Vor fünf Jahren plante ich zu meinem 24. Geburtstag, mit ein paar Freunden in einen Club zu gehen. Tanzen, trinken, feiern, das Übliche. Via WhatsApp fragte ich mich durch meinen Freundeskreis, manche sagten zu, manche ab, nur einer antwortete nicht.
Mich störte das nicht. Vielleicht hatte er keine Lust oder meine Nachricht nicht gelesen. Als ich ihn zufällig im Supermarkt traf, sprach er mich darauf an. Er könne nicht, fühle sich nicht wohl.
«Wie, nicht wohl?», entgegnete ich und betonte, dass er den Grossteil der Anwesenden kenne und wir einfach nur ein bisschen Spass haben wollten. Doch darum ging es nicht. Er habe Angst, an der Tür abgewiesen zu werden, den Abend damit zu ruinieren. Das wollte ich nicht verstehen. Ich fragte ihn, wieso nur er nicht an den Türstehern vorbeikommen sollte.
Er blickte mir in die Augen und sagte: «Schau mich doch an.» Er trug eine Jeans, weisse Sneaker und ein schwarzes Shirt. «Siehst doch normal aus», sagte ich. Doch um seine Kleidung ging es nicht, sondern um die Herkunft: Deniz´ Eltern stammen aus der Türkei.
So sehr er auch betonte, dass er wegen seines Aussehens kaum eine Chance habe, in einen Club zu kommen, lehnte ich diesen Gedanken ab – und weigerte mich, ihn anzuerkennen. Es schien mir nicht richtig.
Alle Menschen waren für mich gleich, ich war ja kein Rassist und würde doch niemals in Clubs gehen, in denen Leute aufgrund ihrer Herkunft oder Hautfarbe ausgegrenzt wurden. Ich konnte nicht falscher liegen. Um das zu verstehen, musste ich jedoch einen langen Weg aus Selbstreflexion und Scham zurücklegen.
Vorweg: Es hat sich gelohnt.
Ich lebte in einer Traumwelt. Eine Welt, in der Rassismus ein Vergehen der anderen ist. In der Rassisten die anderen, äusserst schlechte Menschen sind, deren hasserfüllte Glatzenfratzen sich in polierten Baseballschlägern spiegeln. Kurzum: Nazis, Faschisten, Ku-Klux-Klan-Anhänger. Und nicht Typen wie ich, die sich als linksliberal verstehen. Die Autorin Tupoka Ogette beschreibt diesen Ort in ihrem Buch «exit RACISM» als Happyland.
Da ich dort lernte, dass nur schlechte Menschen rassistisch sind, verstand ich auch nicht, dass mein Freund Deniz empfindlich auf mein Unverständnis reagierte. Wieder und wieder versuchte er, mich über sein Problem aufzuklären. Ich sagte, er dramatisiere, was er wiederum rassistisch nannte. Warum er das tat, verstand ich damals nicht.
Ich brach das Gespräch ab. Wut im Bauch, Fragen im Kopf. Und in Dauerschleife redete ich mir ein: «Ich bin nicht rassistisch!», ein vergiftetes Mantra. Ich begriff schlicht nicht, dass Rassismus noch immer – auch heute – allgegenwärtig ist. Rassismus betraf mich als Weissen nie direkt, weshalb er in meiner Welt nicht existierte. Happyland ist gemütlich, aber eben auch nur für Menschen wie mich. Weisse Menschen.
Meine ablehnende Haltung ist ein Resultat weisser Zerbrechlichkeit, die die Soziologin Robin di Angelo in ihrem Buch «White Fragility» beschreibt. Ich verstand mich nicht als rassistisch und reagierte auf diesbezügliche Vorwürfe empört, wehrte ab und bestrafte Deniz sogar, indem ich nicht mehr mit ihm sprach. Sogar lange Zeit danach.
Warum tat ich das? Nun, im Nachhinein wollte ich wohl hören, wie unglaublich weltoffen meine Einstellung sei. Vielleicht auch, dass ich ein guter Mensch bin, weil ich keine Unterschiede in Sachen Hautfarbe oder Herkunft sehe. Nach Deniz´ Aussage begann mein Happyland zu bröckeln. Sein Vorwurf schlug Löcher in diese Welt, die mir einen Blick in die Realität ermöglichten. Sehen wollte ich sie zunächst nicht, also spachtelte ich alles zu und verkroch mich weiter.
Selbst Jahre später liess mich die Unterhaltung nicht los. Freunde sagten mir, meine Reaktion sei falsch gewesen – sie waren wesentlich aufgeklärter. Sie empfahlen mir Artikel sowie einige Bücher zu Rassismus, darunter auch die bereits erwähnten, und ich begann zu lesen. Zusätzlich schickten sie mir Youtube-Videos. Jede Seite, jeder Clip, jede neue Information brachte mich näher an den Ausgang meines Happylands. Endgültig verlassen habe ich es jedoch erst nach George Floyds Tod. Ich landete in der «echten» Welt. Es war beängstigend.
Ich erkannte, dass Äusserungen, die ich vorher für unbedenklich hielt, schon immer problematisch waren. «Für mich sind alle Menschen gleich» mag zwar biologisch stimmen, gesellschaftlich jedoch nicht. Sagte Deniz, dass er aufgrund seines Aussehens nicht in einen Club komme, dann, weil er diese Erfahrung bereits gemacht hatte. Dass ich das nicht akzeptierte, verletzte ihn womöglich.
In «exit RACISM» schreibt Ogette weiter, dass es verschiedene Phasen im Umgang mit Rassismus gibt. Auf das Erwachen aus Happyland folgt die Abwehr und darauf die Scham. Treffend. Im Nachhinein schämte ich mich, dass ich nicht verstand, warum Deniz sich unwohl fühlte. Doch da hörte es nicht auf. Ich schämte mich für jede Situation, jeden Zustand, jedes schlecht gewählte Wort, das ich nicht mitbekommen hatte. Und wie Ogette sagt, folgt auf Scham Schuld. Hätte ich doch eingreifen können – oder mein eigenes Denken hinterfragen.
Heute, etwa fünf Jahre später, tue ich das. Rassismus ist ein reales Problem und eng mit unserem System verwachsen – wie ein Tumor. Und er streut, und streut, und streut. Manche werden aufgrund ihres Nachnamens bei der Wohnungssuche abgewiesen, andere finden nur schwerlich einen Job und wiederum andere müssen sich rechtfertigen, warum es für sie nicht okay ist, wenn jemand das N-Wort, «Mohr» oder «Zigeuner» sagt.
Mittlerweile versuche ich selbst dabei zu helfen, Menschen über das Thema aufzuklären. Ich spreche Familienmitglieder und Freunde darauf an, sobald sie eine problematische Aussage machen und erkläre, warum es Menschen verletzen könnte, wenn sie sie ohne Zusammenhang nach ihrer Herkunft fragen, oder darauf bestehen, weiterhin «Zigeunersosse» oder «Mohrenkopf» zu sagen.
Dabei vermeide ich, die Menschen zu beschuldigen oder als Rassisten zu bezeichnen. Sie würden wohl abblocken. Das kenne ich selbst nur zu gut. Stattdessen erkläre ich das Warum – auch wenn es manchmal Stunden dauert. Häufig muss ich noch nachforschen, warum genau etwas problematisch ist und erkläre es darauf. Es ist ein steter Lernprozess.
War es vorher einfacher? Natürlich. Im Happyland musste ich das alles nicht tun, geschweige denn, irgendetwas mitbekommen. Ich konnte mich in mein Luftschloss aus Naivität zurückziehen, unter meine Decke aus Selbstgerechtigkeit kuscheln und jeden Vorwurf ignorieren, auch wenn er noch so laut an die Tür hämmerte. Leider ignorierte ich so auch die Probleme, die meine Mitmenschen betreffen.
Wie es Deniz mittlerweile geht, weiss ich nicht. Ich zog nach Berlin, er blieb in Dortmund. Ausgesprochen haben wir uns nie. Schade eigentlich, da ich glaube, ihn ein Stückchen besser zu verstehen.
- wieso isst du kein Schwein?
- tragt deine Mom ein Kopftuch? (Nein.)
- wieso fastet ihr?
- usw.
Abgesehen davon, dass die meisten Fragen tatsächlich auf religiöse Sitten gerichtet waren, gaben sie mir das Gefühl(!) anders als die anderen zu sein (Einsamkeit). Allerdings habe ich es niemandem übel genommen.
Es war Neugier und Interesse. Das Gefühl der Einsamkeit habe ich ja selbst erzeugt, weil ich die kulturellen Unterschiede zu hoch gewichtet und mich zu sehr damit identifiziert habe.
Spass erfordert keine bestimmten Ausgangs-Klubs. Gemeinsame Freude entwickelt sich durch gemeinsames Einstehen, gemeinsame Erlebnisse und Solidarität.
Gemeinsam Tritte in die Hintern von diesen Rassisten.