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Interview

«Briten und Schweizer überschätzen ihre Bedeutung für die EU»: Wahlschweizer Diccon Bewes über den Brexit

Schlagzeile am Tag vor der Schicksalsabstimmung in der Londoner U-Bahn (22.06.2016).
Schlagzeile am Tag vor der Schicksalsabstimmung in der Londoner U-Bahn (22.06.2016).Bild: RUSSELL BOYCE/REUTERS
Interview

«Briten und Schweizer überschätzen ihre Bedeutung für die EU»: Wahlschweizer Diccon Bewes über den Brexit

Heute gilt es ernst, das Vereinigte Königreich stimmt über Austritt oder Verbleib in der EU ab. Aus der Schweiz fiebert der britische Buchautor Diccon Bewes mit. Im Interview erklärt er seine Enttäuschung über den Abstimmungskampf und die zahlreichen Gemeinsamkeiten – und Unterschiede zum EU-Krampf der Schweiz.
23.06.2016, 09:3323.06.2016, 09:59
Kian Ramezani
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Mit welchem Resultat rechnen Sie?
Diccon Bewes: Schwer zu sagen. Das Resultat, das ich mir erhoffe, ist natürlich eine Mehrheit für den Verbleib Grossbritanniens in der EU. Das Resultat, das ich erwarte, hat sich in den vergangenen Tagen verändert. Noch letzte Woche hätte ich auf «Leave» getippt, inzwischen glaube ich eher an «Remain». Vielleicht werden ein paar Tausend Stimmen den Ausschlag geben, wie hier vor zwei Jahren bei der MEI.

Diccon Bewes.
Diccon Bewes.
bild: zvg

Was wäre ausschlaggebend für diese knappe Mehrheit für den Verbleib?
Ich glaube, viele Leute stören sich zunehmend daran, dass die Brexit-Befürworter keinen Plan für die Zeit danach haben. Die bestreiten das nicht einmal, sondern behaupten, die Regierung brauche einen Plan, nicht sie. Ukip-Chef Nigel Farage sagte kürzlich unumwunden, sein einziges Ziel sei der Austritt aus der EU. Für viele Briten ist das einfach nicht gut genug. Zu viele offene Fragen.

«Was für eine alberne Aussage: Wir haben keinen Plan, dafür haben wir Vertrauen. Ein bisschen wie eine Papstwahl!»

Zum Beispiel?
Was passiert mit der Wirtschaft? Was mit der Zuwanderung? Mit den drei Millionen EU-Bürgern im Land? Mit den 1,5 Millionen Briten in anderen EU-Ländern? Das Leave-Lager beantwortet diese Fragen nicht und ist sich nicht einmal untereinander einig, wie denn der Idealzustand nach einem Austritt aussehen würde. Ausser, dass alles ganz toll wird.

Manche glauben, Grossbritannien werde wie die Schweiz.
Ja, oder Norwegen oder Kanada oder etwas völlig Neues. Schön und gut. Aber man kann doch den Bürgern nicht im Ernst zumuten, aufgrund solch vager Hoffnungen abzustimmen. Der konservative Abgeordnete Michael Gove sagt, er habe Vertrauen in die britische Bevölkerung und es werde schon funktionieren. Was für eine alberne Aussage: Wir haben keinen Plan, dafür haben wir Vertrauen. Ein bisschen wie eine Papstwahl!

Auch der Ex-Bürgermeister von London und Brexit-Befürworter Boris Johnson operiert mit der 350-Millionen-Zahl.
Auch der Ex-Bürgermeister von London und Brexit-Befürworter Boris Johnson operiert mit der 350-Millionen-Zahl.
Bild: DARREN STAPLES/REUTERS

Eigentlich ein ermutigendes Zeichen: Viele britische Stimmbürger sind nicht bereit, sich in dieser sehr emotionalen Frage ausschliesslich von Emotionen leiten zu lassen?
Das kann man so sehen. Sorgen bereitet mit der Umstand, dass durchaus auch mit Fakten argumentiert wird – diese aber nachweislich falsch sind. Das Leave-Lager behauptet, dass London pro Woche 350 Millionen Pfund nach Brüssel überweist. Dass EU-Migranten hauptsächlich für die Engpässe im Gesundheitswesen verantwortlich sind. Dass die Türkei 2020 der EU beitritt. Alles Lügen. Doch weil sie so oft wiederholt wurden, glauben nun viele daran.

Gemäss allen Umfragen ist ein beachtlicher Teil der Stimmberechtigten noch unentschieden. Glauben Sie, dass die Ermordung der Brexit-Gegnerin und Labour-Abgeordneten Jo Cox ihre Meinungsbildung beeinflussen wird?
Ich denke schon. Schon nur deshalb, weil der Abstimmungskampf abrupt zum Stillstand kam, als das Leave-Lager an Momentum gewann. Davon abgesehen hat diese schreckliche Tat Bürger und Politiker gezwungen, einen Schritt zurück zu tun und zu erkennen, dass es ein sehr negativer Abstimmungskampf gewesen ist. Wenn man den Leuten unablässig erzählt, dass das Land von Einwanderern überrannt wird, die den Einheimischen die Jobs wegnehmen, die Sozialwerke überstrapazieren und Grossbritannien zerstören, dann ist das ein sehr gefährliches Spiel. Natürlich ist der Attentäter verrückt. Aber seine Tat ist auch das Produkt eines hasserfüllten Klimas.

Am selben Tag, als Jo Cox ermordet wurde, stellte Ukip-Chef Nigel Farage ein neues Poster vor, das von vielen Seiten als fremdenfeindlich kritisiert wird.
Am selben Tag, als Jo Cox ermordet wurde, stellte Ukip-Chef Nigel Farage ein neues Poster vor, das von vielen Seiten als fremdenfeindlich kritisiert wird.
Bild: FACUNDO ARRIZABALAGA/EPA/KEYSTONE

Aus der Schweiz, wo jährlich über ein Dutzend Fragen abgestimmt wird, könnte man einwerfen, Grossbritannien ist vielleicht einfach nicht sehr geübt in Referenden.
Das könnte man, auch wenn es etwas oberlehrerhaft wäre. Auch in der Schweiz gibt es bedenkliche Abstimmungskämpfe. Aber die gehässigen Debatten finden in Grossbritannien in der Regel im Parlament statt, nicht in der Bevölkerung. Aufgrund unserer fehlenden Erfahrung mit der direkten Demokratie wird es im Anschluss auch schwierig, die beiden Lager wieder miteinander zu versöhnen, und zwar unabhängig davon, wer gewinnt. Was man sagen kann, ist, dass zwei der bislang drei nationalen Referenden im Vereinigten Königreich das Verhältnis zu Europa betrafen. Die Frage spaltet das Land, quer durch die Parteien, und das schon seit geraumer Zeit. Die Frage kommt immer wieder.

«Wir haben kein Empire mehr, in Europa herrscht Frieden. Wir müssen eine neue Rolle finden, aber wir wissen nicht, welche.»

Eigentlich auch wie bei uns. Warum ist das britische Verhältnis zu Europa so schwierig?
Einer der Schlüssel zu dieser Frage liegt zweifellos in unserer Geschichte. Bis zur Triple Entente von 1905 (Bündnis mit Frankreich und Russland) hielt sich Grossbritannien aus den Europäischen Angelegenheiten heraus. Unsere «Splendid Isolation» gebot, nur dann einzugreifen, wenn eine einzelne Macht auf dem Kontinent zu stark wurde. Egal, ob es sich dabei um Napoleon oder den deutschen Kaiser handelte. Man könnte also sagen, dass die letzten 100 Jahre in starkem Kontrast zu den vorhergehenden 900 Jahren britischer Geschichte stehen. Aber eben, die Welt hat sich verändert. Wir haben kein Empire mehr, in Europa herrscht Frieden. Wir müssen eine neue Rolle finden, aber wir wissen nicht welche.

Selbst EU-Befürworter in Grossbritannien meinen Kontinentaleuropa, wenn sie von «Europa» sprechen.
Ja, unsere Mentalität ist einfach eine andere. Ähnlich wie in der Schweiz, wo auch viele der Meinung sind, die Vorgänge in der EU gingen sie nichts an. Auch hier liegt diese Haltung zum Teil in der Geschichte und in der Geografie begründet. Während die Briten vom Meer umgeben sind, sind es in der Schweiz die Berge.

Die Ähnlichkeiten hören allerdings bei der Bedeutung für die EU auf. Während unser Streit mit der Union vor allem uns selbst beschäftigt, stellt ein Austritt Grossbritanniens eine existenzielle Gefahr für sie dar.
Die Schweiz hat in der Tat diesen Luxus, dass sie beitreten kann oder es bleiben lässt – für die EU ist der Unterschied nicht gewaltig. Bislang konnte sie von vielem profitieren, ohne selbst dabei zu sein. Aber wer weiss, wie lange das noch gilt: Vielleicht kommt es wegen der MEI auch zum grossen Bruch. Ein Austritt Grossbritanniens wäre hingegen fatal, vor allem zum jetzigen Zeitpunkt, wo die Union ohnehin instabil ist. Auch in anderen Mitgliedsländern drängen populistische Parteien auf einen Austritt. Ein Brexit würde ihnen Auftrieb geben. Ironischerweise überschätzen gewisse Briten – ebenso wie gewisse Schweizer – die wirtschaftliche Bedeutung ihres Landes für die EU.

Wie meinen Sie das?
Die Schweizer glauben, ihre Pässe und Tunnels seien unverzichtbar und die Briten glauben, irgendwohin müssen die Deutschen doch ihre BMWs verkaufen.​

David Cameron im Remain-Abstimmungskampf.
David Cameron im Remain-Abstimmungskampf.
Bild: POOL/REUTERS
«Es gibt ein bisschen Schadenfreunde gegenüber der EU, weil sich die Schweizer zum Teil in der Position Grossbritanniens wiedererkennen.»

Sie haben bis jetzt vor allem das Leave-Lager kritisiert. Aber irgendwie haben auch die EU-Befürworter keinen guten Eindruck hinterlassen.
Das Remain-Lager hat ein grosses Problem, und das sind die Konzessionen, die Premierminister David Cameron der EU abringen wollte. Niemand glaubt, dass ihm das gelungen ist. Wenn sich Nigel Farage und Boris Johnson für bessere Unterhändler halten, dann sollte Cameron die beiden im Fall einer Niederlage nach Brüssel schicken, um die künftigen Beziehungen zur EU auszuhandeln. Die Zwei sind überzeugt, dass Grossbritannien den Zugang zum Binnenmarkt behalten darf, ohne im Gegenzug den freien Personenverkehr zu gewähren. Das wird natürlich nicht passieren ...

… wie in der Schweiz, wo die SVP die EU-relevanten Departemente EDA und EJPD meidet. Wie nehmen Sie die Brexit-Debatte hierzulande wahr?
Es gibt ein bisschen Schadenfreunde gegenüber der EU, weil sich die Schweizer zum Teil in der Position Grossbritanniens wiedererkennen. Nur ein bisschen, denn eigentlich wissen sie, dass eine geschwächte EU in niemandes Interesse ist, schon gar nicht ihrem. Die EU ist mit Abstand der wichtigste Handelspartner der Schweiz. Gleichzeitig gibt es selbst bei EU-Befürwortern diese Vorstellung, dass Grossbritannien die EFTA als Gegengewicht zur EU wiederbeleben könnte. Eine interessante, aber letztlich doch ziemlich unrealistische Vorstellung.

Sie haben es gesagt, zwei von drei nationalen Referenden in Grossbritannien betrafen Europa. Wann kommt also das Nächste?
Bei einem Remain ist es eine Frage der Zeit, bis das Thema wieder aufs Tapet kommt. Für den Fall eines Leave hat David Cameron ein weiteres Referendum ausgeschlossen – aber wer kann das schon mit Sicherheit sagen. Zumal diese Referenden ja nicht rechtlich bindend, sondern rein konsultativ sind. Wenn Leave knapp gewinnt und sich später die Austrittsverhandlungen als schwierig herausstellen, ist nicht auszuschliessen, dass die Regierung die Verantwortung erneut an die die Bevölkerung delegiert.

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55 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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TodosSomosSecondos
23.06.2016 10:10registriert April 2016
Die EU soll das endlich zum Anlass nehmen sich zu reflektieren und zu reformieren. Die Verträge von Lissabon sind für ungültig zu erklären und einen Prozess zur Demokratisierung der Instiutionen ist einzuleiten und dann können wir in 10 Jahren auch beitreten und gut ist.
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Theor
23.06.2016 11:42registriert Dezember 2015
Mein Dozenten sagte mir vor fünf Jahren einmal, die EU würde das Volksverständnis von Europa total umkrempeln. Dass wir in ein paar Jahren nicht mehr sagen würden "Ich bin Deutscher" - "Ich bin Franzose" sondern alle nur noch "Ich bin ein EU-Bürger".

Ich fand es damals schon naiv (obwohl er sonst ein kluger Mann war) und wenn ich mir den jetzigen Scherbenhaufen ansehe, fühle ich mich so bestätigt wie noch nie. Die Flüchtlingskriese beweist, wie sehr alle noch "Deutsche" und "Franzosen" sind und eben keine gemeinsame EU. Nur die Wirtschaft wurde kontinental, die Herzen blieben national.
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Realtalk
23.06.2016 10:28registriert Dezember 2014
Und die "Remainer" operieren mit Angstmacherei. Auch nicht das Gelbe vom Ei.
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