In Bangladesch gibt es Wasser. Sehr viel Wasser. Das ist gut für die Landwirtschaft und gut für die Menschen. Seit einigen Jahren aber führt es insbesondere im Süden des Landes zu immer grösseren Problemen.
Jürg Keim, Mediensprecher von UNICEF Schweiz und Liechtenstein, war kürzlich in einem Slum im Süden Bangladeschs. Im Gespräch mit watson lässt er uns an seinen Erfahrungen teilhaben, erzählt von den Problemen vor Ort und erklärt, wie UNICEF in den Slums konkret helfen kann.
Um die Probleme in Bangladesch verstehen zu können, ist zunächst ein Verständnis der geologischen Gegebenheiten notwendig. Das Land in Südasien ist mit einer Fläche von 147'570 km² 3.5-mal grösser als die Schweiz, hat aber fast 20-mal so viele Einwohner – 171 Millionen, um genau zu sein. Damit ist es eines der am dichtesten besiedelten Länder der Welt.
Das ist umso eindrücklicher, wenn man bedenkt, dass fast 10 Prozent der Landfläche permanent mit Wasser bedeckt sind. Grund dafür ist die Lage Bangladeschs am grössten Flussdelta der Welt: dem Ganges-Delta. Dort fliessen die Hauptflüsse Brahmaputra, Ganges und Meghna zusammen und bilden ein Mündungsgebiet von etwa 100'000 km², welches sich hauptsächlich über Indien und Bangladesch erstreckt.
Fast zwei Drittel der Fläche Bangladeschs liegt in diesem Flussdelta. Dies hat zur Folge, dass die meisten Gebiete weniger als 10 Meter über dem Meeresspiegel und 10 Prozent der Landfläche sogar 1 Meter darunter liegen.
Weil der Boden in Flussdeltas als sehr fruchtbar gilt, ist das Delta in Bangladesch dicht besiedelt und wird rege zur Landwirtschaft genutzt.
Die Nähe zum Wasser hat allerdings auch eine Kehrseite: Bangladesch ist dem steigenden Meeresspiegel gnadenlos ausgesetzt. Gemäss Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern könnte Bangladesch bis 2050 17 Prozent seiner Landfläche verlieren. Bis zu 20 Millionen Menschen müssten dadurch eine neue Heimat suchen.
Doch das ist bloss eine der Folgen des Klimawandels. Während Bangladesch in der Vergangenheit alle fünf Jahre von Zyklonen heimgesucht worden sei, ziehe der tropische Wirbelsturm mittlerweile jedes Jahr über das Land und richte teils massiven Schaden an, erzählt Mediensprecher Jürg Keim.
Auch die jährlichen Monsunniederschläge zwischen Juni bis Mitte Oktober machen der Bevölkerung zu schaffen. Dass es während dieser Zeit zu Überschwemmungen kommt, ist zwar üblich, doch das Ausmass ist in den letzten Jahren immer weiter gestiegen.
Dies bringt weitere Probleme mit sich. Denn wo es viel stehende Gewässer gibt, gibt es Mücken und wo es Mücken gibt, gibt es übertragbare Krankheiten. Bangladesch kämpft derzeit mit einem Ausbruch des Denguefiebers in einem noch nie gesehenen Ausmass. Seit Jahresbeginn verzeichnete die Regierung 200'000 Fälle von Denguefieber.
1000 Menschen sind in diesem Jahr bereits an der Krankheit gestorben – im gesamten vergangenen Jahr waren es 281. Laut der WHO breiten sich von Stechmücken übertragene Krankheiten wegen des Klimawandels immer schneller und weiter aus. Gemäss dem Global Climate Risk Index belegt Bangladesch den siebten Platz der Länder mit extremem Katastrophenrisiko. Am härtesten trifft das die Menschen in den vielen Slums der Deltaregion.
Gemäss Daten der Weltbank lebten 2020 52 Prozent der Population Bangladeschs in Slums. Unter einem Slum versteht man ein verwahrlostes Viertel in Stadtnähe, das oftmals überfüllt und durch mangelhafte Infrastruktur gekennzeichnet ist.
Im Rahmen der Sternenwochen von UNICEF hat Jürg Keim im vergangenen Juni zwei Slums besucht – einer davon war der Slum Bastuhara, wobei Bastuhara so viel bedeutet wie «jemand, der seine Heimat verloren hat». Dieser Slum ist einer von 300 anderen Slums, der um die Metropole Khulna liegt. Von den 1,5 Millionen Einwohnern im Grossraum Khulna leben rund ein Drittel in den Slums.
Keim und sein Team erreichten Bastuhara innerhalb von vier Stunden (bei günstiger Verkehrslage, wie er betonte) von der Hauptstadt Dhaka aus. Ihre Reise fiel genau in die Monsunzeit, doch das Wetter zeigte sich von seiner guten Seite und sie erreichten den Slum bei Sonnenschein. Der Monsun hatte allerdings seine Spuren hinterlassen: Teile des Slums standen noch immer unter Wasser. Es könne Tage dauern, bis das Wasser nach einem Regen abfliesse, erzählt Keim.
Während es an anderen UNICEF-Standorten, wie beispielsweise Madagaskar, an Wasser mangelt, gibt es in den Slums rund um Khulna zu viel – zumindest ist die lokale Infrastruktur nicht entsprechend ausgebaut, was für allerlei Probleme sorgt.
Die Menschen in Bastuhara haben weder genügenden Zugang zu sauberem Trinkwasser noch ein ausreichendes Sanitärsystem. Zwei Faktoren, die sich negativ auf die Gesundheit der Slumbewohner niederschlagen.
Im Slum von Bastuhara findet man Toiletten – so wie man sie bei uns kennt – nur in sehr wenigen Behausungen vor. Wie Keim erklärt, gebe es hauptsächlich Plumpsklos, welche in der Regel von etwa 20 Personen geteilt würden. Eine Umfrage von Forschenden der Europan University of Bangladesh im Bastuhara-Slum hat ergeben, dass 58 Prozent der Familien ein Plumpsklo mit Tank und 17,33 Prozent ein Plumpsklo über einer offenen Grube benutzen. Andere haben weder noch. Die Forschenden betonen:
Während bei den Gemeinschaftstoiletten die menschlichen Ausscheidungen in einem kleinen Tank aufgefangen werden, gelangen sie bei kleineren Plumpsklos direkt in den Kanal oder Fluss. Gemäss den Forschenden bestünde eines der Hauptprobleme darin, dass sich die meisten Brunnen nicht weiter als 10 Meter von den kleinen Plumpsklos entfernt befänden, was zur Verunreinigung des Grundwassers führe.
Auch wenn die Gemeinschaftsplumpsklos in dieser Hinsicht hygienischer sind, bringen sie andere Probleme mit sich: So quellen sie bei Starkregen oft über, wodurch sich ihr ganzer Inhalt über die Strassen verteilt. Verschlimmert wird diese Situation noch durch die schlechte Entwässerung im Slum. Da die Menschen ihren Abfall bislang nicht überall richtig entsorgen können, werfen sie ihn in die Kanäle, wo er die Abflüsse verstopft. «Überall hat es Plastikabfall», erzählt Keim.
Dadurch werde die Umwelt noch mehr verschmutzt und das Wasser bleibe länger liegen. Dies führt bei den Slumbewohnerinnen und -bewohnern zu diversen Krankheiten, wie die Forschenden der European University in Dhaka feststellten. Eine statistische Erhebung über einen Zeitraum von drei Monaten unter 800 Slumbewohnerinnen und -bewohnern, die für alltägliche Zwecke hauptsächlich Wasser aus dem Kanal verwendeten, zeigte: Von 800 Menschen litten 200 an Durchfall, 216 an Dysterie (Darmentzündung), 144 an Gelbsucht und 240 an Typhus.
Diese Beobachtung hat auch Jürg Keim gemacht:
Dies führe neben Magendarmbeschwerden auch zu Hautausschlägen und Parasiten.
In Bastuhara gibt es drei Arten von Wasser: das Grund-, das Leitungs- und das Oberflächenwasser. Während Oberflächenwasser aufgrund der Lage im Flussdelta im Überfluss vorhanden ist, ist es für den Konsum und Alltagszwecke unbrauchbar. Zum Waschen und Kochen brauchen die Menschen Leitungswasser, welches von einem Silo über grosse Leitungen in die Slums gepumpt wird.
Das Grundwasser, welches die Menschen trinken, wird derweil mittels Wasserpumpen an die Oberfläche gepumpt. Obwohl dies das sauberste Wasser sei, zu dem sie Zugang hätten, sei es eigentlich nicht wirklich trinkbar, erklärt Mediensprecher Keim. Durch den steigenden Meereswasserspiegel, der auf das Grundwasser drücke, werde es salzhaltig. Dies sorgt für allerlei Probleme wie Fehlgeburten, Atemwegserkrankungen sowie einen höheren Blutdruck.
Sauberes Trinkwasser in den Slums von Bangladesch ist eng an die Qualität des Sanitätssystems geknüpft. Aus diesem Grund wollen sie im Rahmen des UNICEF-WASH-Programms (Water, Sanitation and Hygiene) kleine Kläranlagen bauen, erklärt Keim.
Das alleine reicht aber noch nicht aus. Die häufigen Überschwemmungen fordern auch logistische Lösungen: So würden neue Toiletten erhöht gebaut, damit sie bei starkem Regen nicht sofort überlaufen.
Eine Taktik, welche einige Familien auch im Alltag anwenden. Sie stellen ihre Möbel auf Ziegelsteine, damit das Holz nicht morsch wird. Denn wie Keim betont: «Nichts ist dicht.»
Für die Trinkwasserversorgung der Bevölkerung müssten mehr Wasseraufbereitungsanlagen installiert werden. Diese filtern das Wasser, um die Wasserqualität zu verbessern. Auch mehr Leitungssysteme seien nötig, damit mehr Familien Zugang zu sauberem Wasser haben. Viele hätten zwar Pumpen oder Hähne, würden dadurch aber nur mit kontaminiertem Wasser versorgt.
Die Beobachtungen vor Ort, der Kontakt mit den Menschen, all das berührt den Mediensprecher:
Er erinnert sich an ein Mädchen, das er getroffen hat. Es erzählte ihm von seinem wertvollsten Besitz: Schulbücher. Eine ihrer grössten Aufgaben besteht darin, diese trocken zu halten. Die Kinder, so Keim, hätten trotz allem Träume und Hoffnungen. Viele von ihnen wollen Ärzte oder Lehrerinnen werden. Er findet das beeindruckend, auch wenn er befürchtet, dass mancher Traum dieser Kinder unerfüllt bleiben wird.
Genau diese Tatsache ist es, die ihn antreibt:
Das spürt auch die Bevölkerung. Ihre Dankbarkeit für die UNICEF-Einsätze vor Ort ist gross und in Keims Worten schwingt ein Gefühl der Erfüllung mit, als er sagt: