Auf den ersten Blick glaubt man, auf MediaShop oder einem ähnlichen Kanal gelandet zu sein: Ein Paar bietet diverse Produkte an, die es in verschiedenen Paketen zu kaufen gibt.
«Sie werden das Platinum-Paket lieben», sagt Charlene Bollinger zu den Zuschauern, während auf dem Bildschirm ein DVD-Set, Booklets und andere Produkte gezeigt werden. Ihr Ehemann Ty Bollinger preist die «Director's Cut Edition» an, welche über 100 Stunden zusätzliches Filmmaterial enthält.
Man könne sich dem Kampf für Gesundheitsfreiheit anschliessen, wenn man auf den orangen Kopf drücke, so Charlene Bollinger. Was der Spass kostet? Je nach Paket müssen zwischen 199 und 499 Dollar hingeblättert werden, was umgerechnet 180 und 450 Schweizer Franken entspricht.
Eine Anhängerschaft hat sich das amerikanische Ehepaar ab 2014 mit ihrer Website «The Truth about Cancer» (Die Wahrheit über Krebs) aufgebaut. Dort vertreten sie die Meinung, dass Chemotherapien nicht wirksam seien. Aus diesem Grund verkaufen sie Informationspakete zu alternativen Heilungsmethoden, welche allerdings aller wissenschaftlichen Grundlage entbehren. Gemäss Recherchen der Nachrichtenagentur «Associated Press», welche das Netzwerk der Bollingers analysiert hat, gebe es keine Hinweise darauf, dass Ty Bollinger eine medizinische oder wissenschaftliche Ausbildung gemacht habe.
Nach der Etablierung ihrer Website haben die Bollingers 2017 ihren Fokus auf Impfungen ausgeweitet. Dann schlug das Corona-Virus zu und das Ehepaar begann mit der Produktion und dem Marketing von Falschinformationen über die Pandemie. Wie Imran Ahmed, CEO des «Center for Countering Digital Hate» (CCDH) gegenüber dem US-amerikanischen Radiosender «NPR» erklärt: «Covid hat zu vielen Ängsten geführt und Verschwörungen und Falschinformationen blühen dort, wo es Ängste gibt.» Seit Beginn der Pandemie ist die Anhängerschaft von den 147 wichtigsten Anti-Impf-Accounts um 25 Prozent gewachsen.
Dorit Reiss, Professorin an der University of California Hastings College of Law, hat sich auf Impfstoffpolitik spezialisiert. Wie sie gegenüber der «Associated Press» erklärt, stützt sich die Anti-Impf-Industrie hauptsächlich auf Aktivistinnen und Aktivisten. «Sie haben viele, viele leidenschaftliche Anhängerinnen und Anhänger, welche ihnen glauben und an der Basis als Verkäuferinnen und Verkäufer der Fehlinformationen dienen. Für die Leute oben ist es ein Produkt und die Leute unten glauben leidenschaftlich daran.»
Auf ihrer Website erklären die Bollingers, dass sie ein Teil ihres Einkommens durch sogenanntes Affiliate-Marketing verdienen. Affiliate-Marketing ist eine weit verbreitete Praxis, bei der Leute rekrutiert werden, um ein Produkt zu bewerben. Wird ein Produkt gekauft, kann es über eine ID zur rekrutierten Person zurückgeführt werden, welche dann eine Provision dafür erhält. Die Bollingers haben eigens dafür ein Affiliate Center eingerichtet. Dieses ging allerdings offline, nachdem sich «AP» mit einigen Fragen darüber an die Bollingers gewandt hatte. Über das Internet-Archiv ist die Seite allerdings immer noch aufrufbar.
«Wir empfehlen mindestens 3 Emails zu senden, um die höchste Umwandlung [von Interessenten zu Kunden] und Provision zu erreichen», heisst es auf der Seite. «Je früher Sie Emails verschicken und auf Social Media Inhalte teilen, desto mehr werden Sie verdienen.»
Im vergangenen Oktober veranstalteten sie einen Wettbewerb, bei dem ein Preisgeld von insgesamt 40'000 US-Dollar winkte. Qualifizieren konnten sich nur diejenigen, die entweder 25'000 Kundenkontakte erreichten oder mindestens 10'000 US-Dollar Einnahmen generierten. Wie viel Geld die Bollingers tatsächlich einnehmen, ist nicht bekannt. Doch das Geld, das sie ihren Affiliate Partners ausbezahlen, dürfte ein Indikator sein: Seit dem Launch ihrer Website 2014 hätten sie über 12 Millionen Dollar an ihre Affiliate Partners ausbezahlt. Dies schreiben die Bollingers 2018 auf ihrer Website, welche über das Internet-Archiv abrufbar ist.
Vor diesem Hintergrund weist Erica DeWald von der Organisation «Vaccinateyourfamily.org» auf einen Widerspruch hin: Viele der Personen, welche Falschinformationen um Impfungen verbreiten, betonen, dass man der Pharma-Industrie nicht trauen könne – weil diese mit den Impfungen nur Geld machen wolle.
Doch genau das sei auch das Ziel derjenigen Impfgegner, die etwas zu verkaufen hätten, so Ahmed von «CCDH». Die Anti-Impf-Informationen – wenn auch wichtig – folgten erst an zweiter Stelle.
Kolina Koltai, die als Forscherin an der Universität Washington die Anti-Impf-Bewegung untersucht, betrachtet das Ganze aus einer anderen Perspektive. Sie glaubt, dass viele der Impf-Gegner:innen von der Gefahr der Impfung überzeugt sind. Gegenüber «NPR» sagt sie: «Wenn du das wirklich zu deiner Lebensaufgabe machen möchtest, muss du irgendwie ein Einkommen erzielen. Wir leben in einer kapitalistischen Gesellschaft.»
Mit der ausgedehnten öffentlichen Gesundheitskrise hätten sich neue Marketingmöglichkeiten ergeben, welche einem immer mehr Anhänger und mehr Geld bescheren. Viele Menschen seien sich einfach nicht bewusst, wie viel Geld wirklich fliesse, so DeWald von «Vaccinateyourfamily.org.»
Auch andere Impfgegner, die zum «Desinformations-Dutzend» gehören, verdienen ihr Geld über Webshops, die sie auf Social Media verlinken. So betreibt beispielsweise Joseph Mercola einen Webshop, wo er diverse Gesundheitsprodukte verkauft. Seine falschen Behauptungen über die Wirkungen seiner Produkte haben ihm über die Jahre hinweg immer wieder Ärger eingehandelt. Aufgrund einer Beschwerde der «Federal Trade Commission» musste er fast 2,6 Millionen Dollar an mehr als 1'300 Personen zurückbezahlen, berichtet «The Washington Post». Der Grund: Er hatte ihnen Solarien verkauft, von denen er behauptete, dass sie das Hautkrebsriko verringerten.
Nachdem ausführlichen Artikel der «Associated Press» über das Netzwerk der Bollingers vom 14. Mai, wurde der YouTube-Kanal von Ty Bollinger vor zwei Tagen gesperrt.