Kommentar
27.01.2017, 18:1409.02.2017, 14:53

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Wer hat noch nicht erlebt, wie ein junger Deutscher klagt: «Was hab ich denn mit der Massenvernichtung der europäischen Juden zu tun?» Oder einen älteren, der geplagt fragt: «Kann denn das mit den Juden nicht irgendwann mal gut sein?»
Die Debatte ist fast so alt wie das Ende des Zweiten Weltkriegs. Nicht nur der Volksmund, auch deutsche Intellektuelle diskutieren immer wieder über die «Moralkeule», vor der ein «Schlussstrich» schützen soll. Bis dato mit wenig Erfolg: Warum muss man sich an den Holocaust erinnern? Warum ist die Shoa auf immer mit Deutschland verbunden?
Stahl-Schwamm drüber!
Erst wollten die Verlierer des Angriffskrieges nicht gewusst haben, dass die jüdischen Nachbarn deportiert wurden. Die, deren Hab und Gut sie als Ausgebombte dann dankbar von ihrem NSDAP-Blockwart geschenkt bekommen haben. Sie verschlossen die Augen vor dem Grauen, dessen Ausmass die meisten wohl wirklich erst im Nachhinein realisiert haben.

Die US-Armee führt 1945 deutschen Soldaten Filme aus den Konzentrationslagern vor.bild: via Rare Historical Photos

Die Wehrmachtssoldaten aus einem anderen Winkel fotografiert.bild via rare historical photos
Wie viele der NS-Schergen sich vom 1000-jährigen Reich in die Institutionen der jungen Bundesrepublik hinüberretten konnten, wurde erst in den 50ern und 60ern klar. Der notwendigen Auseinandersetzung mit diesen bösen Geistern und der Aufarbeitung der braunen Tage verdankt Deutschland, dass dort Mord seit 1975 nicht mehr verjährt.
1998 belebte einer den Streit um Deutschlands grösste moralische Niederlage neu, von dem man es nicht erwartet hätte. Ausgerechnet bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels. Ausgerechnet in der Frankfurter Paulskirche, wo 1848 das erste deutsche Parlament tagte, bevor Preussen dem liberalen Treiben ein Ende setzte. Ausgerechnet Martin Walser ...

Die Frankfurter Nationalversammlung im Juni 1848 – Sitzung des ersten gesamtdeutschen Parlaments (Kolorierte Zeichnung von Ludwig von Elliott von 1848)bild: gemeinfrei
Walser wittert eine «Instrumentalisierung der Schande»
Der Schriftsteller wollte einen Schlussstrich unter das ziehen, was ein Adolf Hitler, ein Adolf Eichmann und ihr antisemitischer Hass den Folge-Generationen hinterlassen haben. Dabei ist Walser beileibe kein Nazi: Ausdrücklich distanzierte sich der Autor in seiner Rede von den Machenschaften historischer wie moderner Rechtsradikaler.

Schriftsteller Martin Walser (links) im Oktober 1998 bei der Preisverleihung in der Frankfurter Paulskirche. Bild: AP
Walser sagte aber auch, die Shoa dürfe nicht zu einer «Moralkeule» oder einem «Einschüchterungsmittel» verkommen: «Ich glaube entdecken zu können, dass öfter nicht das Gedenken, das Nichtvergessendürfen das Motiv ist, sondern die Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken.»
Walser hatte das Gefühl, seine Nation könne nicht mehr normal sein. Der Deutsche habe keine Vergangenheit, auf die er sich berufen könne. Ein Empfinden, das er wohl mit dem einen oder anderen Landsmann teilte: Immer dieser Holocaust, in dem scheinbar alles versinkt. Der das, was gut war, unter sich begräbt.
Treffen der Schreibtischmörder: Die Teilnehmer an der Wannsee-Konferenz 1942
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Treffen der Schreibtischmörder: Die Teilnehmer an der Wannsee-Konferenz 1942
quelle: dpa dpa-zentralbild / z5466/_britta pedersen
Eine Meinung: Ein guter Patriot ist der erste Kritiker seines eigenen Landes
Ich verstehe diese Haltung nicht: Warum sollte es so sein, dass es nur eine gute oder nur eine schlechte Vergangenheit gibt? Ist ein aufrechter Patriot nicht der erste Kritiker seiner Nation, um diese zu bewahren und zu bessern? Muss man nicht die dunklen Kapitel seines Landes kennen, um seinen Wandel zur modernen Nation einordnen und würdigen zu können?
Deutschland hat sich auf einem langen, schwierigen Weg eine Gedächtniskultur erarbeitet. Ganz im Gegensatz beispielsweise zur Türkei, die den Genozid an den Armeniern leugnet. Wie ein trotziges Kind verschliesst sich Ankara offensichtlichen historischen Tatsachen. Oder nehmen wir die USA, die ehrlicherweise einräumen müssten, dass ihre Nahost-Politik es war, die eine Iranische Revolution erst möglich gemacht hat.

Ein deutscher Reisender fotografiert im April 1915 in Kharpert, wie Osmanen Armenier abführenbild: american red cross

Iranische Revolution – Dezember 1978 in Teheran.Bild: AP
Natürlich sollen hier nicht der Holocaust, der in seinem Ausmass singulär ist, mit dem Genozid an den Armeniern oder einer Öl-Interessen unterworfenen US-Politik verglichen werden. Aber bei einem selbstkritischen Türken oder einem geschichtsbewussten Amerikaner wirkt Vaterlandsliebe doch gleich viel glaubwürdiger: Lieber ein sachliches Erinnern als jammerndes Verweigern historischer Fakten.
Aus der Geschichte für die Gegenwart lernen
Vielmehr helfen uns die Fehler von damals dabei, diese heute nicht zu wiederholen. Als etwa 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, sammelten sich die Deutschen begeistert auf den Strassen. Das Kaiserreich war zu einer wirtschaftlichen Weltmacht aufgeblüht, die 43 Jahre in Frieden gelebt hatte.

Fatale Fehleinschätzung der Lage: Deutsche Rekruten 1914 auf dem Weg an die Front. Auf dem Waggon steht «Ausflug nach Paris» und «Auf in den Kampf, mir juckt die Säbelspitze».
Die Schrecken des Krieges waren einer ganzen Generationen fremd, das nationale Selbstbewusstsein dagegen enorm. Mit Pauken und Trompeten wanderte die naive, euphorisierte Menge in den Tod. Heute geniesst Europa eine noch nie dagewesene Periode von Koexistenz und Wohlstand, während die Zeitzeugen der Shoa aussterben.
Blutbad Verdun
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Blutbad Verdun
quelle: getty images europe / sean gallup
Um der Jugend die Schrecken des Krieges und die Abgründe der KZs zumindest ansatzweise begreiflich zu machen, ist das Erinnern nötiger denn je. Die Geschichten der Überlebenden müssen aufgezeichnet und konserviert werden, um die Auseinandersetzung mit Populismus, Rassismus und Totalitarismus anzuregen.
Erinnert euch – Wehret den Anfängen!
Tut Deutschland das nicht, könnte sich Geschichte durchaus wiederholen. Während ein Martin Walser von der Shoa als «unsere Schande» sprach und vor dem Erinnern als blosse «Pflichtübung» warnte, gibt es heute Redner, die Deutschlands Schande vergessen machen wollen. Oder in deren Jargon: ausradieren.
Es ist inzwischen so weit, dass Propaganda wie aus dunkelster NS-Zeit benutzt wird, um in einer komplizierten, vernetzten Welt einfache, verlogene Konzepte unters Volk zu bringen. Die Rede ist von AfD-Mann Björn Höcke, der historische Fakten ganz unverhohlen in seinem Sinne umdeutet. «Die deutsche Geschichte wird mies und lächerlich gemach», polterte er jüngst in einer Rede.

Höcke spricht in Dresden am Mitte Januar bei einem Treffen der AfD-Nachwuchspartei.screenshot: youtube
Und mit Blick auf das Berliner Holocaust-Mahmal provozierte er: «Wir Deutschen, also unser Volk, ist das einzige Volk der Welt, das sich ein Denkmal der Schande in das Herz seiner Hauptstadt setzt.» Die dreiste Dummheit, die er bei seinem Revisionismus an den Tag legt, ist bemerkenswert, denn der Deutsche erhält dafür viel Applaus.
Beispiel gefällig? «Unsere einst geachtete Armee ist von einem Instrument der Landesverteidigung zu einer durchgegenderten, multikulturalisierten Eingreiftruppe im Dienste der USA verkommen» sagte der gelernte Gymnasiallehrer.

Rotterdam 1940 nach einer massiven Luftwaffe-Bombardierung und der anschliessenden Enttrümmerung. Landesverteidigung sieht anders aus.Bild: gemeinfrei

Warschau erlitt dieses Schicksal bereits 1939. Die Bombardierung Dresdens nennt Höcke in der rede ein «Kriegsverbrechen».bild: deutsches bundesarchiv
Rattenfänger alter Schule
Landesverteidigung? Nun ja, vielleicht ab 1944 – gezwungenermassen. Die tatsächlich für Landesverteidigung aufgestellte Bundeswehr ist seit ihrem Bestehen mit den USA verbündet. Dort dienen laut Herrn Höcke offenbar zu viele Frauen und Secondos, wobei Letztere offenbar per se niemals Deutsche sind und in die Gesellschaft integriert werden können.
Pervers, populistisch und paradox: Der rechte Politiker schliesst Menschen aus – und warnt gleichzeitig, dass der «soziale Friede durch Import fremder Völkerschaften existenziell gefährdet» sei. Die Schlagworte in seiner Rede klingen beunruhigend vertraut: Auf der einen Seite: «so genannte Antifaschisten», «wilde Horden», «kreischende, verhetzte, jugendliche Wirrköpfe», «staatsgefährdende Alt-Parteien», «kapitale Rechtsbrüche» und «willkürliches Übergehen geltender Gesetze».

Sammelbecken der national Empörten und wütenden Bürger: Pegida-Umzug Mitte Dezember 2016 in Dresden.Bild: EPA/DPA
Und weiter: «erbärmliche Apparatschiks», «erstarrter Habitus», «ungeschützte Aussengrenzen», «rechtsfreie Räume», «Amtskirchen», «Masseneinwanderung», «Gewerkschaften», «Sozialindustrie» und ein «Staat in Auflösung». Und immer wieder die Reizworte von Rechtsaussen: «Multikulti», «Gender», «Neo-Liberalismus», «Amerikanisierung» und die «One-World-Ideologen».
«Ich habe es immer wieder gepredigt: Die AfD ist die letzte friedliche Chance für unser Vaterland.»
Björn Höcke
Auf der anderen Seite: ein «unbequemer Redner», «Patrioten», «historischer Verdienst», «Fundamentalopposition (als erster Schritt zur Tat)», «Mut-Bürger», eine «Bewegungspartei» und «reine, ehrliche, bescheidene, tiefe Vaterlandsliebe».

Kalter Stratege: Björn Höcke ist klug genug, nicht die Abschaffung des Staates zu fordern, was in Deutschland den Verfassungsschutz auf den Plan rufen würde. Seine Klientel erreicht er stattdessen über verbale Umwege.Bild: Jens Meyer/AP/KEYSTONE
Wer derart vereinfacht, polarisiert und provoziert, hat es nicht weit bis zum nächsten Schritt – und dem Marsch in den Faschismus. Erst wurden in der NS-Zeit die jüdischen Mitbürger deportiert. Dann verschwanden Lesben, Schwule, Handicapierte. Dann «Kommunisten», Gewerkschafter, Feministinnen. Dann Oppositionelle, dann Andersdenkende.
Der Kampf um unsere Demokratie muss immer wieder neu ausgefochten werden. Wir sollten uns daran erinnern, an diesem Tag des Holocaust-Gedenkens, damit es morgen nicht unser Nachbar ist, der abgeholt wird. Oder wir selbst.
Tag des Gedenkens - auch an noch lebende Opfer
Am
27. Januar findet auf der ganzen Welt der Tag des Gedenkens an die Opfer der Shoa statt. Damit soll an die Millionen Opfer von Juden, Sinti, Homosexuellen, Behinderten, Zeugen Jehovas und politischen Dissidenten erinnert werden, die von den Nationalsozialisten in Deutschland ermordet wurden.
Eine besondere Rolle in diesem Gedenken spielen
die Überlebenden des Nazi-Terrors: Weltweit leben noch über 490'000 Menschen, die meist über 80 Jahre alt sind. Sie sind die letzten Zeugen der
damaligen Wirklichkeit: Sie können aufgrund ihrer Erinnerung
authentisch über die systematische Ermordung, die Ideologie der Nazis berichten.
Lehren ziehenDeshalb haben diese Menschen eine besondere Bedeutung in der Arbeit für die
Genozid-Prävention.
Auch in der Schweiz leben Menschen, die den Nazi-Terror überlebt haben. Oft haben sie sich aufgrund ihrer traumatischen Erlebnisse bis in ihr hohes Alter nicht getraut über ihr Schicksal zu sprechen.
Zudem leben viele von ihnen unter
prekären finanziellen Bedingungen. Deshalb wurde vor einigen Jahren durch Anita Winter in der Schweiz die
Gamaraal-Stiftung gegründet. Diese Stiftung unterstützt rund
80 Shoa-Überlebende. Gleichzeitig ermöglicht sie ihnen, über ihr Schicksal zu sprechen.
Zudem können sie der jungen Generation als
letzte Zeugen im Rahmen der Genozid-Prävention über Gründe und Auswirkungen der Nazi-Ideologie berichten. «Diese Begegnungen zwischen den Generationen sind ebenso berührend wie die konkrete materielle Hilfe durch die Stiftung», weiss
Anita Winter, Präsidentin Gamaraal Stiftung.
Das wurde aus der Führungsriege des «Dritten Reiches»
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Albanerinnen und Albaner beschützten im 2. Weltkrieg Juden und Jüdinnen vor den Nazis
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George Lincoln Rockwells «American Nazi Party»
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George Lincoln Rockwells «American Nazi Party»
quelle: ap / harvey georges
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