Der Krieg zwischen Israel und den Palästinensern. Der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine. Bürgerkriege in Syrien und im Irak. In nicht allzu weiter Entfernung sind bewaffnete Auseinandersetzungen im Gang, die auch in der Schweiz die Menschen stark beschäftigen. Die Frage ist daher berechtigt: Wie hat sich ein neutrales Land zu verhalten?
Die Antwort darauf ist – gerade im Ukraine-Konflikt – nicht eindeutig: Während eine Minderheit für die Übernahme der Sanktionen von EU und USA einsteht, unterstützt die Mehrheit den zurückhaltenden Kurs des Bundesrats. Dieser will bisher nur die Umgehung der Sanktionen verhindern. Die SVP geht noch einen Schritt weiter und fordert eine grundsätzliche Enthaltsamkeit. Die Schweiz habe sich «jedes Kommentars zu enthalten». Neutralität ist aus ihrer Sicht gleichbedeutend mit politischer Abstinenz, «sonst ist die Vermittlerrolle in Gefahr».
Das Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) sieht die Sache pragmatischer: «Die Neutralität ist Mittel zum Zweck», hält es auf der Homepage fest. Sie diene dazu, die Unabhängigkeit der Schweiz zu bewahren. Von Enthaltsamkeit, wie sie die SVP fordert, ist keine Rede. So hat die Schweiz die Gewalt im Nahen Osten als auch in der Ukraine immer wieder verurteilt. Im Konflikt zwischen Israel und Palästina spricht sich Bern für eine Zwei-Staaten-Lösung aus. Zurückhaltender agiert das EDA im Ukraine-Konflikt. Dies hat in erster Linie mit dem Schweizer Vorsitz der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) zu tun und weniger mit der Neutralität.
Es überrascht daher nicht, wenn Topdiplomaten die Bedeutung der Neutralität relativieren: «Bleiben wir auf dem Teppich. Die Schweiz wirkt nicht als Vermittlerin zwischen Brüssel und Moskau. Entscheidend ist, dass die Schweiz den OSZE-Vorsitz übernommen hat», sagt Tim Guldimann, Schweizer Botschafter in Berlin und OSZE-Sonderbeauftragter, in der neusten Ausgabe der Weltwoche (paywall). Der Ukraine-Konflikt habe gezeigt, dass ein neutraler Staat wie die Schweiz nützliche Dienste verrichten könne.
Staatssekretär Yves Rossier analysiert die Rolle der Schweiz so: «Wahrscheinlich wichtiger als die Neutralität ist unsere Diversität. Man lernt, dass man selbst bei grundlegenden Meinungsunterschieden nicht den Tisch verlässt und die Beziehungen nicht aufs Spiel setzt», sagt er in einem NZZ-Interview.
Oft wird der Ursprung der Schweizer Neutralität auf die Schlacht von Marignano im September 1515 zurückgeführt, als der französische König François I. ein Heer von 20'000 Schweizern in Norditalien vernichtend geschlagen hatte. Historiker stellen diesen Mythos infrage. Da die Schweiz im Anschluss an Marignano einen umfassenden Friedensvertrag mit Paris unterzeichnet habe, sei sie gar nicht neutral gewesen, sondern faktisch ein Satellit Frankreichs.
Völkerrechtlich wurde die Neutralität erst am Wiener Kongress 1815 anerkannt. Rechte und Pflichten des Neutralen sind in der Haager Konvention von 1907 abschliessend definiert worden. Kerngehalt ist die militärische Nichteinmischung in einen zwischenstaatlichen Konflikt. Wie sich Neutrale in einem asymmetrischen Krieg – etwa einem Bürgerkrieg – zu verhalten haben, ist nicht geregelt. Klar ist: Der Neutrale ist nicht verpflichtet, «sich jeglichen Kommentars zu enthalten», wie dies die SVP fordert. Auch Sanktionen der EU darf die Schweiz übernehmen, selbst eine Beteiligung an friedensunterstützenden Operationen der UNO wäre möglich. Nur der Beitritt zu einem Militärbündnis wie der Nato ist verboten.
Wie sich also die Schweiz in der aktuellen Situation zu verhalten hat, ist weitgehend ihr selber überlassen. Historiker Thomas Maissen, Autor eines Standardwerks zur Geschichte der Schweiz, sagt es so: «Neutralität bedarf der internationalen Legitimität, die sie nur erhält, wenn sie aktiv und berechenbar bemüht bleibt, die Völkerrechtsordnung zu befördern.» Der militärisch schwache Kleinstaat finde Rechtssicherheit und Prosperität nur in einer Staatenordnung, zu der er seine materiellen und ideellen Beiträge von sich aus leiste. (trs)