Um 1750 v. Chr. wird in Thun-Renzenbühl eine mächtige Person bestattet. Allem Anschein nach ein Mann, eine Art homerischer Kleinkönig – wobei sich die Wissenschaft schon in anderen Fällen im Geschlecht von Bestatteten täuschte. Er – belassen wir es einmal dabei – erhält prachtvolle Beigaben mit ins Grab, schliesslich soll es ihm auch im Jenseits an nichts fehlen.
Kleidernadeln, Gürtelhaken und ein Dolch zieren die Kleidung des Toten. Ausserdem ist er mit gleich sechs Halsringen ausgestattet, ein Zeichen seines besonderen Reichtums. Ein bisschen so, als liesse man sich heute mit drei Rolex-Uhren am Handgelenk bestatten. Mehr ist mehr.
Doch das ist nicht alles: Auch die Beilklinge einer repräsentativen Streitaxt, verziert mit eingelegten Goldstiften, findet man im 19. Jahrhundert im Grab des Königs. Eine wunderschöne Arbeit in aufwendiger Technik. Eine Erfindung des Thunerseegebiets? Nein, Arbeiten mit Verzierungen in gleicher Technik sind vor allem aus der Ägäis und dem «goldenen» Mykene, wie Homer es nennt, bekannt. Wie kommt es, dass sich ein Berner Kleinkönig vor fast 4000 Jahren mit einem Prestigeobjekt bestatten lässt, das mithilfe einer Technik aus der Ägäis hergestellt wurde?
Und der «König von Thun» ist nicht der Einzige rund um den See im Berner Oberland, in dessen Grab Prunkstücke mit Bezügen in die Ferne gelegt werden: In Hilterfingen erhält ein Mann um dieselbe Zeit eine fremdartige Nadel mit auf seine Reise ins Jenseits. Die am ehesten mit dieser Nadel von Hilterfingen vergleichbaren Stücke stammen aus Zypern, Anatolien und dem Gazastreifen.
Auch zeitgleich in Spiez lässt sich die Elite ihre (Grab-)Ausstattung einiges kosten. Zwar sind dort keine Bezüge in die Ferne nachweisbar, von Reichtum zeugen die Elitengräber aber allemal. Eine Frau wird mit riesiger Gewandnadel und aufwändigem Kopfschmuck bestattet, ein 13-Jähriger mit Beilklinge und Dolch, ganz wie ein Erwachsener.
In der Siedlung Spiez-Bürg, gelegen an markanter Stelle auf einem Hügel, findet man das Steuerrad eines Ferraris – pardon, der bronzezeitlichen Entsprechung: einen Trensenknebel für ein Pferd. Das Pferd ist damals das neuste und prächtigste Modell der Fortbewegung: In der Bronzezeit beginnt man – das heisst, jene, die es vermögen – auf Pferden zu reiten. Die edlen und teuren Tiere werden zum Statussymbol der Eliten.
Also: Warum scheinen sich rund um den Thunersee besonders vermögende Eliten, zum Teil mit Kontakten in weit entfernte Gebiete, herausgebildet zu haben? Der Grund dafür ist wohl das wirkmächtige Material, das der Bronzezeit (2200 bis 800 v. Chr.) Jahrtausende später ihren Namen geben wird: die Bronze.
Bronze ist eine Legierung (Mischung) aus Kupfer und Zinn, die aufgrund ihrer Härte und ihrer Möglichkeit zur seriellen Herstellung von Gegenständen das menschliche Leben grundlegend veränderte. Das Rezept zu ihrer Herstellung – neun Teile Kupfer, ein Teil Zinn – wurde wahrscheinlich vor 5000 Jahren in Vorderasien entwickelt und anschliessend nach Europa weitervermittelt.
Kupfer und Zinn kommen aber in den wenigsten Fällen gemeinsam an einem Ort vor, sondern müssen über lange Distanzen aus unterschiedlichen Gegenden eingeführt werden. So auch in Vorderasien, wo sich die Hochkulturen der damaligen Zeit befinden. Um im hethitischen Reich, in Troja, in Ägypten, in Babylon, auf Kreta und in Mykene Bronze herstellen zu können, sind deshalb weiträumige wirtschaftliche Verbindungen nötig. Europa mit seinen Kupfer- und Zinnvorkommen wird zur Rohstofflieferantin der vorderasiatischen Hochkulturen und rückt an deren Peripherie.
Davon profitieren auch die Eliten am Thunersee: Ihr Einflussgebiet liegt an strategisch günstiger Lage zwischen Alpenübergängen und Wasserverbindungen. Viele Handelswege zum Transport von Kupfer, Zinn oder anderen begehrten Rohstoffen wie Bernstein aus dem Baltikum führen wohl an ihren Machtzentren vorbei. Kupfer hat dabei noch keine lange Reise hinter sich: Es wird in den Alpen, in Österreich, Graubünden im Oberhalbstein und möglicherweise auch im Berner Oberland, zum Beispiel im Simmental, abgebaut. Ganz in der Nähe der Thunersee-Eliten also.
Über Handelswege reisen natürlich nicht nur Güter, sondern auch Menschen, Ideen und Wissen. Zum Beispiel das Wissen über die Einlegetechnik aus der Ägäis, die dann zur Herstellung der Beilklinge des Königs von Thun verhilft.
Vor fast 4000 Jahren vernetzt der kollektive Hunger nach Rohstoffen Europa mit Ägypten, Vorderasien und der Ägäis in bisher unbekanntem Ausmass wirtschaftlich und kulturell. Thun, Hilterfingen und Spiez treten – wenn vielleicht auch indirekt – in Kontakt mit Babylon, Hattusa, Troja und Mykene. Eine globalisierte Bronzezeitwelt entsteht, die grösste vormoderne Vernetzung, die nicht auf militärischen Eroberungen beruht. Globalisierung, wer hat’s erfunden?