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Naher Osten

Karten zu Syrien: Religion, Ethnien, Schiitischer Halbmond

7 Karten zu Syrien, die du kennen musst

09.12.2024, 20:4910.12.2024, 14:38
Daniel Huber
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In nur gerade zehn Tagen ist es den verbündeten syrischen Rebellengruppen gelungen, das Assad-Regime in Damaskus zu stürzen – fast 14 Jahre nach Beginn des Bürgerkriegs und nach mehr als 50 Jahren Herrschaft des Assad-Clans über Syrien. Diese sieben Karten helfen dabei, die Vorgänge in Syrien zu verstehen.

Die aktuelle Lage

Nach dem überraschend schnellen Sieg der Rebellen stellt sich die Frage, wie sie das Land umformen werden. Bisher wurde ihr Bündnis einzig durch die Feindschaft gegenüber dem Assad-Regime zusammengehalten. Dies sind die Hauptgruppierungen der siegreichen Opposition:

  • Das Rebellenbündnis wird von der islamistischen Gruppe Hayat Tahrir al-Scham (HTS) angeführt, deren Anführer sich derzeit moderat gibt. Die HTS hatte allerdings früher Verbindungen zur Terrororganisation Al-Kaida und auch zum «Islamischen Staat» (IS), sagte sich aber später von diesen los. Sie beherrscht derzeit den Süden und Westen Syriens.
  • An der türkisch-syrischen Grenze hat die Türkei Pufferzonen errichtet. Hier dominiert die Syrische Nationale Armee (SNA), die von Ankara unterstützt wird. Sie kämpfte in der Vergangenheit sowohl gegen den «Islamischen Staat» wie gegen kurdische Milizen des Autonomiegebiets Rojava – dies ganz im Sinne der Türkei, die die Entstehung eines kurdischen Staates unbedingt verhindern will.
  • Im Norden und Nordosten dominieren die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), angeführt von den kurdischen Volksverteidigungseinheiten des Autonomiegebiets Rojava. Sie werden von den USA unterstützt.
  • In der dünn besiedelten Region Zentralsyriens hat der «Islamische Staat», der 2019 in Syrien nahezu vollständig zerschlagen war, wieder einige Gebiete unter seine Kontrolle bringen können.

Religionen und Ethnien

Da die einzelnen Bevölkerungsgruppen Syriens sich über ihre Muttersprache und ihre religiöse Zugehörigkeit definieren, überlappen sich religiöse und ethnische Kategorien oft. Die weitaus grösste Bevölkerungsgruppe bilden die Araber, gefolgt von den Kurden, die knapp zehn Prozent der Bevölkerung stellen. Daneben gibt es Minderheiten von Armeniern, Turkmenen und Tscherkessen. Die Aramäer und Assyrer (Suryoye), die seit Jahrtausenden in der Region leben und zwischen 900'000 und 1,2 Millionen Menschen zählen, sind mittlerweile zum grössten Teil in die arabische Bevölkerung assimiliert und sprechen vorwiegend Arabisch.

Die sunnitischen Muslime stellen knapp drei Viertel der Bevölkerung, während Schiiten und Ismailiten nur kleine Minderheiten sind. Weitere rund zwölf Prozent stellen die Alawiten oder Nusairier, die meist dem schiitischen Spektrum des Islams zugeordnet, aber nicht von allen islamischen Strömungen als Muslime anerkannt werden. Der Assad-Clan, der selbst zu den Alawiten gehört, rekrutierte die Spitzen des syrischen Staates vornehmlich aus dieser Gruppe. Die Alawiten profitierten wie andere religiöse Minderheiten von der relativen Toleranz des Regimes; wie andere Minderheiten befürchten sie, dass sie nun durch die sunnitische Mehrheit unterdrückt werden könnten.

Die Christen unterschiedlicher Konfessionen, die noch um 1920 etwa 30 Prozent der Bevölkerung ausmachten, stellen inzwischen nur noch etwa 10 Prozent der Bevölkerung. Ihre Feiertage sind in Syrien anerkannt.

Etwa vier Prozent der Syrer sind arabischsprachige Drusen. Die meisten muslimischen Gelehrten betrachten sie nicht als Muslime. Die kurdischsprachigen Jesiden, die in Syrien lediglich eine kleine Minderheit stellen, betrachten sich zum Teil als eigene Ethnie. Sie praktizieren eine eigene monotheistische Religion. Viele von ihnen sind aus Syrien geflüchtet, da sie insbesondere durch den «Islamischen Staat» gnadenlos verfolgt werden.

«Schiitischer Halbmond»

Der weitaus überwiegende Teil der Muslime ist sunnitisch, doch in einigen Regionen des Nahen Ostens stellen die Schiiten die Mehrheit. Diese Gebiete werden oft unter der Bezeichnung «schiitischer Halbmond» zusammengefasst. Dazu zählen mehrheitlich schiitische Staaten wie der Iran, der Irak, der Libanon und Bahrain. Auch der Jemen, der eine starke schiitische Minderheit aufweist, wird oft zum schiitischen Halbmond gerechnet. Aserbaidschan hingegen wird trotz schiitischer Bevölkerungsmehrheit meist nicht dazugezählt, da es stark laizistisch geprägt ist.

Syrien wiederum hat keine starke schiitische Minderheit, sondern ist überwiegend sunnitisch. Doch da das Assad-Regime sich vorwiegend aus den Reihen der Alawiten rekrutierte, die oft als Teil der Schiiten betrachtet werden, gehörte Syrien zumindest in geostrategischer Hinsicht ebenfalls zum schiitischen Halbmond. Als Teil der antiisraelischen «Achse des Widerstands» (siehe unten) war Syrien bisher ein wichtiger Verbündeter der schiitischen Vormacht Iran. Mit dem Fall des Regimes wird sich dies ändern.

«Achse des Widerstands»

Die sogenannte Achse des Widerstands, ein vom Mullah-Regime im Iran orchestriertes antiisraelisches Bündnis von überwiegend schiitischen arabischen Kräften, umfasste neben der Hisbollah im Libanon, schiitischen Milizen im Irak, der Huthi-Miliz im Jemen und der sunnitischen Hamas im Gazastreifen auch Syrien. Der Sturz des Assad-Regimes ist daher ein herber Rückschlag für Teheran: Syrien war Teil einer Landbrücke, die vom Iran über den Irak in den Libanon führte. Die Mullahs stehen vor dem Scherbenhaufen ihrer Politik der indirekten Kriegführung gegen Israel.

Die schiitische Hisbollah kämpfte im syrischen Bürgerkrieg an der Seite der Regierungstruppen und hat daher kaum Freunde unter den vorwiegend sunnitischen Rebellen, die jetzt das Regime gestürzt haben. Nun ist die Miliz, die ohnehin durch israelische Angriffe schwer getroffen wurde, vom iranischen Nachschub über den Landweg abgeschnitten. Dies dürfte es ihr erschweren, erneut aufzurüsten.

Für Israel ist der Sturz Assads und der damit verbundene Rückschlag für die Achse des Widerstands an sich eine gute Nachricht. Allerdings ist noch unklar, wie sich die neuen, vorwiegend islamistischen Machthaber in Damaskus gegenüber dem jüdischen Staat verhalten werden. Die israelische Armee hat bei den besetzten Golanhöhen vorsorglich eine Pufferzone eingerichtet.

«Kalifat» des «Islamischen Staats»

Der «Islamische Staat» (IS), auch «Daesch» genannt, hat seine Ursprünge im Irak, wo er infolge der US-Invasion 2003 Zulauf von sunnitischen Offizieren der irakischen Armee erhielt. Bis 2013 war die Terrororganisation mit der Al-Kaida verbündet. Dank der Schwächung der Zentralgewalt im Irak und in Syrien durch Bürgerkriege gelang es dem IS, bis 2014 ein zusammenhängendes Gebiet im Nordwesten des Iraks und im Nordosten Syriens zu erobern, das er als «Kalifat» bezeichnete.

Der IS verübte einen Genozid an den Jesiden und verfolgt alle zu «Ungläubigen» erklärten Gruppen mit beispielloser Brutalität, darunter auch Schiiten oder sunnitische Muslime, die sich nicht seinen strengen Regeln unterwerfen. Gegen den IS kämpften sowohl die reguläre syrische Armee als auch – mit westlicher Unterstützung – kurdische Einheiten der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF). Im September 2017 konnten die kurdischen Truppen Raqqa einnehmen, die Hauptstadt des «Kalifats». Nach der Niederlage nahmen die Aktivitäten des IS in Syrien stark ab, doch spätestens seit 2024 ist eine starke Zunahme der Terrorangriffe zu verzeichnen.

Arabischer Frühling

Von Tunesien ausgehend erfasste ab 2011 eine Welle von Protesten, Aufständen und Revolutionen die arabische Welt. Sie richteten sich gegen die drückenden sozialen und politischen Verhältnisse und die autoritären Regime in diesen Staaten. In mehreren Ländern gelang es den Aufständischen, das Regime zu stürzen, so etwa in Tunesien, Ägypten, Jemen und Libyen. In Marokko, Jordanien und Kuwait kam es zu Regierungsumbildungen.

Die anfänglich grossen Hoffnungen auf eine Transformation der arabischen Welt hin zu Rechtsstaatlichkeit und Demokratie zerschlugen sich allerdings weitgehend. Nach dem Sturz autoritärer, aber einigermassen laizistischer Regime konnten sich oft islamistische Gruppierungen durchsetzen, beispielsweise die Muslimbrüder in Ägypten, die dann freilich durch einen Militärputsch wieder entmachtet wurden. In Libyen, Jemen und vor allem in Syrien mündete der Aufstand in blutige Wirren oder gar einen Bürgerkrieg.

In Syrien begann der Aufstand im Frühjahr 2011 nach der Verhaftung von Schulkindern in Deraa, die regimefeindliche Graffiti gesprüht hatten. Die Versuche des Assad-Regimes, die Proteste niederzuschlagen, führten zur Ausweitung auf weitere Regionen und schliesslich zu einem langjährigen und blutigen Bürgerkrieg.

Sykes-Picot-Abkommen

Jahrhundertelang gehörte Syrien – ebenso wie der Libanon, der Irak, Jordanien und Palästina – zum Osmanischen Reich, wobei die als Syrien bezeichnete Region deutlich grösser als der heutige Staat war. Die Weichen für das spätere Staatsgebilde stellte das Sykes-Picot-Abkommen mitten im Ersten Weltkrieg. Das geheime Abkommen zwischen Frankreich und Grossbritannien teilte die arabischen Provinzen des Osmanischen Reiches unter den Kolonialmächten auf, noch bevor die Türken diese Gebiete verloren hatten.

Obwohl die Briten der arabischen Bevölkerung die Unabhängigkeit versprochen hatten, übernahmen die Kolonialmächte nach der Niederlage der Osmanen die Kontrolle und liessen sich dann vom Völkerbund die Mandate übertragen. Frankreich erhielt dabei das Mandat über Syrien, zusammen mit dem Libanon und der heutigen türkischen Provinz Hatay. Die Franzosen gliederten das Gebiet in sechs Staaten, darunter der Grosslibanon, ein Drusenstaat und ein Alewitenstaat. Einzig der Libanon besteht heute noch, während aus den anderen das heutige Syrien hervorging. Hatay gelangte 1939 an die Türkei. Syrien wurde 1941 unabhängig, blieb aber bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs unter französischer Kontrolle.

Syrer bestaunen al-Assads Luxuspalast

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50 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Touché
09.12.2024 21:54registriert Februar 2019
Ich bin für die Kurden!

Trotz der Gegenwehr der Türkei ...?
Kurden scheinen mir immer noch die einzigen wo demokratisch denken und handeln.
Gemäßigt ... und an einer Demokratie interessiert zu sein?!
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John H.
09.12.2024 21:32registriert April 2019
Den Kurdinnen und Kurden wäre es zu gönnen, wenn sie nicht einmal mehr zwischen den "(inter)nationalen Interessen zerrieben würden.
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So oder so
09.12.2024 22:44registriert Januar 2020
Vor zehn Jahren sagte Assad, er würde nicht aus Syrien fliehen, wie Janukowitsch aus der Ukraine floh.

Heute ist Assad aus Syrien geflohen, so wie Janukowitsch aus der Ukraine geflohen ist.
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