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Marie Curie – Die Frau, die uns die Strahlen brachte

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Frauen der Geschichte

Marie Curie – Die Frau, die uns die Strahlen brachte

Grosse Entdeckungen erfordern grosse Opfer – und diese war die Wissenschaftlerin Marie Curie stets bereit zu geben. Die Ausnahmewissenschaftlerin hinter den zwei Nobelpreisen.
05.04.2020, 19:1906.04.2020, 18:39
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«Wir dürfen nicht hoffen, eine bessere Welt zu erbauen, ehe nicht die Individuen besser werden. In diesem Sinn soll jeder von uns an seiner eigenen Vervollkommnung arbeiten, indem er auf sich nimmt, was ihm im Lebensganzen der Menschheit an Verantwortlichkeit zukommt, und sich seiner Pflicht bewusst bleibt, denen zu helfen, denen er am ehesten nützlich sein kann.»
Marie Curie

Die Leichen baumelten den ganzen Sommer von den Wällen der Alexanderzitadelle in Warschau, nur wenige Häuserblocks von der Wohnung der Familie Sklodowski entfernt. Es war das Jahr 1864. Die Russen hatten sich an den polnischen Aufständischen gerächt. Damals war Maria Salomee Sklodowska drei Jahre alt und noch ahnte niemand, was sie einmal unter dem Namen Marie Curie vollbringen würde.

Marie Curie, geboren als Maria Salomee Sklodowska im Jahr 1867, in dem das erste Band von Karl Marx «Kapital» erschien und Alfred Nobel das Dynamit patentieren liess.
Marie Curie, geboren als Maria Salomee Sklodowska im Jahr 1867, in dem das erste Band von Karl Marx «Kapital» erschien und Alfred Nobel das Dynamit patentieren liess.bild: pinterest

Ihr Grossvater kämpfte bereits im Novemberaufstand 1830 gegen die Russen, einer ihrer Onkel wurde übel verwundet, ein anderer festgenommen und nach Sibirien verbannt. Und Marias Vater Wladislaw Sklodowski – ein Professor für Mathematik und Physik – war sich sicher, dass ihn die Russen um seine wissenschaftliche Karriere gebracht hatten. Die polnische Sprache war in den Schulen verboten und alle Strassen- und Ladenschilder mussten ihre Auskünfte in kyrillisch geben. Unter dem russischen Regime brachte es Wladislaw bloss zum Lehrer eines kaiserlichen Jungengymnasiums, wo er stetig kontrolliert wurde, damit er auch ja kein Stück polnischer Kultur in den engen Käfig seines Unterrichts zu werfen wagte.

Er tat es trotzdem. Ebenso wie Marias Lehrerin Madame Jadwiga Sikorska. Bei ihr stand Botanik für polnische Geschichte und Deutsch für polnische Literatur. Erschien ein russischer Beamter in der Schule, wurden alle mittels einer Glocke gewarnt und die verbotenen polnischen Bücher verschwanden unter den Tischen der Schülerinnen. Einmal wurde Maria von einem russischen Inspektor gefragt, wer denn ihr geliebter Zar sei. «Zar Alexander II.», antwortete sie, um danach in Tränen auszubrechen über ihre Falschheit.

Das Mädchen wurde mit dem Hass auf die fremden Herrscher gross. Genauso wie sie das naturwissenschaftliche Talent ihres Grossvaters und Vaters geerbt hatte, wallte auch der Zorn auf die russischen Unterdrücker durch ihre Adern. Und als der Zar einem Bombenanschlag zum Opfer fiel, tanzte sie vor Freude durchs Klassenzimmer.

Ihre Mutter Bronislawa – Leiterin einer privaten Mädchenschule in Warschau – entstammte wie Wladislaw dem polnischen Landadel, der sogenannten Szlachta. Doch die meisten Angehörigen dieser Schicht hatten über die Jahre ihren Grundbesitz und auch alles sonstige Vermögen verloren. Vielleicht darum bewahrten sie sich das eine, das ihnen niemand wegnehmen konnte: ihren Stolz. Auf ihre Bildung und ihr Land – selbst wenn es auf der Landkarte für über 120 Jahre überhaupt nicht mehr existieren sollte. Ja nicht einmal den Namen Polen liess man ihm. Marias Heimat war nicht mehr als das Weichselgebiet, die westlichste Provinz des Russischen Zarenreiches.

Ende des 18. Jahrhundert wurde Polen durch seine Nachbarstaaten Russland, Preussen und Österreich drei Mal geteilt, so dass am Ende nichts mehr davon übrig blieb. Erst nach dem Ersten Weltkrieg sollte ...
Ende des 18. Jahrhundert wurde Polen durch seine Nachbarstaaten Russland, Preussen und Österreich drei Mal geteilt, so dass am Ende nichts mehr davon übrig blieb. Erst nach dem Ersten Weltkrieg sollte Polen als souveräner Staat wiedererstehen.bild:

Marias düsterer Begleiter

Den Glauben an Polens Unabhängigkeit gab Maria niemals auf, den an Gott hingegen schon. Sie flehte ihn an, ihre Mutter wieder gesund zu machen, doch er hörte nicht hin.

Die Tuberkulose frass unerbittlich an Bronislawas Körper, der hustete und immer dünner wurde. Die viel zu teure Kur in den österreichischen Alpen half nicht, die frische Luft konnte dem Bakterium nichts anhaben. Und als die Mutter schwächer als zuvor nach Hause zurückkehrte, bekam die kleine Maria keine Umarmung, sondern nur eine abwehrende Hand. Sicher war es eine Vorsichtsmassnahme der Mutter, ihren Kindern nicht zu nahe zu kommen. Vielleicht war es aber auch der Zeit und ein wenig auch Bronislawas Wesen geschuldet, dass die Liebe in jener Familie so stumm blieb.

Der Beerdigung ihrer an Typhus gestorbenen Tochter Zosia konnte Bronislawa nicht beiwohnen. Ihr zerfallender Körper erlaubte es ihr nur, den Trauerzug vom Fenster aus zu sehen. Das war zu viel. Kurze Zeit darauf schloss auch sie ihre müden Augen für immer.

Maria war elf Jahre alt, als sie ihre Schwester und ihre Mutter verlor. Damals begann sich auch jene bleierne Traurigkeit über ihr Leben zu breiten, die ihr Herz und ihre Gedanken immer wieder schmerzlich zu lähmen vermochte. Ein düsterer Begleiter heftete sich fortan an ihre Fersen, eine tiefe Depression, die sie selbst bloss «Erschöpfung» oder «meine Nervenprobleme» nannte.

Sie verkroch sich, las Bücher und hörte fast gänzlich auf zu sprechen. Trotzdem schloss sie das Mädchengymnasium 1883 als Jahrgangsbeste ab. Nichts Geringeres erwartete der strenge Vater von seinen fünf Kindern. Sie sollten einmal erfüllen, was ihm durch die russische Unterdrückung verwehrt blieb: Sie sollten zu angesehen Wissenschaftlern werden.

Władysław Skłodowski mit seinen drei Töchtern Maria, Bronisława (Bronia) und Helena (um 1890, v. l. n. r.)
wikipedia
Wladyslaw Sklodowski mit seinen drei Töchtern Maria, Bronia und Helena um 1890. Nach dem Tod seiner Frau übernahm er die Erziehung und teilte die Freizeit seiner Kinder in Lern- und Übungszeiten auf. Jede Unterhaltung mündete in einer moralischen oder wissenschaftlichen Lektion, jeder Spaziergang war eine Unterweisung in die Geheimnisse der Natur.bild: wikimedia

Bald schon würde Maria den verlorenen Glauben an Gott durch jenen an die Wissenschaft ersetzen, an deren Macht, das Leben der Menschen zu verbessern. Ihr ganzes Leben lang wird sie ihrem positivistischen Ansatz treu bleiben und ihre Entdeckungen stets in den Dienst des Friedens stellen.

Doch erst galt es, ihre ältere Schwester Bronia zu unterstützen. Sie wollte wie ihr Bruder Josef Ärztin werden, nur fehlte für ihre Ausbildung das Geld. Und so begann Maria als Gouvernante zu arbeiten. Jeden Monat schickte sie ihrer Schwester ihr halbes Einkommen, damit diese an der Sorbonne in Paris studieren konnte.

Maria kam zu den Zorawskis, die sie erst wie eine Tochter aufnahmen. Tagsüber kümmerte sie sich um die Kinder der Familie und nebenbei brachte sie polnischen Bauernkindern heimlich Lesen und Schreiben in ihrer Muttersprache bei. Nachts lernte sie, um fürs Studium vorbereitet zu sein. Sobald nämlich Bronia Ärztin wäre, würde sie Maria mit dem nötigen Geld versorgen können.

Sie war achtzehn, und ihr Geist hatte sich inzwischen so eigenwillig ausgeformt, dass sie sich von gängigen Auffassungen nicht weiter beeindrucken liess. Nur ihr Herz war noch immer das eines jungen Mädchens, das sich, wenn sie es auch zuerst nicht zugeben wollte, stürmisch verliebte. Sie schenkte es Casimir Zorawski, doch seine Eltern waren mit den Heiratsplänen ihres Sohnes gar nicht einverstanden. Die Vorstellung, Casimir nähme eine mittellose Gouvernante zur Frau, die gezwungen ist, sich in anderer Leute Häuser zu verdingen, wies der Vater in einem Wutanfall von sich. Und so machte der Sohn einen Rückzieher, opferte seine Liebe für seinen gesellschaftlichen Status und sein Studium, das er ohne die Unterstützung seiner Eltern nicht hätte fortsetzen können.

Maria nahm die Demütigung hin, sie arbeitete sogar weiterhin bei den Zorawskis, schliesslich brauchte ihre Schwester das Geld. Damals lernte sie die Schläge zu verbergen, die so tief gingen, dass sie ihre ganze Selbstachtung zertrümmerten. Sie fühlte sich entsetzlich dumm und arm und hoffte allein, sich nicht in Nichts aufzulösen.

«Menschen, die alles so stark empfinden wie ich und die nicht imstande sind, diese Veranlagung zu ändern, müssen sie wenigstens so gut als möglich verheimlichen ... Es waren sehr bittere Tage, und das Einzige, was mir die Erinnerung an sie erträglich macht, ist, dass ich trotz allem aus ihnen anständig und mit erhobenem Kopf hervorgegangen bin.»

Und vielleicht war ihr Innerstes tatsächlich im Begriff, sich der Traurigkeit, die sie nun wieder erfasste, gänzlich hinzugeben. Denn als Bronia ihr Studium erfolgreich abgeschlossen und einen polnischen Arzt geheiratet hatte, bot sie ihr an, bei ihnen zu wohnen, um endlich ihr Studium in Angriff nehmen zu können. Paris hatte ihr stets als Erlösung gegolten, doch gerade jetzt, wo ihre Zukunft als Wissenschaftlerin endlich in greifbare Nähe gerückt war, fand sie keinen Mut mehr.

Ihr düsterer Begleiter war wieder da. Doch er sollte es nicht schaffen, sie in sein Schattenreich hinabzuzerren. Maria würde sich aufraffen. Und sie würde sich an der Sorbonne einschreiben.

Maria Sklodowska wird zu Marie Curie

«Man sollte sich für Dinge, nicht für Menschen interessieren», sagte Maria, die in Frankreich zu Marie wurde. Es war nicht nur der Name, der sich änderte. Sie wurde strenger, nüchterner. Und würde fortan allen noch auf sie wartenden Entwürdigungen und Enttäuschungen mit ihrem kühlen Intellekt begegnen.

Bald schon zog sie bei Bronia aus. Im Haus ihrer Schwester war einfach zu viel los, es war Arztpraxis und abendliches Wirtshaus zugleich, Marie konnte sich dort nicht konzentrieren. Sie mietete sich für 25 Francs eine ungeheizte Dachkammer in der Rue Flatters 3 im Quartier Latin. Im Winter war es dort so kalt, dass das Wasser in der Waschschüssel gefror. Marie schlief dann unter all ihren Kleidern, die sie über sich aufzutürmen pflegte. Die Entbehrungen waren ihr gleichgültig. Endlich konnte sie die Welt der Wissenschaft in aller Freiheit erkunden.

Der Haupteingang der Universität La Sorbonne um 1900.
Der Haupteingang der Universität La Sorbonne um 1900.bild: cairn

Sie nahm sich diese Freiheiten, auch wenn sie ihr als Frau dieser Zeit überhaupt nicht zugestanden wurden. Étudiante verwendete man an der Sorbonne nicht nur für Studentin, es war vor allem auch das Wort für die Geliebte eines Studenten. Die wenigen Wissenschaftlerinnen, die es gab, galten bloss als die hässlichen und verhärmten Assistentinnen ihrer männlichen Kollegen. Das alles kümmerte Marie wenig. Sie wusste, dass sie zu mehr als zur Fortpflanzung bestimmt war.

Und so lernte sie wie eine Wahnsinnige und vergass zu essen, so dass sie eines Tages in der Bibliothek einfach zusammenklappte. Ihren Leistungen konnte das alles aber nichts anhaben. Sie war die Beste und bald bekam sie auch ein Auslandstipendium für herausragende Studenten, was ihr das Geld für weitere 15 Monate in Paris eintrug.

Ihr Professor Gabriel Lippmann liess sie nun gar an einer Analyse für unterschiedliche Stahlsorten arbeiten – nur war der Raum, der ihr dafür zur Verfügung gestellt wurde, winzig und die Geräte miserabel. Doch es gab einen Mann, der ihr helfen konnte: Pierre Curie, ein Experte für Magnetismus.

Er arbeitete als Physiker an der École municipale de physique et de chimie industrielles (EPCI), die nicht so angesehen war wie die École polytechnique, weil sie eine Berufsschule war, die Ingenieure und Chemiker ausbildete. Mit seinen 23 Jahren war er kaum älter als seine Studenten. Ein Labor besass auch er nicht, dafür einen Quadranten-Elektrometer zur Messung sehr kleiner Ladungen. Pierre untersuchte damals Kristalle und dessen elektrische Eigenschaften. Ein Gesetz war bereits nach ihm benannt worden – und aus seinen Entdeckungen würden einmal das Echolot, der Ultraschall, das Mobiltelefon und der Röhrenfernseher hervorgehen.

Pierre Curie
Pierre Curie (1859–1906).bild: wikimedia

Trotz seiner herausragenden Begabung war Pierre Curie ein schlichter Mann, schüchtern und langsam. Als kleiner Junge konnte er weder lesen noch schreiben, dafür aber komplizierte mathematische Konzepte visualisieren. Seine Handschrift blieb stets die eines Kindes, schwerfällig, krakelig und voller Fehler. Doch im Raum war für ihn alles vorstellbar.

Und diesen betrat nun Marie. Sie machte aus diesem zögerlichen, ganz und gar in seinen Studien versinkenden Junggesellen einen entschieden verliebten Mann. Er umwarb die hartnäckige Marie mit Briefen, aber gegen das Liebesgesäusel war sie immun. Nicht aber gegen seine Liebe für die Wissenschaft, seinen schlauen Blick auf die Natur und seinen Forschergeist. Er war wie sie.

Und so sagte sie schliesslich Ja, als er sich bereit erklärt hatte, mit ihr nach Warschau zurückzukehren, wenn das ihr Wunsch sei. Marie und Pierre heirateten am 26. Juli 1895 im Garten von Pierres Eltern in Sceaux. Danach fuhren sie mit ihren Fahrrädern los, die sie sich gegenseitig geschenkt hatten. Mitten hinein in ihre Zukunft, in der sie nicht nur ein Liebespaar sein würden, sondern wirkliche, ebenbürtige Partner, verbunden durch ihre Leidenschaft, den Materialien, die sie untersuchten, ihre tiefsten Geheimnisse zu entlocken.

Pierre und Marie Curie nach ihrer Hochzeit, 1895.
Pierre und Marie Curie nach ihrer Hochzeit, 1895. bild: pinterest

Pierre besorgte Marie einen kleinen Raum am EPCI, wo sie den Magnetismus unterschiedlicher Stahlsorten mass. Er gab ihr die dafür nötigen Instrumente, lehrte sie, mit ihnen umzugehen. Er brachte ihr alles bei, was er wusste.

Die Strahlenden

«Pierre Curies grösste Entdeckung war Marie Sklodowska, ihre grösste jedoch die Radioaktivität.»
Der englische Chemiker und Nobelpreisträger Frederick Soddy (1877–1956)

Es war die Zeit, in der Wilhelm Conrad Röntgen seine Gattin Bertha anwies, ihre zittrige Hand auf die fotografische Platte in seinem abgedunkelten Labor zu legen, während er seine elektrifizierte, in schwarzem Karton eingewickelte Vakuum-Röhre 15 Minuten lang darauf richtete. Die magischen Strahlen, die dabei entstanden, entwichen der Röhre und zauberten Berthas Fingerknochen mitsamt ihrem Ring auf die Platte.

Röntgen hatte ganz zufällig eine neue Form von Strahlen entdeckt. Eine, die sich durch die Luft bewegen und Holz, Zinn, Papier und Gummi durchdringen konnte. Er nannte sie X-Strahlen, nach der in der Mathematik unbekannten Grösse X. Das Schattenbild von Berthas Hand wurde in der Wiener Zeitung abgedruckt, woraufhin Kaiser Wilhelm II. eine sofortige Demonstration jener Wunderstrahlen verlangte.

Berthas Hand mit Ringen – das erste Röntgenbild von Wilhelm Conrad Röntgen in seinem Laboratorium im Physikalischen Institut der Universität Würzburg gemacht, 1895.
Berthas Hand mit Ringen – das erste Röntgenbild von Wilhelm Conrad Röntgen in seinem Laboratorium im Physikalischen Institut der Universität Würzburg gemacht, 1895.bild: wikimedia

Was er denn in jenem historischen Augenblick gedacht habe, wurde Röntgen von Journalisten später gefragt. «Ich habe nicht gedacht, sondern geforscht», gab er ihnen zur Antwort.

Bald verliessen Röntgens Strahlen ihr heimatliches Würzburg, um die ganze Welt zu erobern. Ironisch warb man für Röntgen-Operngläser, mit denen sich die Kostüme der Sängerinnen durchleuchten lassen würden, während in New Jersey ganz ernsthaft der Antrag gestellt wurde, X-Strahlen ihrer Anstössigkeit wegen zu verbieten. Eine Zeitung schlug vor, man möge die Strahlen doch im Medizinstudium verwenden, um die vielen Diagramme und Formeln direkt in die Gehirne der Studenten einzubrennen.

Obwohl die genaue Zusammensetzung dieser neuartigen Strahlungsenergie noch immer nicht bekannt war, erhielt Röntgen 1901 den Nobelpreis für Physik. Das Preisgeld von 70'000 Francs spendete er für wohltätige Zwecke, und er weigerte sich, seine Entdeckung patentieren zu lassen. Der bescheidene und gerechtigkeitsliebende Wissenschaftler war ein Idealist, so wie es die Curies waren.

Wilhelm Conrad Röntgen (1845–1923). Er starb nach dem Ersten Weltkrieg in tiefster Armut.
Wilhelm Conrad Röntgen (1845–1923). Er starb nach dem Ersten Weltkrieg in tiefster Armut.bild: wikimedia

Von ganz anderem Format wiederum war der stets tadellos gekleidete Antoine Henri Becquerel. Einer ganzen Dynastie von Wissenschaftlern entsprungen, kam er niemals in Verlegenheit, sich beweisen zu müssen. In seinem voll ausgerüsteten Labor im Naturhistorischen Museum begann der träge Mann nun damit, sich mit Röntgens Strahlen zu befassen – und entdeckte dabei zufällig eine weitere Art von Strahlen, die er nach sich selbst benannte.

Er hatte phosphoreszierende Substanzen erforscht, um herauszufinden, ob auch sie X-Strahlen zu erzeugen vermochten. Dafür legte er Uransalze auf eine fotografische Platte mit gelatinegebundenem Silberbromid und das Ganze wiederum aufs Fensterbrett, um das Material durch das Sonnenlicht anzuregen. Dabei entstand ein verwaschener Umriss der Salze.

Als er als nächstes mit den Uransalzen ein Kupferkreuz auf die Platte legte, begann sich der Himmel über Paris zu verdüstern und es dauerte nicht lange, bis die Regentropfen gegen Becquerels Laborfenster trommelten. Also wickelte er alles in ein schwarzes Tuch und verstaute es in seiner Schublade. Das Sonnenlicht zeigte sich auch am nächsten Tag nicht und so entwickelte er die fotografische Platte in der Erwartung, dass das Bild aufgrund des fehlenden Katalysators sehr schwach ausfiele. Doch die Konturen des Kreuzes waren deutlich zu sehen.

Antoine Henri Becquerel (1852–1908).
Antoine Henri Becquerel (1852–1908).bild: wikimedia

1896 stellte er der Akademie seine Becquerel-Strahlen vor, liess sie dann aber ruhen, weil er dachte, das Thema sei damit erschöpfend behandelt. Es schien sich niemand für seine undramatischen, neben Röntgens Zauber-Energie geradewegs verblassenden Langweiler-Strahlen zu interessieren.

Und hätte Pierre Curie seiner Frau nicht geraten, sich mit jenen völlig vernachlässigten Strahlen zu befassen, wäre das bis dahin alles in den Schatten stellende Potential des von Becquerel entdeckten Natur-Phänomens vielleicht noch für längere Zeit unerkannt geblieben.

Er besorgte Marie einen kleinen verglasten Raum im EPCI, wo sie fortan verschiedene Kristalle auf ihre Strahlung hin zu untersuchen begann. Dies gelang ihr mittels Pierres Elektrometer, das er für sie so modifizierte, dass es auch schwache Ströme und kleine Mengen Ladungen aufzeichnen konnte.

Pierre and marie curie
Pierre und Marie Curie in ihrem eher primitiven Labor, ca. 1904. Die Vakuumkammer der Curies war aus altem Sperrholz, aus der sie die Luft mittels Handpumpe entfernten.bild: wikimedia

20 Tage lang übte sie an Pierres Apparaten, die Arbeit erforderte viel Fingerspitzengefühl und noch mehr Geduld. Ihre Versuche hielt sie in drei kleinen dunkelgrauen Notizbüchern fest, in denen sich ihre ordentliche Schrift zuweilen mit dem kindlichen Gekritzel von Pierre mischte.

Inzwischen war Marie auch Mutter geworden. Um die kleine Irène zu stillen, eilte sie in der Mittagspause und abends nach Hause, doch ihre Milch reichte einfach nicht aus. Die Tatsache, dass sie gezwungen war, eine Amme anzustellen, gab ihr das Gefühl, als Mutter unzulänglich zu sein. Und mitten in diesem Hin und Her zwischen Arbeit und Kind tauchte ihr düsterer Begleiter wieder auf und begann, ihre ohnehin schon gequälte Seele erneut zu beschweren.

Erst als Pierres Vater Dr. Eugène Curie nach dem Tod seiner Frau anbot, sich um den Haushalt der jungen Familie zu kümmern, ging es Marie wieder besser. Eugène hatte Irène auf die Welt geholt – und er würde die wichtigste Bezugsperson des kleinen Mädchens werden.

Nachdem Marie etliche Elemente getestet hatte, fand sie heraus, dass reines Uran die stärkste Strahlung abgab – und so machte sie es zu ihrem Messstandard.

Anordnung zur Messung der Radioaktivität: A, B = Plattenkondensator, C = Schalter, E = Elektrometer H = Schale für Gewichte, P = Batterie, Q = piezoelektrischer Quarz (asymmetrischer Kristall, der zus ...
Anordnung zur Messung der Radioaktivität: A, B = Plattenkondensator, C = Schalter, E = Elektrometer H = Schale für Gewichte, P = Batterie, Q = piezoelektrischer Quarz (asymmetrischer Kristall, der zusammengedrückt kleine Mengen Ladung sowie elektrische Ströme geringer Intensität misst).bild: wikiwand

Doch nicht nur Uran und seine Verbindungen, auch das Element Thorium verfügte über starke Energiestrahlen. Also fing sie damit an, verschiedene Verbindungen zu untersuchen, darunter auch Pechblende, ein schwarzes Mineral, das im böhmischen Sankt Joachimsthal abgebaut wurde. Das daraus gewonnene Uran wurde für die leuchtenden Glasuren böhmischer Töpferwaren und Gläser verwendet.

Marie entfernte das Uran und stellte dann verdutzt fest: Die Pechblende strahlte ganze vier Mal stärker als reines Uran!

Dasselbe Phänomen stellte sie bei dem thoriumhaltigen Mineral Aeschynit nach Entfernung des Thoriums fest. Und als Marie das Mineral Calcit mit all seinen darin enthaltenen Elementen künstlich herstellte, beobachtete sie, dass die Strahlen nicht stärker waren als die darin enthaltene Menge Uran an Energie abzugeben vermochte. Die natürliche Probe von Calcit aber gab eine drei Mal so hohe Strahlung ab.

Nun gab es keinen Zweifel mehr. Ein bisher unbekanntes Element musste sich darin verbergen. Und Marie hatte es mit ihrer neuartigen Strahlungs-Mess-Methode aufgespürt.

Als Frau durfte sie ihre revolutionären Beobachtungen nicht selbst der Akademie vorstellen, das übernahm ihr Professor Gabriel Lippmann, der dafür aus ihrem Thesenpapier zitierte.

«Warum können wir die Elemente nicht einfach als die Strahlenden bezeichnen? Wir können dafür auch ein lateinisches Wort nehmen und sie radioaktive Elemente nennen.»
Marie Curie

Zu dieser Zeit glaubten die meisten noch an Demokrits Definition aus dem fünften vorchristlichen Jahrhundert, die besagte, dass das Atom (griech. für unteilbar) der kleinste Teil der Materie sei. Und so hielt auch Marie die Radioaktivität für eine Eigenschaft des Atoms selbst und nicht nur – wie wir heute wissen – für die eines unstabilen Atomkerns, der Elektronen als Strahlung aussendet.

Der englische Physiker Joseph John Thomson war es, der 1897 das Elektron entdeckte, dessen Existenz der russische Chemiker Dmitri Mendelejew allerdings bis zu seinem Lebensende leugnete. Auch für ihn gab es nichts kleineres als das Atom. Darum gründete sein fast dreissig Jahre zuvor entwickeltes Periodensystem auch auf der Masse und anderer chemischer Eigenschaften der Elemente und nicht auf deren atomarer Struktur.

Der russische Chemiker und Erfinder des Periodensystems Dmitri Iwanowitsch Mendelejew (1834–1907), der das Elektron bis zu seinem Tod nicht akzeptieren wollte.
Der russische Chemiker und Erfinder des Periodensystems Dmitri Iwanowitsch Mendelejew (1834–1907), der das Elektron bis zu seinem Tod nicht akzeptieren wollte. bild: wikimedia

Der Wettlauf um die Entdeckung von radioaktiveren Elementen als Uran hatte begonnen. Und Marie musste ihn gewinnen. Schliesslich hatte sie die Methode gefunden, derer sich Wissenschaftler aus aller Welt nun bedienten.

Becquerel unterstützte die Curies in diesem Kampf, durch seine Beziehungen zur Akademie verhalf er Marie zu Stipendien. Pierre gefiel diese Abhängigkeit nicht sonderlich, er traute dem arroganten Schnösel nicht, der Marie von oben herab behandelte, weil sie eine Frau war.

Marie selbst schien das wenig zu stören. Unbeirrt fuhr sie damit fort, Pechblende von seinen Elementen zu trennen, bis die Substanz, noch mit Bismut verunreinigt, 400 Mal stärker strahlte als reines Uran. Sie war dem verborgenen Element so nahe, aber noch nicht nah genug, als dass es sich durch Eugène Demarcays Spektroskopie wahrhaftig zeigte.

Der französische Chemiker hatte Maries Substanz so lange erhitzt, bis es sich in leuchtendes Gas verwandelte. Dann brach er das ausgestrahlte Licht mit einem Prisma, um zu sehen, ob dabei ein Farbenmuster entsteht. Jedes Element zeigt seine ganz eigenen Spektren, auf diese Weise hatte man bereits acht Elemente entdeckt. Doch Maries Stoff erzeugte keinen Regenbogen. Er war noch nicht rein genug.

Und weil sie den Atem der anderen Forscher bereits im Nacken spürte, preschte sie für einmal ohne ihre gewohnte Umsicht nach vorn und verlautbarte die Entdeckung eines neues Elements, das sie nach ihrem geliebten Heimatland Polonium benannte.

L0001761 Pierre and Marie Curie at work in laboratory
Credit: Wellcome Library, London. Wellcome Images
images@wellcome.ac.uk
http://wellcomeimages.org
Pierre and Marie Curie at work in a
laboratory.
 ...
In ihrem Thesenpapier zu Polonium vermerkten die Curies, dass das Element noch nicht von Bismut getrennt wurde und auch noch keine klare Spektrallinie aufweise.bild: wikimedia

In der ganzen Aufregung gelang es Marie, einem zweiten Element in Pechblende nachzuspüren, das sich fast genauso verhielt wie Barium und deshalb schwer von diesem zu trennen war. Dennoch schaffte sie es, eine Substanz zu isolieren, die 900 mal aktiver war als Uran. Und bevor sie wieder zerfiel, stürzte sie damit die Treppen zu Demarcays Büro hoch. An jenem kalten 19. Dezember 1898 stellte er eine klare Spektrallinie fest. Es war der Geburtstag des Radiums.

Damit war die Existenz des neuen Elements theoretisch bewiesen. Für die Physiker reichte das, die Chemiker aber würden Maries Erkenntnisse so lange anzweifeln, bis es einen sicht- und wiegbaren Stoff gebe, mit dem sich arbeiten liesse.

Um auch sie von ihrer Entdeckung zu überzeugen, musste sie die Elemente vollständig isolieren.

Der schöne Schimmer

Marie schätzte, Radium in Reinform sei mehrere hunderte Male aktiver als Uran. In Wahrheit wird sich ein Zehntelgramm Radiumchlorid zehn Millionen Mal radioaktiver erweisen.

Um das Radium vom Barium trennen zu können, brauchte sie grössere Mengen Pechblende, für dessen Lagerung sie einen dunklen Schuppen vom Leiter der EPCI bekam. Es war darin so zugig und feucht, dass die Medizinstudenten dort nicht weiter ihre Obduktionen durchführen konnten.

Doch für die Belange der Curies sollte es reichen.

«Es war eine Kreuzung zwischen Stall und Kartofellkeller, und wenn ich nicht die chemischen Apparate auf dem Arbeitstisch gesehen hätte, hätte ich das Ganze für einen Witz gehalten.»
Chemiker und Nobelpreisträger Wilhelm Ostwald (1853–1932) über das Labor der Curies
Marie Curies Labor
Das Labor der Curies, in dem sie Radium isolieren sollten. Die Tonnen von Pechblende, die sie dafür benötigten, wurde ihnen gratis überlassen. Schliesslich schien das Material, nachdem das für die Industrie wertvolle Uran entfernt worden war, völlig wertlos.bild: wikiwand

Die Arbeit war beschwerlich. Tagein tagaus schleppten die Curies grosse Gefässe hin und her, gossen Flüssigkeiten um, brachten sie im Schmelztiegel zum Sieden und rührten sie stundenlang um. Aber sie waren glücklich. Sie lebten das Leben, dass sie sich beide erträumt hatten, abgeschieden von anderen Menschen und nur «von der einen einzigen Sache erfüllt.»

In Pierres Westentasche steckte sein Lieblingsbild von Marie, das entstanden war, kurz nachdem sie sich kennengelernt hatten. Er nannte es «die gute kleine Studentin».

Sie liebten sich und sie liebten das Radium, jene widerspenstige, geheimnisvolle Materie. Und während sie ununterbrochen an ihrem neuen «Kind» bastelten und sich vorstellten, wie hübsch es wohl aussehen würde, fühlte sich ihre Tochter vernachlässigt. Irène vermisste ihre Mutter, die sich immerzu im Labor aufhielt, an jenem «traurigen, traurigen Ort». Und kam sie abends nach Hause, weigerte sich das Mädchen einzuschlafen, bevor sie nicht einen Kuss von Marie bekam.

«Die gute kleine Studentin», Pierres Lieblingsbild von Marie.
«Die gute kleine Studentin», Pierres Lieblingsbild von Marie.bild:

Innerhalb von drei Jahren hatten sie acht Tonnen Pechblende mit 400 Tonnen Spülwasser in Tausenden chemischen Durchgängen und Destillationen verarbeitet.

«Unsere kostbaren Produkte, für welche wir keinen geschützten Platz hatten, lagen auf Tischen und Brettern verstreut; von allen Seiten sah man ihre schwach leuchtenden Umrisse, und diese Lichter, die im Dunkeln zu schweben schienen, waren uns ein immer neuer Anlass der Rührung und des Entzückens.»
Marie Curie

Im Juli 1902 hatten sie es endlich geschafft. Es waren nicht mehr als ein paar Sandkörner reinen, schimmernden Radiums, das sie gewonnen hatten, aber es war so aktiv, dass die Wärmeenergie, die es abgab, reichte, um sein eigenes Gewicht in Wasser in nur einer Stunde vom Gefrierpunkt zum Kochen zu bringen.

Marie gab ihrem Element die Ordnungszahl 88 in Mendelejews Periodensystem – er hatte dafür die passende Lücke hinterlassen.

Damit war die Existenz von Radium nun auch chemisch unbestreitbar geworden. Nur irrten sich die Curies in einem wesentlichen Punkt: Die von ihnen entdeckte Radioaktivität entstand nicht in der Umgebung des Atoms – und sie würden auch nicht auf ewig dieselbe Strahlkraft besitzen.

In dem wissenschaftlichen Duell, das sich nun entspannte, sollte Pierre Curie dem neuseeländischen Physiker Ernest Rutherford unterliegen.

Ernest Rutherford (1871–1937) war es auch, der die Radioaktivität in Alphastrahlung, Betastrahlung und Gammastrahlung nach der positiven, negativen oder neutralen Ablenkung der Strahlenteilchen in ein ...
Ernest Rutherford (1871–1937) war es auch, der die Radioaktivität in Alphastrahlung, Betastrahlung und Gammastrahlung nach der positiven, negativen oder neutralen Ablenkung der Strahlenteilchen in einem Magnetfeld aufteilte und den Begriff der Halbwertszeit einführte. Seine Arbeit wurde 1908 mit dem Nobelpreis für Chemie ausgezeichnet.bild: wikimedia

Denn dieser stellte gemeinsam mit seinem Schüler, dem englischen Chemiker Frederick Soddy, fest, dass sich die Radioaktivität in Thorium-X innerhalb von vier Tagen verringerte. Zurückzuführen sei dies auf chemische Veränderungen innerhalb des Atoms. Sie wiesen dieselbe Instabilität auch bei Uran, Polonium und Radium nach. Die Elemente verwandelten sich nach und nach in schwächer radioaktive Elemente, bis am Ende Blei herauskam. Anhand der frei werdenden Energie berechneten sie für Radium eine Halbwertszeit von 2000 Jahren.

Pierre aber beharrte weiterhin stur auf seinem Standpunkt. Solange bis Rutherford jedes einzelne Argument seines Kontrahenten widerlegt hatte und aus dessen unsinniger Unnachgiebigkeit schloss, dieser habe wohl seinen letzten Artikel nicht gelesen.

Doch Pierres Festklammern an jenem längst eingeknickten Strohhalm hatte einen anderen Grund. Rutherford hatte ihn auf seinem eigenen Gebiet übertrumpft. Das kränkte selbst den sonst so uneitlen und bescheidenen Pierre.

Eine Frau in der Männerwelt der Naturwissenschaft

Marie Curie von Männern umgeben am Tisch sitzend während der ersten Solvay-Konferenz für Physik im Jahr 1911.
Marie Curie von Männern umgeben am Tisch sitzend während der ersten Solvay-Konferenz für Physik im Jahr 1911.bild: wikiwand

1903 schlugen vier Naturwissenschaftler Pierre Curie und Henri Becquerel gemeinsam für den Nobelpreis vor. Marie wurde mit keinem Wort erwähnt, obwohl drei dieser besagten Herren an ihrer Arbeit beteiligt gewesen waren. Einer davon war ihr früherer Professor Gabriel Lippmann.

Nur einer schlug sich auf Maries Seite. Der dem Nobelkomitee angehörende Magnus Gösta Mittag-Leffler. Pierre hatte ihn darauf hingewiesen, dass der Preis nicht mehr ernst zu nehmen sei, wenn seine Frau nicht in den Kreis der Nominierten aufgenommen würde.

Im November erfuhren die Curies offiziell, dass sie «in Anerkennung der ausserordentlichen Leistungen, die sie sich durch ihre gemeinsame Forschung über die von Professor Henri Becquerel entdeckten Strahlungsphänomene erworben haben» gemeinsam mit Henri Becquerel den Nobelpreis für Physik erhalten sollten. Doch während Becquerel das Preisgeld dafür ganz alleine einstreichen durfte, mussten Pierre und Marie es miteinander teilen. Ganz so, als wäre die Auszeichnung doch nur an einen von ihnen gegangen.

Der Verleihung blieben sie fern, Marie fühlte sich nicht fit genug für eine Reise nach Schweden. Sie hatte im fünften Monat eine Fehlgeburt erlitten.

Und sicher wäre es für sie auch nicht sehr angenehm gewesen, die Nobelpreis-Rede von Dr. Törnebladh zu hören, die mit den Worten endete:

«Der grosse Erfolg von Professor und Madame Curie lässt uns Gottes Wort in völlig neuem Licht erscheinen: Es ist nicht gut, dass der Mensch allein bleibt. Ich will ihm eine Hilfe machen, die ihm entspricht.»
Dr. Törnebladh

Auch Marie war Professorin, doch egal mit welchen Titeln sie sich auch schmücken mochte, das einzige Erbe, das ihr als Frau wirklich zugestanden wurde, war das der biblischen Eva.

Radium – das Allheilmittel

Von jenem Zeitpunkt an wurde die friedlich einsame Welt der Curies von Journalisten bedrängt. Alle wollten von der armen polnischen Einwanderin hören, die sich in einen Franzosen verliebte und nach Jahren der Entbehrung endlich eine leuchtende Substanz entdeckte, mit der man so gut wie allen menschlichen Leiden beizukommen vermochte.

«Der ganze Rummel führt dazu, dass man im Laboratorium keinen Augenblick Ruhe und jeden Abend eine umfangreiche Korrespondenz zu erledigen hat. Bei dieser Lebensweise fühle ich mich langsam verblöden.»
Pierre Curie

Marie liess die penetrante Fragerei hingegen stoisch über sich ergehen. Schliesslich war nicht alles schlecht daran. Die mediale Aufmerksamkeit brachte dem Paar auch die Davy Medal der Royal Society of London, zwölf Ehrendoktorwürden, Akademiemitgliedschaften in mehreren Ländern und Einladungen zu bezahlten Vorträgen ein.

Und Pierre bekam endlich einen naturwissenschaftlichen Lehrstuhl an der Sorbonne – mit einem Labor und drei Assistentinnen seiner Wahl, während Marie die Leitung der wissenschaftlichen Arbeiten übernahm.

Eines der gestellten Fotos für die Zeitung: Marie Curie mit Radium-Gefässen in den Händen.
Eines der gestellten Fotos für die Zeitung: Marie Curie mit Radium-Gefässen in den Händen.bild:

Doch es war nicht allein der Schwall an wissenschaftlicher Anerkennung, der ihnen nun zukam. Mit Radium liess sich auch Geld verdienen. Sein enormes Energiepotential erlaubte es, das Element 600'000-fach mit Zinksulfid, Zinkbromid und anderen Bromiden zu vermengen, ohne dass seine Strahlungskräfte wesentlich nachgelassen hätten.

Es dauerte nicht lange, bis diverse ominöse Radiumsubstanzen auf dem Markt landeten. Winzigste Mengen wurden Tees, Cremes, Lippenstiften und Zahnpasten beigemischt.

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bild: wikimedia

Das Curie-Haarwasser versprach, dem Haarausfall ein Ende zu bereiten, während Radiumbeutelchen an den Hoden getragen, die Potenz wiederherstellen sollten. Und ein Arzt, der sich schamlos Alfred Curie nannte, warb für seine Falten besiegende Gesichtcrème namens Tho-Radia.

Der Preis von Radium schoss in ungeahnte Höhen. 1904 kostete 1 Gram 750'000 Francs, was heute rund 111'000 Dollar entspräche.
Der Preis von Radium schoss in ungeahnte Höhen. 1904 kostete 1 Gram 750'000 Francs, was heute rund 111'000 Dollar entspräche.bild: pinterest

Der amerikanische Industrielle Eben Byers trank auf Anweisung seines Arztes hin vier Jahre lang jeden Tag eine Flasche Radithor, das angeblich nicht nur vital machte und die sexuelle Lust anregte, sondern ebenso Magenkrebs und Geisteskrankheiten heilte. Byers starb unter unsäglichen Qualen an Kieferkrebs, der seine Gesichtsknochen zerfrass.

Radiumwasser, 1915.
Radiumwasser, 1915. bild: vieillespubs

1904 unterschrieben auch die Curies einen Vertrag mit dem tüchtigen Geschäftsmann Émile Armet de Lisle, der ihnen die Produktion mit präparierter Pechblende in grösserem Umfang gestattete und ein Labor für ihre Arbeit garantierte. Lisle wusste, wie mit dem wissenschaftlichen Anstrich, den ihm die Curies nun verliehen, Geld zu machen war: Er eröffnete eine Fabrik mit 85 Mitarbeitern zur Gewinnung von Radiumsalzen und informierte in seiner Zeitschrift «Le Radium» die Menschen immer gleich über die neuartigen Verwendungszwecke der radioaktiven Wundersubstanz.

Lisles scheute sich auch nicht davor, Dünger zu verkaufen, der dank dem beigemischten Radium doppelte Erträge garantierte. Als Marie die Radioaktivität jenes magischen Mistes mass, konnte sie allerdings fast gar keine feststellen.

Dieser Mann schaffte es auch, Pierre zu überzeugen, er möge doch seine Messgeräte so verändern, dass nicht mehr länger ihre Genauigkeit, sondern ihre Handlichkeit und damit ihre Verkäuflichkeit im Vordergrund stehen. Seine neuen, tragbaren Instrumente liess Pierre dann auch patentieren.

Auf Radium und vor allem das Verfahren seiner Gewinnung konnten und wollten die Curies aber kein Patent anmelden. Schliesslich waren sie Idealisten wie die meisten Wissenschaftler jener Zeit. Ihre Entdeckungen sollten den Menschen helfen. Kapital daraus zu schlagen, galt als moralisch verwerflich.

Von reinem Idealismus aber konnten sich auch die Curies nicht ernähren. Marie sammelte ein Leben lang Schnüre, Bänder und alte Kartons, worauf sie dann ihre wissenschaftlichen Berechnungen kritzelte. Für Mode interessierte sie sich nicht und ihre Kleider flickte sie so lange, bis sie auseinanderfielen. Ihre Kindheit in Armut hatte sie geprägt. Nur schloss dies auch die Angst mit ein, ihrer Tochter würde es ebenso ergehen, wenn sie ihr kein sicheres Erbe hinterlassen konnte.

«Marie Curie heilt Krebs!» verkündeten die amerikanischen Zeitschriften 1921. Ihr magisches Elexier Radium sei fähig, den Kampf gegen diese schreckliche Krankheit aufzunehmen. In Wahrheit verwendete man diese äusserst kostspielige Therapie nur bei tiefsitzenden inneren Tumoren, die Röntgenstrahlen nicht erreichen konnten. Und auch kaum zwei Jahrzehnte lang, dann wurde Radium durch Kobalt ersetzt.

Marie selbst webte an jenem Mythos mit, als die Forschungsgelder für ihre Arbeit nicht flossen. Mattingly Meloney, die Herausgeberin des Frauenmagazins «The Delinaeator» versprach Marie, bei den Amerikanerinnen 100'000 Dollar zu sammeln, damit sie ein Gramm Radium für ihr Labor erwerben könne.

Cover von «The Delineator», 1917.
Cover von «The Delineator», 1917.bild: pinterest

Die clevere Dame hielt Wort. Nur brauchte Marie das Geld nicht für die Krebsheilung, sondern für ihre Radioaktivitäts-Forschung. Letzteres aber hatte wenig Reiz für die Öffentlichkeit, Radium hingegen kannten alle.

Gefährliche Strahlen

«Man kann auch annehmen, dass das Radium in verbrecherischen Händen sehr gefährlich werden könnte, und hier stellt sich die Frage, ob es für die Menschheit vorteilhaft ist, die Geheimnisse der Natur zu erkennen, ob sie reif genug ist, diese Geheimnisse nutzbar zu machen, oder ob diese Erkenntnisse ihr nicht schädlich sind.»
Pierre Curie

Was für Gefahren die Entdeckung der Radioaktivität für die Menschheit barg, war Pierre bewusst, auch wenn er am Ende ein überzeugter Positivist blieb, der fest an das Gute glaubte.

Und selbst wenn er beobachtete, dass seine Versuchstiere beim Kontakt mit Radium immer wieder starben und seine Hände davon schon ganz zerfetzt waren, liess er den Gedanken nicht zu, dass diese schimmernde Substanz seinen und auch den Körper seiner Frau verstrahlen und immer kranker machen würde. Radium war das Element ihrer Liebe, die Schöpfung zweier brennender Herzen – vielleicht durfte es einfach nichts Zerstörerisches haben.

Pierre litt unter Rücken- und Knochenschmerzen, die so schlimm waren, dass sie ihm den Schlaf raubten. Es musste eine schreckliche Krankheit sein, die die Ärzte nicht erkennen können, dachte er. Bei der erschreckend dünn gewordenen Marie vermutete man Tuberkulose. Doch trotz ihrer Beschwerden schenkte sie am 6. Dezember 1904 ihrer zweiten Tochter Ève Denise das Leben.

Eine einsame, traurige Frau

14 Monate später passierte es. Pierre wurde beim Überqueren der belebten Kreuzung Pont Neuf und Rue Dauphine von einem Pferdefuhrwerk erfasst. Er stürzte und geriet unter den Wagen. Das hintere Rad zerquetschte seinen Schädel. Er war 49 Jahre alt.

«Pierre ist tot? Ganz und gar tot?», fragte Marie noch, als ihr die Nachricht überbracht wurde. Dann setzte sie sich auf die regennasse Bank im Garten und rührte sich nicht mehr.

Die kleine Ève würde die sprühende Marie nie erleben. Ihr bleib einzig diese freudlose, vom Pflichtgefühl getriebene Mutter, deren Stimme so leise geworden war, dass man sie kaum hören konnte. Sie schien weder der Welt noch ihren Töchtern noch etwas zu sagen zu haben.

Marie Curie mit ihren Töchtern Ève und Irène.
Marie mit ihren zwei Töchtern und Irène und Ève nach Pieres Tod, 1908. Nach dem Tod ihrer Mutter 1934 verfasste Ève deren Biografie. Das Buch wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und 1943 in Hollywood als «Madame Curie» mit Greer Garson verfilmt.bild: wikimedia

Ihre düsteren Gedanken teilte sie allein mit ihrem Tagebuch. In diesem leinengebundenen Büchlein sprach sie mit ihrem Mann – und bestimmt glaubte sie fest daran, dass er sie hören könne. Die Welt war voll von geheimnisvollen Strahlen, von Magnetismus, Elektrizität, von Funkwellen und Zeichen, die mittels Telegrafen durch die Luft geschickt wurden. Warum sollte man also auch nicht mit Toten kommunizieren können? Die wissenschaftliche Erklärung für solcherlei Phänomene waren bloss noch nicht gefunden worden.

«Ich habe meinen Kopf an den Sarg gelehnt und in grosser Verzweiflung habe ich mit dir gesprochen. Ich habe dir gesagt, dass ich dich liebe und immer geliebt habe, mit meinem ganzen Herzen. Und mir war, als käme mir durch diese kalte Berührung mit dem Sarg etwas zu, etwas wie Ruhe und eine Intuition, das Gefühl, dass ich den Mut finden würde, weiterzuleben. War es eine Illusion, oder war es die Energie, die von dir kam und sich in diesem geschlossenen Behältnis niederschlug und auf mich übertrug ... ein Akt der Barmherzigkeit, von dir für mich?»
Marie Curie an Pierre in ihrem Tagebuch

Ihr Labor füllte sich mit Traurigkeit und doch führte sie dort ihre Versuche fort. Und während ihr Tagebuch ihre ganze Verzweiflung aufnahm, diktierte die kühle Logik weiterhin den Ton ihres Arbeitsbuches. Sie schrieb auch Pierres angefangenes Werk fertig, 6000 Seiten würde es am Ende umfassen. Marie wollte, dass er stolz auf sie war.

Es dauerte zwei Jahre, bis ihr Pierres Lehrstuhl an der Sorbonne angeboten wurde. Damit wurde sie die erste Dozentin in der Geschichte der Pariser Universität.

Am 5. November 1906 hielt sie ihre Antrittsvorlesung. Die Leute strömten in den Saal in der Hoffnung, einem besonders bewegenden Ereignis beizuwohnen. Doch Marie blieb emotionslos: «Wenn man die Fortschritte ins Auge fasst, die die Physik seit zehn Jahren gemacht hat, ist man erstaunt über den Umschwung, der sich in unserer Auffassung über die Elektrizität und die Materie vollzogen hat ...» Sie hatte genau dort begonnen, wo Pierres letzte Vorlesung geendet hatte.

Vier Jahre lang sollte Marie nach Pierres Tod keinen Frieden finden.
Vier Jahre lang sollte Marie nach Pierres Tod keinen Frieden finden.bild: pinterest

In ihrem Tagebuch notierte sie dazu:

«Welch Kummer und welche Verzweiflung! Du wärst glücklich gewesen, mich als Professorin an der Sorbonne zu sehen, und wie gern hätte ich es für dich getan. Aber es statt deiner zu tun, mein Pierre, könnte man sich etwas Grausameres ausdenken! Und wie ich darunter gelitten habe, und wie deprimiert ich bin. Ich spüre genau, dass alle Lebensfähigkeit in mir gestorben ist, und nichts bleibt mir als die Pflicht, meine Kinder grosszuziehen, und auch der Wille, die Arbeit fortzusetzen, zu der ich mich bereit erklärt habe, vielleicht auch der Wunsch, der Welt und vor allem mir selbst zu beweisen, dass, was du so sehr geliebt hast, tatsächlich etwas wert ist.»
Marie Curie an Pierre in ihrem Tagebuch

Eine neue Liebe und ein ruinierter Ruf

Doch ihre Lebensfähigkeit kehrte nach vier düsteren Jahren zurück. Noch dazu mit einer ungeahnten Heftigkeit. Schuld daran war Paul Langevin. Er war Pierres Schüler und schon länger ein guter Freund der Curies gewesen.

Der französische Physiker und Mathematiker Paul Langevin (1872–1946).
Der französische Physiker und Mathematiker Paul Langevin (1872–1946).bild: wikimedia

Nun aber wurde er zu Maries Geliebtem. Paul war mit der impulsiven Jeanne Desfosses verheiratet, die ihm vier Kinder geboren hatte. Ihre permanenten Geldforderungen würden ihn von grossen Entdeckungen abhalten, meinte er. Die Ehe sei ein katastrophaler Fehler gewesen – und doch fand er den Mut nicht, sie ganz zu verlassen.

Jeanne hatte die Seitensprünge ihres Mannes bis anhin hingenommen, doch als sie erfuhr, wer seine neueste Gespielin war, lauerte sie Marie in einer dunklen Gasse auf und drohte ihr mit dem Tod, würde sie Frankreich nicht auf der Stelle verlassen. Paul riet der verstörten Marie daraufhin, sie solle tun, was seine Frau verlangte, doch sie weigerte sich.

Die beiden sahen sich für eine Weile nicht, obwohl sich die beruflichen Zusammentreffen nicht ganz vermeiden liessen.

Marie litt entsetzlich, in ihren verzweifelten Liebesbriefen schrieb sie ihm, sie würde ihren Ruf und vielleicht gar ihr Leben hingeben, um mit ihm zusammen zu sein. Pauls Gefühle hingegen schienen zwiespältig. Erst als Maries Briefe aus seinem Schreibtisch verschwunden waren, packte er wütend seine Koffer, kehrte aber bereits zwei Wochen später zu seiner Frau zurück.

Diese Briefe würde bald die ganze Welt lesen. Denn nachdem Marie erfahren hatte, dass ihr der Nobelpreis für Chemie verliehen werden würde, übergab Jeanne sie an die Presse.

«Lass Dich nicht rühren durch Tränenausbrüche; denk an das sprichwörtliche Krokodil, das weint, weil es seine Beute nicht fressen konnte; die Tränen Deiner Frau sind von dieser Art [ ...]

Wenn ich weiss, dass Du bei ihr bist, sind meine Nächte grauenhaft, ich kann nicht schlafen, schlafe mit Mühe zwei oder drei Stunden; ich wache auf und fühle mich fiebrig, und ich kann nicht arbeiten. Tu, was Du kannst, um die Sache zu beenden.»

Marie in einem ihrer nun publik gewordenen Briefe an Paul

«Wie konnte Marie Curie es wagen, sich um Aufnahme in die Männerdomäne der Akademie der Wissenschaften zu bemühen?»
«Wie konnte Marie Curie es wagen, sich um Aufnahme in die Männerdomäne der Akademie der Wissenschaften zu bemühen?»bild: histoire-image

Von nun an flogen Steine gegen ihre Fenster, ein gekränkter Kollege schrieb, sie sei schon immer eine hässliche, verdammte Närrin gewesen. Sie wurde von der Presse regelrecht zerstückelt, nur um dann als Familien-Zerstörerin, als zügellose Frau, als polnische Verführerin und Jüdin neu zusammengefügt zu werden.

Marie war noch nicht einmal Jüdin, doch das spielte keine Rolle. Sie wurde zu allem, was Antisemitismus, Chauvinismus und Fremdenhass hergab.

Auch ihr früherer Freund Paul Appell wandte sich nun gegen sie und brachte eine Gruppe von Professoren an der Sorbonne dazu, Marie aufzufordern, das Land zu verlassen. Er war wütend, weil seine eigene Tochter Marguerite Borel die gefallene Wissenschaftlerin bei sich aufgenommen hatte. Diese jedoch drohte nun ihrerseits ihrem Vater damit, ihn nie wieder zu sehen, würde er auf seiner Forderung bestehen. Er gab klein bei.

Marguerite Borel, bekannt als Camille Marbo (1883–1969), war eine französische Autorin, Präsidentin und Preisträgerin des Literaturpreises Prix Femina 1913 und Chefin der Société des gens de lettres,  ...
Marguerite Borel, bekannt als Camille Marbo (1883–1969), war eine französische Autorin, Präsidentin und Preisträgerin des Literaturpreises Prix Femina 1913 und Chefin der Société des gens de lettres, einer Schriftstellervereinigung, die 1838 von Honoré de Balzac, Victor Hugo, Alexandre Dumas und George Sand gegründet wurde.bild: st-aff.fr

Paul wurde von niemandem ein Vorwurf gemacht. Er trennte sich von seiner Frau, nahm sich seine Sekretärin zur Geliebten und zeugte dann mit seiner früheren Schülerin ein Kind, während Marie vom Nobelpreiskomitee nahegelegt wurde, sie möge der Preisverleihung in Schweden fernbleiben. Denn «hätte die Akademie geglaubt, dass der fragwürdige Brief authentisch sein könnte», hätte sie ihr «aller Wahrscheinlichkeit nach den Preis nicht verliehen.»

Maries Antwort folgte prompt:

«Sie erklären dies damit, dass die Akademie in Stockholm, hätte man sie rechtzeitig gewarnt, möglicherweise beschlossen hätte, mir den Preis nicht zu geben, es sei denn, ich könnte öffentlich die gegen mich gerichteten Angriffe aufklären ... Ich muss deshalb meiner eigenen Überzeugung gemäss handeln.
Was Sie mir vorschlagen, wäre aus meiner Sicht ein grober Fehler. Der Preis wurde für die Entdeckung des Radiums und des Poloniums verliehen. Ich bin der Auffassung, dass zwischen meiner wissenschaftlichen Arbeit und meinem Privatleben keine Verbindung besteht ... Ich kann den Gedanken grundsätzlich nicht akzeptieren, dass die Anerkennung des Wertes einer wissenschaftlichen Leistung durch eine verleumderische Rufschädigung, die mein Privatleben betrifft, beeinflusst werden sollte. Ich bin überzeugt, dass viele Menschen diese Meinung teilen.»
Maries Antwortschreiben an das Nobelpreiskomitee

In ihrer Rede in Stockholm betonte sie noch einmal, dass sie die Isolierung von Radium in Form eines reinen Salzes alleine unternommen habe.

19 Tage nach ihrer Rückkehr musste Marie ins Krankenhaus. Sie hatte Läsionen im Unterleib. Doch der Nervenzusammenbruch, den sie erlitt, war schlimmer. Ihr düsterer Begleiter war wieder da – und dieses Mal zog er sie so weit in sein schwarzes Loch hinein, dass sie sich umbringen wollte. Marie wurde immer dünner, ganz so, als wollte sie von der Erde verschwinden, doch das liess ihre Freundin Hertha Ayrton nicht zu. Die Mathematikerin pflegte sie in ihrem Zuhause in England gesund, ebenso wie sie es mit der Suffragette Christabel Pankhurst tat, nachdem diese auf einer Bahre aus dem Gefängnis getragen worden war.

Die Briten steckten die Frauenrechtlerinnen, die für ihre Rechte einstanden, kurzerhand ins Gefängnis. Viele von ihnen traten in Hungerstreik, wovon man sie früher mittels brutaler Zwangsernährung abh ...
Die Briten steckten die Frauenrechtlerinnen, die für ihre Rechte einstanden, kurzerhand ins Gefängnis. Viele von ihnen traten in Hungerstreik, wovon man sie früher mittels brutaler Zwangsernährung abhielt. Später, als der öffentliche Aufschrei zu laut wurde, entliess man sie noch vor ihrem Hungertod mit Hilfe des «Cat and Mouse Act» (1913), aber nur um sie, sobald sie sich erholt hatten, abermals zu verhaften.
bild: wikimedia

Im Krieg

Am 3. August 1914 erklärte Deutschland Frankreich den Krieg. Und als auch das Curie-Labor seine Arbeit eingestellt hatte, begann Marie damit, ungenutzte Röntgengeräte aus Labors und Praxen in die Pariser Militärkrankenhäuser zu schicken. Weil diese aber viel zu monströs waren für den Fronteinsatz, entwickelte sie mobile Röntgengeräte. «Les Petites Curies» setzten sich nur langsam durch, weil die dafür verantwortlichen Bürokraten anfangs keine Frauen hinter dem Steuer oder als Technikerinnen duldeten.

Marie am Steuer eines Röntgenwagens. Unterstützt wurde ihre Arbeit von der Union des femmes de France.
Marie am Steuer eines Röntgenwagens. Unterstützt wurde ihre Arbeit von der Union des femmes de France.bild: wikiwand

In ihren Alpakamantel gehüllt, fuhr Marie zu den Lazaretten, schloss das Röntgengerät an den Generator an, klappte ihre Pritsche auseinander und wartete auf Verwundete. Und bald bekam sie auch Hilfe von ihrer 17-jährigen Tochter Irène, die nicht länger tatenlos herumsitzen wollte, und ihre Mutter inständig darum bat, sie doch mit an die Front zu nehmen.

Sie machte ihre Sache so gut, dass sie kurz darauf die alleinige Leitung einer Feldröntgeneinrichtung im belgischen Hoogstade übernahm. Täglich hörte sie das grausame Toben des Krieges und röntgte dann seine von Schrapnellen zerfetzen Opfer. Hatte sie einen Röntgenvorgang abgeschlossen, erklärte sie dem Chirurgen die exakte Lage der Kugeln und Splitter. Doch die meisten stocherten lieber erstmal blind in den Wunden der Soldaten herum, bevor sie die Berechnungen der jungen Frau ernst nahmen.

Irène lebte wie ein Soldat. Und als sie nach Paris zurückkehrte, bildete sie Krankenschwestern und Technikerinnen für den Fronteinsatz aus und machte nebenbei ihren Abschluss an der Sorbonne in Mathematik, Physik und Chemie – mit Auszeichnung.

Irène Curie vor ihrem Zelt in Hoogstade.
Irène Curie vor ihrem Zelt in Hoogstade.bild: centenaire

Am 11. November 1918 war es vorbei. Der Pulverdampf über den Schützengräben lichtete sich und gab den Blick frei auf jenen verheerenden Irrsinn, den sich die Menschen vier Jahre lang gegenseitig angetan hatten. 17 Millionen Tote und 21 Millionen Verletzte waren die Bilanz.

Marie Curie war ihrer Überzeugung treu geblieben. Während andere Wissenschaftler auf beiden Seiten an todbringenden Waffen gearbeitet hatten, diente sie dem Erhalt des Lebens. Während des Krieges wurden mehr als eine Million Röntgenvorgänge durchgeführt.

Maries Hinterlassenschaft

Als der kettenrauchende Lebemann Fréderic Joliot in Maries Labor zu arbeiten begann, ahnte noch niemand, dass er einmal die wortkarge, etwas spröde wirkende Irène heiraten würde. Doch auf irgendeinem ihrer vielen langen Spaziergänge verliebte er sich – und tat auch alles, was Marie von ihm als Gegenleistung verlangte. Brav machte er seinen Doktor und wurde zu einem hervorragenden Chemiker und Physiker.

Irène and Frédéric Joliot-Curie. Die in ihrem Leben von Männern mehrmals enttäuschte Marie blieb ihrem Schwiegersohn gegenüber lange misstrauisch, sie vermutete erst, er wolle sich bloss mit ihrem pro ...
Irène and Frédéric Joliot-Curie. Die in ihrem Leben von Männern mehrmals enttäuschte Marie blieb ihrem Schwiegersohn gegenüber lange misstrauisch, sie vermutete erst, er wolle sich bloss mit ihrem prominenten Namen schmücken. Das Paar ass jeden Mittwoch Abend bei Marie, was nichts daran änderte, dass sie Frédéric auch noch nach zwei Jahren nur als «den Mann, den Irène geheiratet hat», bezeichnete.bild: pinterest

Und wie einst Marie und Pierre verschmolzen nun auch Irène und Frédéric zu einer untrennbaren Legierung zusammen. Über ihren wissenschaftlichen Arbeiten stand bald der Doppelname Joliot-Curie, der Ausdruck ihrer tiefen Verbundenheit.

1934 führten die beiden die schwerkranke Marie ins Labor, wo sie noch einmal die Versuchsordnung aufgebaut hatten, die ihnen gemeinsam den Chemie-Nobelpreis einbringen würde:

«Nie werde ich den Ausdruck tiefster Freude vergessen, die sie überkam, als Irène und ich ihr das erste künstlich erzeugte radioaktive Element in einem kleinen Glasröhrchen zeigten. Ich sehe sie noch vor mir, wie sie, schon ziemlich schwach, dieses kleine Röhrchen mit dem Radioelement in ihre radiumzerstörten Hände nahm. Um zu überprüfen, was wir da erzählten, führte sie den Geigerzähler nah daran, und sie konnte das Klicken hören ... Es war ohne jeden Zweifel die letzte grosse Freude ihres Lebens.»
Frédéric Joliot

Wie Marie hielten auch Irène und ihr Mann die Sicherheitsmassnahmen im Labor nicht ein; Irène starb 1956 an Leukämie, Fréderic nur zwei Jahre nach ihr. Er meinte noch, dass radioaktive Strahlung nun m ...
Wie Marie hielten auch Irène und ihr Mann die Sicherheitsmassnahmen im Labor nicht ein; Irène starb 1956 an Leukämie, Fréderic nur zwei Jahre nach ihr. Er meinte noch, dass radioaktive Strahlung nun mal ihre Berufskrankheit sei.bild: wikimedia

Sie wolle in Ruhe gelassen werden, sagte Marie im Morgengrauen des 3. Juli, dann starb sie. Man setzte sie neben Pierre auf dem Friedhof in Sceaux bei. Ihr Sarg war mit Blei ausgekleidet worden, denn ihr Körper würde seine radioaktiven Strahlen noch weit in die Zukunft aussenden.

Jene Strahlen hatten sie getötet, doch sie hatten sie ebenso lebendig gemacht. Der schöne Schimmer des Radiums hatte ihr Schlafzimmer erhellt, wo sie einst eng umschlungen mit Pierre lag. Sie musste es zu sehr geliebt haben, um die Gefahr zu sehen. Vielleicht war sie ihr aber auch gleichgültig. Grosse wissenschaftliche Entdeckungen forderten nun mal Opfer, das war stets ihre feste Überzeugung gewesen.

Und zum Glück musste die Pazifistin nicht mehr erleben, wie gross die Zahl der Opfer war, die ganz am Ende ihrer Entdeckung stehen würden.

Der amerikanische Physiker Robert Oppenheimer skizzierte bereits 1944 eine grobe Skizze der Atombombe, die Zehntausenden Menschen das Leben kosten würde. Im Bild: Die Fat-Man-Bombe wird für den Angrif ...
Der amerikanische Physiker Robert Oppenheimer skizzierte bereits 1944 eine grobe Skizze der Atombombe, die Zehntausenden Menschen das Leben kosten würde. Im Bild: Die Fat-Man-Bombe wird für den Angriff vorbereitet.bild: wikimedia
Das für den Artikel verwendete Buch:​
Barbara Goldsmith: Marie Curie. Die erste Frau der Wissenschaft.

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Sogenannte Liquidatoren reinigen das Dach des Reaktorblocks 3 vom stark strahlenden Schutt und Graphitblöcken, die vom Druck der Explosion des benachbarten Blocks 4 dorthin geschleudert worden waren, April 1986. Sie ersetzten die hierfür zuerst verwendeten, aber wegen der Strahlung versagenden deutschen und japanischen Roboter, weshalb sie auch als «Bioroboter» bezeichnet wurden. Der Tschernobyl-Fotograf Igor Kostin, der auch dieses Bild schoss, war selbst selbst fünfmal bei der Arbeit der Liquidatoren anwesend und erklärte später dazu: «Sie durften wegen der hohen Strahlung nur für 40 Sekunden auf das Dach, warfen eine Schaufel Schutt hinunter und kamen wieder zurückgerannt. Sie bekamen eine Urkunde, 100 Rubel und wurden weggeschickt.» bild: reddit ... Mehr lesen
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17 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Füürtüfäli
05.04.2020 20:07registriert März 2019
Marie Curie wurde als Immigrantin, Jüdin, vor allem aber als Frau massiv diskriminiert. Sie ist dennoch unbeirrbar ihren Weg gegangen und hatte phänomenalen Erfolg (2 Nobelpreise, noch dazu in zwei unterschiedlichen Gebieten). Beide ihre Töchter wurden mit dem Nobelpreis ausgezeichnet, man darf wohl annehmen, dass ihre Mutter durch Erziehung und Vorbild dazu entscheidend beigetragen hat.

Wie dringend würden wir solch aufrechte, kluge und mutige Menschen auch heute brauchen.
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Merida
05.04.2020 22:40registriert November 2014
Herzlichen Dank! 🥰
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insert_brain_here
06.04.2020 12:39registriert Oktober 2019
Man versuche mal sich vorzustellen wie unglaublich viel weiter die Menschheit fortgeschritten wäre, hätte man nicht bis vor kurzem jegliches Mitwirken von Frauen unterbunden. Und immer noch existieren geistige Höhlenmenschen mit dieser Einstellung.
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