Beginnen wir mit dem Ende. In Waldsee, nördlich von Ravensburg, wird am 26. Mai 1530 eine Gruppe von Frauen und Männern aufgegriffen, wie die Chronik des St. Gallers Fridolin Sicher berichtet. Man bezichtigt sie des Täufertums, eine Anklage, auf die im Reich Karl V. seit 1529 die Todesstrafe steht.
Das Täufertum ist aus den Reformationsbewegungen in den 1520er-Jahren entstanden. Gemeinsam ist den verschiedenen Ausrichtungen des Täufertums, dass ihre Vertreterinnen und Vertreter die Taufe von Säuglingen ablehnen und stattdessen die Taufe als freiwillige Bekennung zum Christentum betrachten, weshalb diese im Erwachsenenalter vorzunehmen sei. In der Schweiz ist ein Täuferkreis aus ehemaligen Anhängern und Schülern Ulrich Zwinglis entstanden.
Zurück zur gefassten Gruppe: Sechs der Männer werden kurz darauf durch das Schwert gerichtet. Einer von ihnen ist Jakob Hottinger aus Zollikon bei Zürich. Die Chronik schildert weiter, wie eine der Frauen ins Wasser geworfen und ertränkt wird. Um ihr die Möglichkeit zum Widerruf zu geben, zieht man sie kurz vor dem Ersticken noch einmal hoch, die Frau jedoch sagt nur: «Was holt ihr mich raus? Das Fleisch war schon fast überwunden.» Es ist eine schaurige Szene. Bemerkenswert ist, dass sie uns letzte Worte überliefert, und zwar die letzten Worte einer Frau.
Aller Wahrscheinlichkeit nach handelt es sich bei der Ertränkten um die Täuferin Margret Hottinger, Jakobs Schwester. Ihre Biographie lässt sich nur in Bruchstücken rekonstruieren. Was uns aber in allen überlieferten Quellen deutlich entgegentritt, ist ihre Beredsamkeit. Margret Hottinger, und mit ihr eine Reihe anderer Täuferinnen aus Zürich und der Ostschweiz, hat gesprochen. Und gerade dieser Umstand stellte für die Reformatoren und Obrigkeiten ein ernsthaftes Problem dar.
Die ersten Zeugnisse von Margret Hottinger stammen aus Verhörprotokollen des Zürcher Rates. Zusammen mit allen wichtigen Täuferinnen und Täufern Zürichs wird sie Ende 1525 verhaftet, ins Gefängnis gesteckt und verhört. Sie wird vor die Wahl gestellt: Widerruft sie, kommt sie gegen ein Bussgeld wieder frei. Widerruft sie nicht, wird sie bei Wasser und Brot in den Wellenbergturm geworfen. Andere prominente Täufer wie Martin Linck oder Michael Sattler geben nach. Margret Hottingerin von Zollikckenn – so lesen wir in den Quellen – gitt ir antwurt. Und die klingt in neuem Deutsch etwa so:
Margret Hottinger bleibt standhaft. Den Winter über wird das Verhör fortgesetzt. Im nächsten Protokoll lesen wir:
Tatsächlich findet sich in der Bibel kein einziges Beispiel für eine Kindertaufe, weshalb auch Ulrich Zwingli anfangs der Erwachsenentaufe nicht abgeneigt war. Nach mehreren öffentlichen Taufdisputationen wendet sich das reformatorische Zürich jedoch von dieser Idee ab, stellt sich hinter die Kindstaufe, und bestraft taufgesinnte Haltungen immer schärfer. Am 5. März 1526 wird Margret Hottinger erneut verhört. Erneut gibt sie zur Antwort:
In den Protokollen folgt das Zeugnis einer weiteren Frau. Sie heisst Winbrat Fanwiler und stammt aus St. Gallen. Und Winbrat Fanwiler legt sogleich nach:
Zwei Tage darauf zieht der Zürcher Rat die Schrauben an und erlässt ein neues Urteil:
Fast zwei weitere Monate hält Margret Hottinger mit anderen Täuferinnen und Täufern dem Druck stand, schliesslich aber gibt sie nach, widerruft, und kommt frei. Dies freilich ohne von ihrem Glauben zu lassen. Mit ihrem Bruder Jakob Hottinger zieht Margret Hottinger sogleich weiter in die Ostschweiz, Winbrat Fanwiler begleitet sie.
Auch aus dieser Zeit sind Worte überliefert, doch klingen diese plötzlich anders, seltsam. Unsere Quellen sind nicht Protokolle und Gerichtsakten, sondern Berichte und Briefe, aufgeschrieben von Männern, adressiert an Männer.
In seiner Chronik zu St. Gallen bescheinigt Johannes Kessler Margret Hottinger zwar, dass sie von «sehr sittsamem Wandel» sei und von den Wiedertäufern geliebt und hochgeachtet werde. Bereits im nächsten Satz jedoch ist es vorbei mit der Liebenswürdigkeit. Denn Margret Hottinger, schreibt Kessler, habe in St. Gallen laut verkündet: «Ich bin Gott!» Des Weiteren habe sie die Sünden anderer vergeben und gesprochen: «Wer betet, der sündigt.» Dazu habe sie unverständliche Dinge geäussert in einer Zunge, als würde diese von Gott geführt.
In Kesslers Chronik folgen mehrere Seiten, die ausschliesslich den Taten und Worten von Frauen gewidmet sind. Auch Margret Hottingers Zellengenossin Winbrat Fanwiler tritt auf, nur dass sie sich plötzlich den Namen Martha gegeben hat. Von einer Verena Burmerin heisst es, dass sie Schaum vor dem Mund habe, dass sie mit grausamer Stimme spreche, zittere, und öffentlich verkünde: «Ich muss den Antichrist gebären!»
Dazu tritt eine gewisse Barbara Mürglen. Sie schreit: «Weh, oh weh!» und fällt um. Dann steht sie wieder auf, ruft: «Was haben wir getan, was haben wir nur getan!» Ihr Gesicht glüht. Sie schwitzt dermassen, dass man ihr den Gürtel auftun und alle Kleider abnehmen muss, bis sie schliesslich nackt daliegt.
In einer weiteren Szene aus der Chronik sitzen Barbara Mürglen und Verena Burmerin nackt vor einer Gruppe Männer und predigen. Von Johannes Kessler erfahren wir, dass einer dieser Männer auf ihre Scham geblickt und sich in Gedanken gewünscht habe, sie möge diese bedecken. Verena Burmerin aber sei es gelungen, seine Gedanken zu erkennen. Also sei sie zu ihm gegangen und habe ihn bestraft.
Männer, die sich von nackten Frauen bestrafen lassen – damit ist es noch nicht genug. Der Herrenzimmerschauer zieht weite Kreise. Niemand Geringerer als Ulrich Zwingli schreibt an den St. Galler Theologen Vadian und verlangt genauen Bericht darüber, was unter den Wiedertäuferinnen und Wiedertäufern vor sich gehe. «Es war nämlich ein Bote von Johannes Hess bei mir», schreibt Zwingli,
Zwingli berichtet weiter, wie ihm zu Ohren gekommen sei, dass sich in der Nähe von Appenzell fünf Täufer homosexueller Handlungen schuldig gemacht und deswegen verbrannt worden seien. Er schliesst seine Schilderung mit den Worten: «Da sehen wir, was überwältigt werden heisst!»
Wahrheit und Erfindung gehen bei diesen Überlieferungen wahrscheinlich wild durcheinander. Was an all diesen Schilderungen jedoch hellhörig macht, ist die äusserst stereotype Ausformung der geschilderten sexuellen Ausschweifungen. Es stellt sich daher die Frage, ob hier nicht vor allem korrespondierende Männer von ihren eigenen Fantasien überwältigt wurden, und nebenher diffamierende Propaganda betrieben.
Die Art der Aufbereitung jedenfalls und die gewählten Stilmittel sprechen auf ihre Weise eine deutliche Sprache und legen die Vermutung nahe, dass die weiblichen Sprechakte der ersten Täuferzeit an tief verwurzelte Ängste rührten. Um diese Ängste wieder unter Kontrolle zu bekommen und das eigene Handeln zu legitimieren, griff die herrschende Elite zu einem erprobten und immer wieder verwendeten Mittel: der sexuellen Herabwertung.
Wie folgenreich diese herabsetzenden Bilder und Stereotypisierungen der Schweizer Täuferinnen war, sehen wir spurenweise noch im jüngst entstandenen Zwinglifilm. In aller Deutlichkeit tritt sie uns entgegen in Gottfried Kellers Täufer-Novelle Ursula. Auf der einen Seite kommt man nicht umhin, von staatstragendem Zwinglikitsch zu sprechen, etwa, wenn von Ulrich Zwinglis «anmutig hellem toggenburgischen Dialekt» und seiner «beweglichen Sprache» die Rede ist.
Was aber passiert, wenn die Täuferin Ursula den Mund auftut? Ein «sinnliches Feuer» beginnt in den Augen der Frau zu leuchten, ein Feuer, das zugleich die «Flamme des Irrlichts» ist. Ihre Worte aber? Sie bleiben gänzlich unverständlich.
Mit der sexualisierten Darstellung der Täuferinnen wird Hierarchie hergestellt, oder in diesem Fall: Wiederhergestellt. Denn wer über die Macht verfügt, verstehbare Worte zu äussern, kontrolliert das Geschehen. Über all diejenigen aber, die sich nicht verständlich äussern können, darf verfügt werden.
Es ist daher an der Zeit, vermehrt herauszustellen und wahrzunehmen, wie Margret Hottinger – und viele andere Täuferinnen – ihre Antwort gegeben haben. Die skandalisierenden Quellen verstellen uns dabei nur zu leicht den Blick darauf, dass während der frühen Zürcher Taufbewegung hierarchisch wenig etablierte Menschen zeitweise sehr erfolgreich in Wort und Tat ihre Handlungsspielräume erweitert haben.
„Wer wiedergetauft wird, kommt in den Himmel, wer aber nicht daran glaubt und sich dagegen wehrt, ist ein Kind des Teufels“
„Was nicht von Gott, dem himmlischen Vater, gepflanzt wurde, muss ausgerissen und mit dem ewigen Feuer verbrannt werden“
dann erkennen wir eine religiöse Fanatikerin die mit Andersgläubigen genau gleich verfahren wäre wenn sie denn die Möglichkeit dazu gehabt hätte. Religion befreit Frauen genau so wenig wie sie Männer befreit hat