Tony ist ein Handwerker aus Phoenix, der einem Arbeitskollegen den Lohncheck vorbeibringen will. Doch weil dieser Kollege nicht ans Telefon geht, entscheidet sich der 44-Jährige, zwei Autostöppler aus der Schweiz mitzunehmen und sie ins 200 Kilometer entfernte Tucson zu fahren – einfach so, um ihnen einen Gefallen zu machen. Auf der Fahrt durch die Wüste Arizonas erfahren meine Freundin Lea und ich Stück für Stück Tonys Lebensgeschichte. Eine unglaubliche Lebensgeschichte:
Tony wurde 1972 im Nordwesten der USA im Bundesstaat Montana geboren. Der amerikanische Ureinwohner wächst bei Adoptiveltern in einem Indianerreservat auf. Seine leiblichen Eltern lernt Tony erst viel später kennen, er findet sie über das Internet – ausgerechnet über das Internet! Denn Tony hat eine schwierige Beziehung zu Computern und dem World Wide Web: «Ich komme damit nach wie vor nicht richtig klar.»
Der Grund ist unfassbar und nachvollziehbar zugleich: Tony sass von 1991 bis 2009 im Knast. Den weltweiten Siegeszug des Internets hat er hinter den Gefängnismauern nicht mitbekommen. Auch sonst ist in Tonys Leben einiges anders verlaufen als bei den meisten Menschen: «Mein erster Flug ging vom Bundesstaat Idaho nach Texas – in ein anderes Gefängnis.» Er und ein Kumpel aus dem Knast hätten sich immer gemeldet, wenn Freiwillige gesucht wurden für eine Gefängnisumplatzierung. «So konnten wir ein bisschen reisen und mal etwas Neues sehen.»
Tony erzählt das alles, als sei es die normalste Sache der Welt. Er prahlt nicht mit seiner Vergangenheit, im Gegenteil: Er sagt mehrere Male, dass er ein Dummkopf, ein Idiot gewesen sei und viel Scheisse gebaut habe. Damit meint er Einbruch, schweren Diebstahl, schwere Körperverletzung und Drogenbesitz. Für all diese Verbrechen wurde er 1991 zu 18 Jahren Haft verurteilt – er war damals gerade einmal 19 Jahre alt.
Zunächst gibt Tony wenig Details preis über seine Zeit im Knast. Ich frage ihn deshalb vorsichtig, ob es ihm etwas ausmache, darüber zu sprechen. Er verneint – und ich lasse meiner Neugierde freien Lauf: «Wie ist das Verhältnis zu den Gefängniswärtern?» Tony: «Wenn man sich anständig verhält, hat man keine Probleme.» Ich: «Gibt es diese Gruppenbildungen nach Ethnie – Schwarze, Weisse, Latinos, Natives – wirklich, wie es in den Filmen jeweils dargestellt wird?» Tony: «Ja, aber man kommt auch ganz gut alleine zurecht. Gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen den Gruppen sind sehr selten.» Ich: «Stimmt es, dass man als kleiner Gangster ins Gefängnis geht und dann als voll ausgebildeter Verbrecher wieder rauskommt?» Tony: «Nein, das ist ebenfalls übertrieben. Bei mir war das nicht so. Ich habe mich im Knast nicht total verändert.»
Als Tony verurteilt wurde, war er bereits Vater und seine damalige Frau erneut schwanger. «Mein ältester Sohn ist jetzt 26 Jahre alt. Er arbeitet in der US-Armee und lebt in Alaska. Ich habe ihn seit sechs Jahren nicht mehr gesehen», sagt er bedrückt. Wir haken nicht weiter nach, erfahren aber, dass die Mutter von Tonys Kindern mittlerweile seine Ex-Frau ist.
Nach seiner Entlassung hat Tony eine neue Frau gefunden. «Ich kenne sie seit meiner Kindheit, sie hat vergeblich nach mir gesucht, als ich im Knast war.» Mit ihr und ihren Kindern aus erster Ehe hat Tony in Arizona ein neues Leben angefangen. Mit einem Job auf dem Bau, in einem kleinen Städtchen etwas ausserhalb von Phoenix – und vor allem weit, weit weg von seiner früheren Umgebung. «Es war wichtig, dass wir den Neustart an einem anderen Ort gemacht haben. Wenn ich zurückgegangen wäre ins alte Umfeld, dann wäre es vermutlich nicht gut gekommen.»
Lea und ich können nicht überprüfen, ob Tonys Geschichte der Wahrheit entspricht. Doch wir glauben ihm jedes Wort. Er hat ehrliche Augen, ein wunderschön herzhaftes Lachen und wirkt jederzeit echt. Zudem sieht er mit seiner gross gewachsenen, breiten Statur, den unzähligen Tattoos und dem kahlrasierten Kopf genau so aus, wie man sich einen Ex-Knacki vorstellt. Und als ihn sein Arbeitskollege endlich zurückruft, verrät uns seine Umgangssprache, dass er nach wie vor kein Kind von Traurigkeit ist.
Tony hat immer noch seine Ecken und Kanten, aber er scheint angekommen zu sein in der Gesellschaft. Er hat keinen Groll, will einfach nur ein normales Leben führen und die Vergangenheit hinter sich lassen. Lea und ich fühlen uns Tony so nahe wie kaum einem anderen Fahrer, als wir in Tucson ankommen. Wir geben ihm zum Abschied eine herzliche Umarmung und bedanken uns unzählige Male für die Fahrt sowie das interessante Gespräch. Er winkt ab und meint: «Ich habe in meinem Leben viel Scheisse gebaut. Jetzt versuche ich, der Gesellschaft etwas zurückzugeben.»
Wir haben in Boca del Rio ein Gästehaus, würden euch gerne empfangen.
Die Frisur steht Dir übrigens! Das beweist, dass es sich lohnt mal was anderes zu wagen ;-)
Danke für deine wunderschöne Berichte und viel Spass auf euer Weiterreise!