Alfred Escher soll weg. Das Standbild des Schweizer Wirtschaftsmagnaten und Eisenbahnpioniers, das vor dem Zürcher Hauptbahnhof thront, soll aus dem öffentlichen Raum verschwinden – es soll abgerissen oder in ein Museum verbannt werden. Denn Eschers Aufstieg wäre ohne den Reichtum seiner Familie, der unter anderem auf der Arbeit von Sklaven beruhte, kaum möglich gewesen.
Die Forderung, Eschers Statue zu entfernen, hat ihr Gutes. Sie ruft die unrühmliche, aber wenig bekannte Verwicklung der Schweiz in Kolonialismus und Sklavenhandel in Erinnerung. Und sie konfrontiert uns mit der unangenehmen Frage, wie viel Rassismus in unserer Vergangenheit und Gegenwart steckt. Wenn wir jedoch Denkmäler wie jenes von Escher einfach aus dem öffentlichen Raum verbannen, leisten wir dieser Diskussion einen Bärendienst – wir entfernen Symbole, die uns an eine peinliche Vergangenheit erinnern und an denen sich Fragen und Widerspruch entzünden.
Eine solch radikale Flurbereinigung, wie sie nun im Fall von Escher verlangt wird, schiesst übers Ziel hinaus. Sie zeugt von einem Geschichtsverständnis, das letzten Endes in Geschichtslosigkeit mündet. Für den politischen Diskurs ist Geschichtslosigkeit Gift. Sie spielt jenen Rechtspopulisten in die Hände, die an einem überholten mythischen Geschichtsbild festhalten wollen und am liebsten jede Debatte darüber beenden möchten.
Von der Gegenseite her unterminiert die aus den USA importierte Identitätspolitik den politischen Diskurs. Sie will spezifischen benachteiligten Gruppen mehr gesellschaftliche und politische Anerkennung und Mitwirkung verschaffen – und diese Gruppen konstituieren sich entlang kultureller, ethnischer oder sexueller Differenzen.
Problematisch ist dabei vor allem die Sichtweise, dass letztlich nur Mitglieder einer solchen Gruppe aufgrund ihrer Diskriminierungserfahrung dazu legitimiert seien, kompetent über diese spezifische Diskriminierung zu diskutieren. Wenn nur noch der Status als Opfer einer Diskriminierung, sei sie selbst erlebt oder ererbt, Glaubwürdigkeit verleiht, kommt es im Extremfall zu faktischen Sprechverboten für Mitglieder der privilegierten Mehrheit. Weisse etwa sollten sich bei Wortmeldungen über Rassismus zurückhalten, weil sie aufgrund ihres «White Privilege» alltägliche Diskriminierung gar nicht erkennen könnten.
Zu Ende gedacht führt dies zu einer Aufspaltung des universalen Diskurses – er wird gleichsam «atomisiert», wenn jede Gruppe nur noch für sich selbst sprechen darf, nur noch ihre eigene Perspektive kennt, nur noch ihre eigene, von anderen unhinterfragbare Wahrheit besitzt. Wenn Glaubwürdigkeit zu einer tribalen Angelegenheit geworden ist, profitieren jene, die sich eh darum foutieren – Demagogen wie Donald Trump zum Beispiel.
Auf der Strecke bleibt dabei die differenzierte Sicht auf den einzelnen Fall. Eine Statue von Escher ist nicht dasselbe wie ein Standbild eines konföderierten Generals in den Südstaaten der USA.
Lassen wir also Escher auf dem Sockel – aber bringen wir auf diesem eine Plakette an, die darauf hinweist, dass dieser Mann nicht zuletzt dank der Arbeit und dem Leid von Sklaven da oben steht. Vergangenheit lässt sich nicht rückwirkend ändern, nur unser Blick darauf. Geschichte ist kein «Safe Space» – sie ist voller Gräuel, voller Zumutungen. Die wahre Zumutung aber sind die realen diskriminierenden Verhältnisse in der Gegenwart. Diese sollten wir abschaffen, nicht die Standbilder.
Wenn wir Escher aus unserer Geschichte radieren, vergessen und ignorieren wir auch unsere Vergangenheit der Kolonienherrscher/Gotthard-Leiharbeiter/Judengold Beschützer usw...