Geschichte ist kein linearer Prozess. Immer wieder ereignen sich Dinge, die gerade noch unmöglich schienen. Etwa in Syrien. 13 lange Jahre hatte sich Diktator Baschar al-Assad seit Beginn des Bürgerkriegs an der Macht gehalten, nicht zuletzt dank «Schützenhilfe» von Russland und Iran. Jetzt wurde er innerhalb von nur zehn Tagen aus dem Amt gefegt.
Der rasante Vormarsch der Rebellenmiliz Hajat Tahrir al-Scham (HTS) bis nach Damaskus entlarvte den pitoyablen Zustand von Assads Regime und seiner Armee. So war die einst berüchtigte 4. Panzerdivision unter dem Kommando von Baschars Bruder Maher al-Assad zuletzt mit der Produktion und dem Vertrieb der Designerdroge Captagon beschäftigt.
Statt den Wiederaufbau des Landes anzupacken, verkam der Assad-Clan zu einem Narco-Kartell. Vor diesem Hintergrund ist sein rasanter Fall nicht mehr ganz so verblüffend. Für die gequälten Menschen in Syrien ist das Ende der Assad-Diktatur nach mehr als 50 Jahren eine Erlösung. «Man kann atmen», sagte ein Mann in Damaskus der BBC.
Der Berner Islamwissenschaftler Reinhard Schulze verglich Assads Sturz gegenüber SRF mit dem Fall der Berliner Mauer vor 35 Jahren. Er könne eine ähnliche Signalwirkung haben. Andere sind skeptischer. «Was auf ein furchtbares Regime folgt, ist manchmal genauso schlecht oder noch schlimmer», meinte etwa der «New York Times»-Kolumnist Nicolas Kristof.
HTS-Anführer Ahmed al-Sharaa (er benutzt nun seinen richtigen Namen) gibt sich moderat, doch viele Szenarien sind möglich. Syrien könnte eine pluralistische Demokratie werden, aber auch wie Libyen in einem endlosen neuen Bürgerkrieg versacken oder wie Ägypten oder Tunesien in die Diktatur zurückfallen, bis hin zu einem «Taliban light»-Regime.
Eine Behauptung aber lässt sich machen: Für Russland und Iran ist Baschar al-Assads schmähliches Ende ein Desaster. Der syrische Herrscher war ein wichtiger Bestandteil ihres Bestrebens, ein Gegengewicht zum Westen aufzubauen, eine «Achse der Autokraten», um den Titel des aktuellen Buches der US-Historikerin Anne Applebaum zu zitieren.
Im Original nennt sich das Buch «Autocracy, Inc.», denn wie Applebaum im watson-Interview erklärte, handelt es sich um ein Netzwerk und nicht um eine Allianz. Baschar al-Assad war in dieser «Autokraten AG» kein Global Player, dennoch ist sein Verlust ein schwerer Schlag für die Ambitionen der Machthaber in Moskau und Teheran.
Wladimir Putin gewährte Assad und seiner Familie Asyl in Moskau, aus «humanitären Gründen», was der blanke Hohn ist angesichts der Gräueltaten, die beide in Syrien auf dem Kerbholz haben. Letztlich blieb dem russischen Präsidenten kaum etwas anderes übrig, denn an der Macht halten konnte oder wollte er seinen «Kampfgenossen» nicht.
Vor neun Jahren hatte er Assad mit seinen Kampfjets vor dem Untergang gerettet. Jetzt gab es nur vereinzelte Angriffe. Die Gründe wirken rätselhaft, denn eigentlich ist die Luftwaffe der Truppenteil, der im Ukraine-Krieg die geringsten Verluste zu verzeichnen hatte. Doch laut Reinhard Schulze waren die russischen Stellungen in Syrien «sehr schwach besetzt».
Putin scheint nicht so omnipotent zu sein, wie seine Bewunderer im Westen behaupten. Vielleicht waren die Russen vom Tempo des Wandels überfordert. Im Weissen Haus dürfte US-Präsident Joe Biden auf den Stockzähnen gelacht haben, denn nun hat Wladimir Putin sein «Afghanistan-Debakel». Eine Blamage ist Assads Sturz für Russland allemal.
Die ultrakonservativen russischen «Milblogger», einige davon mit Vergangenheit in Syrien, jedenfalls zeigten sich empört, heisst es in einer Analyse des Institute for the Study of War (ISW) in Washington. Sie sähen darin ein weiteres Versagen der russischen Aussenpolitik, ihren Einfluss in strategisch wichtigen Gebieten «auszuüben und auszuweiten».
Die Unfähigkeit oder der bewusste Verzicht darauf, Assads Regime zu stärken, werde Russlands Glaubwürdigkeit als verlässlicher und effektiver Sicherheitspartner beschädigen, schreibt das ISW weiter. «Das wiederum wird negative Folgen für Putins Bestreben haben, weltweite Unterstützung für sein Wunschziel einer multipolaren Weltordnung zu sammeln.»
Derzeit kann es für Putin nur darum gehen, den Schaden zu begrenzen. Das betrifft den Marinestützpunkt in Tartus und die Luftwaffenbasis bei Latakia am Mittelmeer. Sie sind strategisch für Russland bedeutungsvoll, nicht zuletzt mit Blick auf Afrika, doch ob die neuen Machthaber sie weiter tolerieren, ist angesichts der Vorgeschichte zweifelhaft.
Für die Iraner war 2024 ein «Annus horribilis». Im Mai starb Präsident Ebrahim Raisi bei einem Helikopterabsturz. Zum Nachfolger des Hardliners und einstigen «Blutrichters» wurde der relativ moderate Massud Peseschkian gewählt, der die Beziehungen zum Westen verbessern will. Die eigentliche Macht aber liegt beim obersten Führer Ali Chamenei.
Für ihn hat der Kampf gegen den «Todfeind» Israel Priorität, doch der verlief für die Iraner in diesem Jahr katastrophal. Israel konnte zwei iranische Drohnen- und Raketenangriffe abwehren und im Gegenzug die aus russischen Systemen bestehende iranische Luftabwehr nach Einschätzung von Beobachtern ausschalten. Und jetzt fällt Syrien weg.
Das Assad-Regime war der wichtigste Verbündete Irans in der Region. Über Syrien verliefen die Nachschubrouten an die libanesische Hisbollah. Sie sind nun auf dem Landweg gekappt, und das zu einem Zeitpunkt, in dem die Miliz im Kampf gegen Israel dezimiert wurde. Auch die Hamas in Gaza könnte zum Schluss kommen, dass weiterer Widerstand zwecklos ist.
Der Sturz von Baschar al-Assad werde die Widerstandsfront gegen das «zionistische Regime» nicht aufhalten, sagte Aussenminister Abbas Araghtschi. Gleichzeitig räumte er ein, nicht mit einem so schnellen Ende gerechnet zu haben. Beobachter fürchten, Teheran werde jetzt erst recht die Atombombe anstreben, doch Israel wird nicht tatenlos zuschauen.
Möglich ist auch, dass die Dynamik in Syrien auf andere Länder übergreift, etwa Irak, wo es 2019 zu Protesten kam, die sich unter anderem gegen den Einfluss Irans wendeten. Und schliesslich ist das Mullah-Regime selbst innenpolitisch unter Druck. Es ist vielleicht bezeichnend, dass am Montag in Iran ein neues Kopftuchgesetz auf Eis gelegt wurde.
Und was meint eigentlich China, der mächtigste Akteur in der «Autokraten AG»? Das Aussenministerium begnügte sich mit nichtssagenden Floskeln. Pekings System basiert auf dem Konzept, den Menschen Wohlstand als «Belohnung» für Gehorsam zu verschaffen (was auch schon einfacher war). In dieser Hinsicht hat Baschar al-Assad komplett versagt.
Sein Ende mag nicht «repräsentativ» sein. Für die Reputation der «Autokraten AG» aber ist der Schaden gewaltig. Selbst in unseren Breiten gab es zuletzt Stimmen, die sich fragten, ob ein autoritäres System einer Demokratie nicht überlegen sei, zumindest temporär. Nur schon deshalb freut man sich, dass es wieder einmal einen Diktator «gelupft» hat.
Ich erinnere mich noch gut daran, wie die westliche Welt 2011 den Arabischen Frühling bejubelt hatte.
Danach kam ISIS und eine Flüchtlingswelle, von der die rechten Parteien Europas noch heute profitieren.
Dass Assad weg ist, ist ein Sieg für die Welt. Aber was danach kommt, kann, aber muss nicht besser sein.