und Exponent des rechtsextremistischen Flügels der AfD, Björn Höcke, wurde im vergangenen Mai zu einer Geldstrafe von 13'000 Euro verurteilt, weil er den SA-Spruch bei einem öffentlichen Auftritt verwendet hatte. In Reaktion darauf begannen AfD-Anhänger, auf Veranstaltungen «Alice für Deutschland» zu skandieren. Weidel selbst nutzte den Wahlspruch bisher nie – doch auf dem Parteitag liess sie sich mit dieser abgewandelten SA-Losung huldigen.
Der Parteitag konnte am Samstag erst mit mehr als zwei Stunden Verspätung beginnen, da Tausende AfD-Gegner die Zugangswege blockiert hatten. Die Polizei löste die Blockaden unter Einsatz von Pfefferspray und Hundestaffeln auf, wobei es auch zu Handgreiflichkeiten kam.
Dabei wurden Nam Duy Nguyen, ein sächsischer Landtagsabgeordneter der Linken, und ein Begleiter von Polizisten geschlagen. Seine Pressesprecherin sagte gegenüber t-online, Nguyen habe die Demonstration als Parlamentarischer Beobachter begleitet und sei mit einer entsprechenden Warnweste deutlich gekennzeichnet gewesen. Er habe sich mehrere Meter von den Demonstranten entfernt aufgehalten, als die Situation unübersichtlich geworden sei, weil eine Polizeieinheit aus Niedersachsen die Polizeikette verstärkt habe, um einen Durchbruch der Demonstranten zu verhindern.
Obwohl sich Nguyen und seine Begleiter gegenüber mehreren Polizisten als Parlamentarische Beobachter ausgewiesen hätten, seien sie von den Polizisten geschubst worden. Nguyen und ein Begleiter seien ins Gesicht geschlagen worden, worauf der Abgeordnete in ein Gebüsch gestürzt sei und das Bewusstsein verloren habe, erklärte die Sprecherin. Umstehende hätten Nguyen dann aufgeholfen und ihn zu einer Dienststelle der Polizei begleitet, wo er eine Anzeige wegen Körperverletzung im Amt gestellt habe.
Die Polizeidirektion Dresden bestätigte den Vorfall. Es sei ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts auf Körperverletzung im Amt eingeleitet worden. Der Dresdner Polizeipräsident Lutz Rodig erklärte, es tue ihm leid, dass Nguyen und seine Begleiter zu Schaden gekommen seien. Der Sachverhalt solle «mit höchster Priorität aufgeklärt» werden. Der Bundesvorsitzende der Linken, Jan van Aken, sagte laut einem Bericht von spiegel.de: «Wir werden Strafanzeige gegen die verantwortlichen Beamten stellen. Beide haben mit Abgeordnetenausweis und Warnweste deutlich auf die Rolle als Parlamentarischer Beobachter hingewiesen und sich selbst deeskalierend verhalten. Trotzdem wurden sie von Polizisten ins Gesicht geschlagen.»
(dhr)
Mit Material der Nachrichtenagentur SDA.
Steckt da wirklich nicht der Postillion dahinter?