Zuerst zieht die Migros Dubler-«Mohrenköpfe» wegen Rassismusverdachts aus dem Verkauf. Wenige Tage später vernichtet sie tausende Papiertragtaschen, weil sie befürchtet, diese könnten sexistisch sein. Die SRF-«Arena» scheitert mit ihrer Rassismus-Sendung so katastrophal, dass sie sie wiederholen muss. Der SVP-Politiker Roger Köppel wird in eine SRF-Radiosendung eingeladen – und wieder ausgeladen. Die Post kündigt der Influencerin Mimi Jäger die Zusammenarbeit, nachdem sie sich über eine «Black Lives Matter»-Demonstration ärgerte. Ikea hingegen findet den Auftritt ihres Testimonials unproblematisch. Was ist momentan eigentlich los in der Schweiz?
Die Beispiele zeigen: Wir haben ein Problem. Oder besser gesagt: Die institutionellen Player in diesem Land haben eines. Sie scheitern gerade auf ganzer Linie daran, auf gesellschaftlich relevante Themen zu reagieren. Wie aufgescheuchte Hühner treten die Migros, das SRF, die Post und Co. von einem Fettnäpfchen ins nächste. Es herrscht grosse Verwirrung und noch grössere Verunsicherung. Wie über Rassismus sprechen, wie über Sexismus? Wen zu Wort kommen lassen, wen nicht?
Völlig ratlos sind die Schweizer Grossunternehmen einer neuen, breit abgestützten Protestbewegung ausgesetzt. Seit den Unruhen in den 1980er-Jahren brachte die Schweizer Jugend nicht mehr so viele Menschen auf die Strasse wie jetzt. Sei es die Klimabewegung, die Frauenbewegung oder die «Black Lives Matter»-Demonstrationen: Die Jugend formiert sich zu einer neuen Kraft mit enormem Mobilisierungspotenzial. Über Social-Media-Kanäle ist sie fähig, innerhalb kurzer Zeit Informationen zu verbreiten, den eigenen Inhalten Reichweite zu verschaffen oder Shitstorms zu generieren. Das setzt Druck auf.
Sowohl die Sexismusdebatte als auch die Rassismusdebatte sind ausgehend von so verstörenden wie gut dokumentierten Einzelfällen wie Harvey Weinstein und George Floyd aus den USA übernommen worden – und treffen die grossen Player in der Schweiz unvorbereitet und mit voller Wucht. Unvorbereitet deshalb, weil diesen Diskussionen jahrhundertelang aus dem Weg gegangen wurde. Dies, obwohl die Faktenlage eigentlich klar ist: Es besteht weder eine Forschungslücke zur kolonialen Geschichte der Schweiz, noch mangelt es an Daten zu sexualisierten Gewaltakten gegen Frauen. Nein, die Ausgangslage ist eigentlich klar. Aber im öffentlichen Diskurs kam sie bisher nie richtig auf den Tisch.
Im Angesicht einer neuen Debattendynamik verfallen die institutionellen Player einer bisweilen panisch anmutenden Nervosität. Dann wird fälschlicherweise angenommen, zu einer Diskussion über Rassismus gehören auch Exponenten, die ihrerseits abstreiten, dass das Problem in der Schweiz überhaupt besteht. Dann fürchtet man sich vor einem Reputationsschaden, wirft sich vor den Wütenden in den Staub aus Angst vor einem Fauxpas – und leistet sich damit schon den nächsten. Die Schlagzeilen der letzten Wochen sind Symptome der grossen Hilflosigkeit gegenüber diesen Themen.
Die Protestbewegungen mit ihren Anliegen und ihrer Reichweite auf den Sozialen Medien werden so schnell nicht wieder verschwinden. Sie werden die Grossunternehmen und institutionellen Player weiterhin vor sich hertreiben, die ihrerseits solche Kontroversen eher weiter anheizen, als sie aus der Welt schaffen. Und das ist gut so, denn diese Themen gehören diskutiert. Wünschenswert wäre einfach, das geschähe auf etwas übersichtlicherer, unaufgeregtere und weniger gehässige Weise.
Wir sollten mehr reden und diskutieren - nicht aus Angst schweigen müssen.
Wenn ein gut aussehender Mann ein Kompliment macht, ist es ein Kompliment, wenn er hässlich ist, dann ist es eine sexuelle Belästitung.
Wenn jemand was über einen selbstgewussten Schwarzen sagt, ist es ok. Wenn der gleiche Kommentar an einen mit Minderwertigkeitskomplexen geht, ist es Rassimus.
So lange frei nach belieben alles Sexismus und Rassismus sein kann, so lange werden wir über das Problem auch nicht vernünftig reden können.