Anna Goppel*, ist Europa verantwortlich für die Katastrophen im Mittelmeer?
Europa trägt selbstverständlich nicht die alleinige aber doch grosse Verantwortung. Europa hat die Mittel und die Möglichkeiten, die Menschen, die übers Meer flüchten, zu retten, und tut dies nicht. Bewusst hat sich Europa beispielsweise dagegen entschieden, das Seenotrettungsprogramm «Mare Nostrum», das Italien nach dem Unglück von Lampedusa eingerichtet hatte, zu finanzieren. Europa hat sich damit entschieden, Hilfeleistung zu unterlassen, und trägt entsprechend Mitverantwortung an dem Tod der vielen Menschen im Mittelmeer.
Zyniker sagen: Diese Menschen wissen, wie gefährlich die Reise übers Meer ist.
Europa ist mitverantwortlich, dass diese Menschen überhaupt den gefährlichen Weg übers Meer antreten.
Durch seine rechtliche Regelung, dass eine Person erst dann einen Antrag auf Asyl stellen kann, wenn sie den europäischen Kontinent erreicht hat, nicht aber in den Botschaften der europäischen Länder vor Ort, trägt Europa dazu bei, dass Flüchtlinge den riskanten Weg übers Mittelmeer auf sich nehmen.
Gibt es nicht eine moralische Rechtfertigung, dass Europa seine Grenzen bewacht?
Wenn Sie mit dieser Frage danach fragen, ob es eine moralische Rechtfertigung dafür gibt, dass Europa oder ein einzelner Staat Flüchtlinge von seinem Territorium fernhält, lautet meine Antwort: Nein. Flüchtlinge sind Menschen, die im Heimatland einer lebensbedrohlichen Situation ausgesetzt sind. Es ist eine moralische Pflicht der Hilfeleistung, diese aufzunehmen und ihnen Schutz zu bieten.
Inwiefern trägt jeder Einzelne von uns Verantwortung?
Jeder und jede Einzelne hat die Verantwortung, sich politisch dafür einzusetzen, dass sein Staat dieser humanitären Pflicht nachkommt.
Man ist sich einig: Menschen in Todesgefahr müssen gerettet werden. Wie weit geht diese Verpflichtung? Resultiert daraus, dass wir die Geretteten aufnehmen müssen?
Ja. Sofern es sich dabei um Menschen handelt, die in ihrer Heimat in ihren Leben bedroht sind, sei dies aufgrund von politischer Verfolgung oder etwa Bürgerkriegen, müssen wir sie aufnehmen und ihnen Schutz bieten. Wie wir moralisch verpflichtet sind, diese Menschen auf hoher See zu retten, so sind wir verpflichtet, sie nicht in die ihr Leben bedrohende Situation im Heimatland zurückzuschicken.
Kentert ein Flüchtlingsboot, gibt es einen grossen Aufschrei. Mitleid und Trauer machen sich breit, und dann geht's zurück in den Alltag. Ist das heuchlerisch? Und warum flacht unser Mitleid mit der Zeit wieder ab?
Dies ist eine psychologische Frage, die ich leider nicht beantworten kann. Wichtig scheint es mir jedoch, dass wir nicht zum Alltag zurückkehren sollten, ohne die Situation verändert zu haben. Und dies umfasst im aktuellen Fall zumindest die Einrichtung einer funktionierenden Seenotrettung wie auch die europaweite Einführung des Botschaftsverfahrens, das es hier in der Schweiz ja bereits gegeben hat, bis es in der letzten Asylrechtrevision abgeschafft wurde.
Warum ist jemand gegen die Aufnahme von Flüchtlingen? Ist das Angst vor finanzieller Verpflichtung, vor Überfremdung?
Was auch immer Menschen dazu bewegt, gegen Flüchtlinge zu sein, wir dürfen unser Handeln davon nicht dahingehend leiten lassen, dass wir Flüchtlinge deshalb nicht aufnehmen. Europa muss die Aufnahme von Flüchtlingen koordinieren und hat die Mittel und Möglichkeiten, diesen Menschen Schutz zu bieten.
Wir leben hier in Wohlstand und Sicherheit. Sind wir nicht (aus Dankbarkeit darüber) verpflichtet, anderen, denen es schlechter geht, zu helfen?
Ich denke nicht, dass Dankbarkeit hier die zentrale Rolle spielt. Wir sind aus Gerechtigkeit dazu verpflichtet zu helfen, und diese Verpflichtungen gehen weit über das hinaus, was wir hier bezüglich Flüchtlingen diskutieren und betreffen etwa auch die Bekämpfung der weltweiten Armut. Was die Hilfe für Flüchtlinge angeht, sind auf alle Fälle all die in der Pflicht, die in der Lage sind zu helfen. Und das trifft ganz besonders auf uns zu, die wir hier in grossem Wohlstand und Sicherheit leben.
Was kann jeder Einzelne konkret tun?
Das, was die Einzelnen tun können und neben finanzieller Unterstützung alle Formen der politischen Partizipation umfasst, fängt mit den Gesprächen im eigenen Umfeld an. Die Einzelnen können dazu beitragen, die Ablehnung gegenüber Flüchtlingen zu verringern, und dies ist zumindest ein erster wesentlicher Schritt.
Ist es nachvollziehbar, dass sich Menschen der moralischen Verantwortung entziehen und die Hilfe Organisationen und Politikern überlassen?
Helfen in einem konkreten Fall bereits genügend Leute, ist dies psychologisch möglicherweise nachzuvollziehen. Gerade hinsichtlich der Frage des Flüchtlingsschutzes ist jedoch noch viel zu tun. Und jeder und jede Einzelne kann dazu beitragen, dass die gesellschaftliche Akzeptanz für die Aufnahme von Flüchtlingen und der Druck auf die Politik, diesen Schutz umzusetzen, wächst.
Woher sollte in der heutigen Zeit unsere moralische Sensibilität noch kommen? Mitleid, Barmherzigkeit oder Menschenliebe?
Es genügt, meines Erachtens, zu versuchen, sich die Situation der Menschen, die in Europa Hilfe suchen, vor Augen zu führen. Dies sollte ausreichen, um zu verstehen, dass wir in der Pflicht stehen, die Grenzen für diese Menschen zu öffnen und das rechtliche System so zu ändern, dass sie einen sicheren Aufenthaltsort finden können.