Die Euphorie war unbeschreiblich, als die Berliner Mauer am 9. November 1989 mehr zufällig als absichtlich geöffnet wurde. Weniger als ein Jahr später erfolgte die Wiedervereinigung der DDR mit der damaligen BRD. Viele Deutsche waren überzeugt, dass «jetzt zusammenwächst, was zusammengehört», wie der frühere SPD-Bundeskanzler Willy Brandt sinngemäss gesagt haben soll.
30 Jahre nach dem Mauerfall aber herrscht Ernüchterung. Im Alltag erinnert kaum noch etwas an die Spaltung Deutschlands in zwei politisch und wirtschaftlich vollkommen unterschiedliche Länder. Mental aber existiert bis heute eine Barriere zwischen West und Ost, ist man sich befremdlich fremd geblieben. Das zeigt sich selbst im Urlaub: Der Wessi fährt überspitzt gesagt nach Sylt, der Ossi nach Rügen.
Politisch zeigt sich dies am Erfolg der rechtspopulistischen Alternative für Deutschland (AfD). Im Westen hat sie sich etabliert, aber sie ist weit davon entfernt, ein Machtfaktor zu sein. Ganz anders in der ehemaligen DDR. In Brandenburg und Sachsen wird am Sonntag gewählt, in Thüringen am 27. Oktober. Die AfD wird deutlich zulegen, sie könnte in allen drei Ländern stärkste Partei werden.
Was steckt hinter dem Rechtsruck? Wie wurde DDR zu AfD? Ein Erklärungsversuch.
Nach der Wende war der Osten wirtschaftlich am Boden. Die DDR-Industrie wurde von der berüchtigten Treuhand-Anstalt «abgewickelt». Erst spät bemühte man sich, Firmen und Arbeitsplätze zu retten. Das hat in den Köpfen der Ostdeutschen Spuren hinterlassen. Heute gibt es die von Einheits-Kanzler Helmut Kohl versprochenen «blühenden Landschaften» tatsächlich.
Die Wirtschaft boomt auch im Osten. Aber die Arbeitslosigkeit ist noch immer höher als im Westen, während Löhne und Renten teilweise deutlich tiefer sind. Und trotz einer Bundeskanzlerin mit DDR-Background sind Ostdeutsche in den Spitzenpositionen von Politik, Wirtschaft und Verwaltung eine Rarität. Selbst im Osten sitzen zum grossen Teil Wessis auf den Chefsesseln.
In der DDR konnten die Menschen auch kaum Vermögen aufbauen und vererben. Viele Ostdeutsche fühlen sich deshalb noch heute als Bürger zweiter Klasse. Diese Befindlichkeit entstand teilweise schon zu Zeiten der DDR, denn selbst in den sozialistischen «Bruderländern» wurden Touristen aus der BRD mit ihrer harten D-Mark besser behandelt als DDR-Bürger.
Die Bundesrepublik erlebte nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur einen enormen wirtschaftlichen Aufschwung. Auch kulturell geriet vieles in Bewegung, es kam zu einer gesellschaftlichen Öffnung. Die totalitäre DDR hinter dem Eisernen Vorhang blieb davon unberührt. Weil sie sich per Definition als antifaschistischer Staat verstand, kam es nie zu einer richtigen Vergangenheitsbewältigung.
Bis heute fallen rechte und nationalistische Parolen im Osten auf fruchtbaren Boden. Das zeigt sich auch am Umgang mit Ausländern. Die Wirtschaftswunder-BRD holte viele Arbeitskräfte ins Land und «gewöhnte» sich an Multikulti. In der DDR hingegen gab es kaum Ausländer, weshalb die Flüchtlingskrise von 2015 im Osten als wesentlich bedrohlicher empfunden wurde als im Westen.
Allerdings erhielten viele DDR-Bürger durch Westfernsehen zumindest eine Ahnung vom Leben in der BRD. Das galt nicht für den Nordosten und den Südosten des Landes, dort konnte man weder ARD noch ZDF empfangen. Als «Tal der Ahnungslosen» wurden diese Gebiete damals bezeichnet. «Das wirkt bis heute nach», sagte der Historiker Heinrich August Winkler der «WirtschaftsWoche».
Der fehlende Zugang zum Westfernsehen sei ein Grund, warum sich die rassistische und tendenziell demokratiefeindliche Pegida in Dresden etablieren konnte, während eine ähnliche Bewegung in Leipzig am Bürgerprotest scheiterte. Auch die AfD kommt nirgends in Deutschland auf so hohe Umfragewerte wie in Sachsen und besonders in der Region Dresden.
Lange war die Linke das politische Sammelbecken für «Ostalgiker». Sie war aus der DDR-Staatspartei SED hervorgegangen. Mit Bodo Ramelow – auch ein «Westimport» – stellt sie in Thüringen den Ministerpräsidenten, den einzigen der Partei in einem deutschen Bundesland. Nun aber läuft ihr die AfD bei den Ostdeutschen zunehmend den Rang ab.
Die Gründe sind für Politbeobachter einerseits hausgemacht. Durch den Einbezug einer dominanten Figur wie des früheren SPD-Chefs Oskar Lafontaine habe die Linke ihre Ost-Identität verwässert. Hinzu kommen die erwähnten kulturellen Befindlichkeiten, die höhere Empfänglichkeit der Ostdeutschen für Ausländerfeindlichkeit und Nationalismus. Das spielt der AfD in die Hände.
Der Potsdamer Politologe Jochen Franzke bezeichnet die AfD als «eine Staubsauger-Partei, die gegenwärtig allen Protest aufsaugt». «Das Gefühl, überfahren und übergangen worden zu sein, hat viele Bürger in den neuen Bundesländern zunächst nach links, dann aber nach rechts geführt», schrieb der Staatsrechtler und Schriftsteller Bernhard Schlink («Der Vorleser») in einem Aufsatz.
Björn Höcke ist eigentlich «nur» der Chef der Thüringer AfD. Doch auch in Brandenburg und Sachsen wollen die Parteianhänger vor allem ihn erleben. Der 47-jährige frühere Geschichtslehrer ist der Star der AfD im Osten. Dabei hat er gar keine DDR-Vergangenheit. Höcke ist Rheinländer – mehr Wessi geht kaum. Nach Thüringen zog er auf der Suche nach seinem Deutschland-Ideal.
Mit Frau und vier Kindern wohnt er in einem Kaff, das jede Romantik-Kitschpostkarte zieren könnte – malerische Burgruine inbegriffen. Björn Höcke vertritt den «Flügel» in der AfD, dessen Profil man als völkisch-nationalistisch bis rechtsextrem bezeichnen kann. In dieser Deutung war die Flüchtlingswelle von 2015 keine humanitäre Krise, sondern Teil der «Umvolkung» Deutschlands.
Höcke ist eine schillernde Figur und ein Meister der Zweideutigkeit. Im Januar 2017 bezeichnete er das Holocaust-Mahnmal in Berlin als «Denkmal der Schande». Mit Schande meinte er nicht nur den Massenmord an den europäischen Juden, sondern vor allem die Existenz des Stelenfelds an bester Hauptstadtlage, das die Deutschen an das von ihnen begangene Verbrechen erinnert.
Ein Holocaust-Leugner ist Höcke nicht, aber für ihn ist der Nationalsozialismus nicht viel mehr als ein ärgerlicher Betriebsunfall in einer ansonsten glorreichen deutschen Geschichte. Als «Vogelschiss» bezeichnete ihn der AfD-Vorsitzende Alexander Gauland. Shit happens. Und jetzt abhaken und eine «erinnerungspolitische Wende um 180 Grad» (O-Ton Björn Höcke) vollziehen.
Im Wahlkampf hält sich Höcke vergleichsweise zurück und macht doch keinen Hehl aus seinen Absichten. Für Asylbewerber will er keine Willkommens-, sondern eine «Verabschiedungskultur». Offene Machtkämpfe hat er bislang gescheut. So hat Höcke noch nie für den Bundesvorstand der AfD kandidiert. Dennoch glauben Beobachter, der «Flügel» könne die Partei langfristig spalten.
Obwohl die AfD in Brandenburg, Sachsen und Thüringen deutlich zulegen wird, gilt sie als nicht regierungsfähig. In Sachsen denken CDU-Vertreter über eine Minderheitsregierung nach, die sich fallweise von der AfD unterstützen lassen würde. Gleichzeitig melden sich die Abwehrkräfte. In Dresden kam es am letzten Samstag zur Grossdemo «für Solidarität statt Ausgrenzung».
Das äussert sich auch in den jüngsten Umfragen. In Sachsen liegt die CDU nun deutlich vor der AfD. In Brandenburg hat die SPD zu ihr aufgeschlossen, und in Björn Höckes Thüringen liegt die AfD nur auf Platz drei hinter der Linken und der CDU. Von den Ergebnissen der SVP in einzelnen Schweizer Kantonen kann die AfD ohnehin nur träumen, so heikel dieser Vergleich auch sein mag.
Die wirtschaftlichen und kulturellen Differenzen zwischen Ost und West werden weiter abnehmen. Doch die Überwindung der deutschen Teilung beansprucht mehr Zeit, als die meisten Euphoriker vor 30 Jahren dachten. Sicher so viel wie die Teilung selbst, also mindestens 40 Jahre.