Wer hat noch nicht erlebt, wie ein junger Deutscher klagt: «Was hab ich denn mit der Massenvernichtung der europäischen Juden zu tun?» Oder einen älteren, der geplagt fragt: «Kann denn das mit den Juden nicht irgendwann mal gut sein?»
Die Debatte ist fast so alt wie das Ende des Zweiten Weltkriegs. Nicht nur der Volksmund, auch deutsche Intellektuelle diskutieren immer wieder über die «Moralkeule», vor der ein «Schlussstrich» schützen soll. Bis dato mit wenig Erfolg: Warum muss man sich an den Holocaust erinnern? Warum ist die Shoa auf immer mit Deutschland verbunden?
Erst wollten die Verlierer des Angriffskrieges nicht gewusst haben, dass die jüdischen Nachbarn deportiert wurden. Die, deren Hab und Gut sie als Ausgebombte dann dankbar von ihrem NSDAP-Blockwart geschenkt bekommen haben. Sie verschlossen die Augen vor dem Grauen, dessen Ausmass die meisten wohl wirklich erst im Nachhinein realisiert haben.
Wie viele der NS-Schergen sich vom 1000-jährigen Reich in die Institutionen der jungen Bundesrepublik hinüberretten konnten, wurde erst in den 50ern und 60ern klar. Der notwendigen Auseinandersetzung mit diesen bösen Geistern und der Aufarbeitung der braunen Tage verdankt Deutschland, dass dort Mord seit 1975 nicht mehr verjährt.
1998 belebte einer den Streit um Deutschlands grösste moralische Niederlage neu, von dem man es nicht erwartet hätte. Ausgerechnet bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels. Ausgerechnet in der Frankfurter Paulskirche, wo 1848 das erste deutsche Parlament tagte, bevor Preussen dem liberalen Treiben ein Ende setzte. Ausgerechnet Martin Walser ...
Der Schriftsteller wollte einen Schlussstrich unter das ziehen, was ein Adolf Hitler, ein Adolf Eichmann und ihr antisemitischer Hass den Folge-Generationen hinterlassen haben. Dabei ist Walser beileibe kein Nazi: Ausdrücklich distanzierte sich der Autor in seiner Rede von den Machenschaften historischer wie moderner Rechtsradikaler.
Walser sagte aber auch, die Shoa dürfe nicht zu einer «Moralkeule» oder einem «Einschüchterungsmittel» verkommen: «Ich glaube entdecken zu können, dass öfter nicht das Gedenken, das Nichtvergessendürfen das Motiv ist, sondern die Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken.»
Walser hatte das Gefühl, seine Nation könne nicht mehr normal sein. Der Deutsche habe keine Vergangenheit, auf die er sich berufen könne. Ein Empfinden, das er wohl mit dem einen oder anderen Landsmann teilte: Immer dieser Holocaust, in dem scheinbar alles versinkt. Der das, was gut war, unter sich begräbt.
Ich verstehe diese Haltung nicht: Warum sollte es so sein, dass es nur eine gute oder nur eine schlechte Vergangenheit gibt? Ist ein aufrechter Patriot nicht der erste Kritiker seiner Nation, um diese zu bewahren und zu bessern? Muss man nicht die dunklen Kapitel seines Landes kennen, um seinen Wandel zur modernen Nation einordnen und würdigen zu können?
Deutschland hat sich auf einem langen, schwierigen Weg eine Gedächtniskultur erarbeitet. Ganz im Gegensatz beispielsweise zur Türkei, die den Genozid an den Armeniern leugnet. Wie ein trotziges Kind verschliesst sich Ankara offensichtlichen historischen Tatsachen. Oder nehmen wir die USA, die ehrlicherweise einräumen müssten, dass ihre Nahost-Politik es war, die eine Iranische Revolution erst möglich gemacht hat.
Natürlich sollen hier nicht der Holocaust, der in seinem Ausmass singulär ist, mit dem Genozid an den Armeniern oder einer Öl-Interessen unterworfenen US-Politik verglichen werden. Aber bei einem selbstkritischen Türken oder einem geschichtsbewussten Amerikaner wirkt Vaterlandsliebe doch gleich viel glaubwürdiger: Lieber ein sachliches Erinnern als jammerndes Verweigern historischer Fakten.
Vielmehr helfen uns die Fehler von damals dabei, diese heute nicht zu wiederholen. Als etwa 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, sammelten sich die Deutschen begeistert auf den Strassen. Das Kaiserreich war zu einer wirtschaftlichen Weltmacht aufgeblüht, die 43 Jahre in Frieden gelebt hatte.
Die Schrecken des Krieges waren einer ganzen Generationen fremd, das nationale Selbstbewusstsein dagegen enorm. Mit Pauken und Trompeten wanderte die naive, euphorisierte Menge in den Tod. Heute geniesst Europa eine noch nie dagewesene Periode von Koexistenz und Wohlstand, während die Zeitzeugen der Shoa aussterben.
Um der Jugend die Schrecken des Krieges und die Abgründe der KZs zumindest ansatzweise begreiflich zu machen, ist das Erinnern nötiger denn je. Die Geschichten der Überlebenden müssen aufgezeichnet und konserviert werden, um die Auseinandersetzung mit Populismus, Rassismus und Totalitarismus anzuregen.
Tut Deutschland das nicht, könnte sich Geschichte durchaus wiederholen. Während ein Martin Walser von der Shoa als «unsere Schande» sprach und vor dem Erinnern als blosse «Pflichtübung» warnte, gibt es heute Redner, die Deutschlands Schande vergessen machen wollen. Oder in deren Jargon: ausradieren.
Es ist inzwischen so weit, dass Propaganda wie aus dunkelster NS-Zeit benutzt wird, um in einer komplizierten, vernetzten Welt einfache, verlogene Konzepte unters Volk zu bringen. Die Rede ist von AfD-Mann Björn Höcke, der historische Fakten ganz unverhohlen in seinem Sinne umdeutet. «Die deutsche Geschichte wird mies und lächerlich gemach», polterte er jüngst in einer Rede.
Und mit Blick auf das Berliner Holocaust-Mahmal provozierte er: «Wir Deutschen, also unser Volk, ist das einzige Volk der Welt, das sich ein Denkmal der Schande in das Herz seiner Hauptstadt setzt.» Die dreiste Dummheit, die er bei seinem Revisionismus an den Tag legt, ist bemerkenswert, denn der Deutsche erhält dafür viel Applaus.
Beispiel gefällig? «Unsere einst geachtete Armee ist von einem Instrument der Landesverteidigung zu einer durchgegenderten, multikulturalisierten Eingreiftruppe im Dienste der USA verkommen» sagte der gelernte Gymnasiallehrer.
Landesverteidigung? Nun ja, vielleicht ab 1944 – gezwungenermassen. Die tatsächlich für Landesverteidigung aufgestellte Bundeswehr ist seit ihrem Bestehen mit den USA verbündet. Dort dienen laut Herrn Höcke offenbar zu viele Frauen und Secondos, wobei Letztere offenbar per se niemals Deutsche sind und in die Gesellschaft integriert werden können.
Pervers, populistisch und paradox: Der rechte Politiker schliesst Menschen aus – und warnt gleichzeitig, dass der «soziale Friede durch Import fremder Völkerschaften existenziell gefährdet» sei. Die Schlagworte in seiner Rede klingen beunruhigend vertraut: Auf der einen Seite: «so genannte Antifaschisten», «wilde Horden», «kreischende, verhetzte, jugendliche Wirrköpfe», «staatsgefährdende Alt-Parteien», «kapitale Rechtsbrüche» und «willkürliches Übergehen geltender Gesetze».
Und weiter: «erbärmliche Apparatschiks», «erstarrter Habitus», «ungeschützte Aussengrenzen», «rechtsfreie Räume», «Amtskirchen», «Masseneinwanderung», «Gewerkschaften», «Sozialindustrie» und ein «Staat in Auflösung». Und immer wieder die Reizworte von Rechtsaussen: «Multikulti», «Gender», «Neo-Liberalismus», «Amerikanisierung» und die «One-World-Ideologen».
Auf der anderen Seite: ein «unbequemer Redner», «Patrioten», «historischer Verdienst», «Fundamentalopposition (als erster Schritt zur Tat)», «Mut-Bürger», eine «Bewegungspartei» und «reine, ehrliche, bescheidene, tiefe Vaterlandsliebe».
Wer derart vereinfacht, polarisiert und provoziert, hat es nicht weit bis zum nächsten Schritt – und dem Marsch in den Faschismus. Erst wurden in der NS-Zeit die jüdischen Mitbürger deportiert. Dann verschwanden Lesben, Schwule, Handicapierte. Dann «Kommunisten», Gewerkschafter, Feministinnen. Dann Oppositionelle, dann Andersdenkende.
Der Kampf um unsere Demokratie muss immer wieder neu ausgefochten werden. Wir sollten uns daran erinnern, an diesem Tag des Holocaust-Gedenkens, damit es morgen nicht unser Nachbar ist, der abgeholt wird. Oder wir selbst.