Der Genfer Staatsanwalt Yves Bertossa will für den dritten Prozess gegen Erwin Sperisen die Anklage subsidiär mit dem Punkt des Begehens eines Verbrechens durch Unterlassung ergänzen. Die Verteidigung lehnt den Antrag ab.
Das Bundesgericht habe bestätigt, dass Erwin Sperisen als damaliger Chef der Nationalen Polizei in Guatemala für die Rückeroberung des Gefängnis Pavón verantwortlich gewesen sei, sagte Bertossa vor dem Genfer Kantonsgericht.
Der Antrag sorgte für Empörung bei den beiden Verteidigern von Erwin Sperisen. Zu diesem Zeitpunkt des Verfahrens mit einer Rückweisung durch das Bundesgericht an das Genfer Kantonsgericht könne die Anklage nicht geändert werden, sagte Giorgio Campà.
Die Staatsanwaltschaft habe den Antrag erst am 10. April eingereicht und damit mehrere durch die europäische Menschenrechtskonvention garantierte Grundrechte verletzt, sagte Giorgio Campà. Gemäss der Konvention müsse der Angeklagte in möglichst kurzer Frist über die gegen ihn erhobenen Vorwürfe unterrichtet und der Verteidigung ausreichend Zeit zur Vorbereitung gegeben werden.
Die Verteidigung verlangte die Ablehnung der Erweiterung der Anklageschrift. Im Falle einer Annahme des Antrags forderte sie drei Monate Zeit für die Anpassung der Verteidigungsstrategie. «Alle 47 Bundesordner müssen neu durchgeschaut werden», sagte Campà.
Dritter Sperisen-Prozess in Genf
Die Genfer Justiz muss seit Montagmorgen die Vorwürfe gegen Erwin Sperisen, den ehemaligen Chef der Nationalpolizei von Guatemala, neu beurteilen. Das Bundesgericht hatte im Juli 2017 das Urteil mit einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe aufgehoben.
Der Fall Sperisen beschäftigt die Genfer Gerichte schon seit Jahren. Bei den Prozessen vor erster und zweiter Instanz mussten sich die Gerichte vor allem auf die Unterlagen der Uno-Kommission gegen Straflosigkeit in Guatemala (CICIG) stützen.
Die Vorwürfe drehen sich um die Operation «Pavo Real» vom 25. September 2005, mit der die Kontrolle über das Gefängnis Pavón zurückerlangt werden sollte. Dabei starben sieben Häftlinge. Rund ein Jahr zuvor waren neunzehn Inhaftierte aus der Strafvollzugsanstalt El Infiernito entwichen.
Drei von ihnen kamen am 3. November 2005 beziehungsweise am 1. Dezember 2005 zu Tode, nachdem sie von der Polizei im Rahmen der Aktion «Gavilán» gefasst worden waren. Das Genfer Kantonsgericht sprach Sperisen in allen zehn Fällen wegen Mordes schuldig.
Das Bundesgericht kritisierte im Juli das kantonale Verfahren aber in mehreren Punkten. So sei Sperisens Recht auf Konfrontation mit wichtigen Belastungszeugen bezüglich massgeblicher Fakten nicht respektiert worden.
Sperisen bestreitet alle Vorwürfe
Das Bundesgericht lehnte aber auch zahlreiche Einwände der Verteidigung von Sperisen ab, unter anderem jene, die Mutter eines bei der Operation «Pavo Real» verstorbenen Häftlings nicht als Privatklägerin zuzulassen.
Seit dem Urteil des Bundesgerichts wurde der guatemaltekisch-schweizerische Doppelbürger nach fünf Jahren im Gefängnis Champ-Dollon unter Hausarrest gesetzt. Sperisen beteuerte seither in zahlreichen Interviews seine Unschuld.
Die Anwälte Sperisens verlangten am Montag zum wiederholten Mal, dass die Privatklägerin vor Gericht aussagt und stellte auch weitere Anträge. Das Gericht zog sich um 11.15 Uhr zurück, um über die Prozessfragen zu entscheiden. Die Verhandlung ist bis 11.45 Uhr ausgesetzt. (sda)