Das Bild des verletzten, aber triumphierenden Donald Trump galt bereits am Tag nach dem Attentat als ikonisch. Können Sie uns die Wirkkraft des Bildes erklären?
Elisabeth Bronfen: Vieles an diesem Bild ist spektakulär und sehr pathetisch, etwa diese Farben! Das ganze Bild ist in die Farben der amerikanischen Flagge getaucht, alles ist blau, weiss oder rot. Der ganz klare blaue Himmel, die blauen Anzüge, die weissen Hemden, das rote Blut, die Flagge selbst. Dazu diese Frau, die ihn hält, man weiss nicht, stützt sie ihn oder richtet sie ihn wieder auf? Das ist eine umgekehrte Pietà: Christus liegt nicht tot in den Armen seiner Mutter, sondern er bäumt sich noch einmal auf. Die Frau wird hier zum stützenden Element, das ihm erlaubt, sich über alle zu erheben.
Dann ist die erhobene Faust an sich ein starkes Motiv, was sich durch alle Zeiten und alle politischen Richtungen zieht, es gibt die erhobene Faust von Che Guevara und von den Black Panthers oder von Rosie the Riveter, einer fiktiven Figur, mit der die amerikanische Rüstungsindustrie im Zweiten Weltkrieg Frauen für die Arbeit in den Rüstungsfabriken anzuwerben versuchte. Und unter den Nationalsozialisten gab es die «Arbeiter der Faust und der Stirn», also die Handwerker und Geistesmenschen.
Die Geste des Trotzes, des Sich-Aufbäumens ist ja bei Trump nicht neu.
Nein, die kommt immer wieder, er signalisierte immer wieder: «Ich bin dagegen», «Ich setz mich durch», er sagte: «Kämpft für mich, denn ich kämpfe für euch», und natürlich «Lock her up», sperrt sie ein. Er hat diese aggressive Sprache, dieses Bösartige, Giftige immer schon zelebriert.
Der zweite Held dieses Bildes ist der Fotograf: Anstatt erschüttert aufzuschreien oder sich zu ducken, hat er einfach weiter abgedrückt. Wenn man ihn jetzt reden hört, dann weiss man, das ist ein Profi, der weiss genau, aus welchem Winkel er Trump ablichten muss, damit dessen Gesten am besten zur Geltung kommen, der Rest war Zufall. Man kennt das ja aus der Kriegsfotografie, die ikonischen Momente, zum Beispiel von der Landung der Alliierten am D-Day, sind alle zufälligerweise entstanden.
Ein allgemeiner Reflex war ja: Dieser Moment und dieses Bild haben die Wahl entschieden.
Das denke ich nicht: Erst die Wahl entscheidet die Wahl. Wir haben noch Monate vor uns. Am Sonntag sagten alle meine amerikanischen Freundinnen und Freunde: Das war's, jetzt wird er Präsident! Ich sagte: Nein, wenn ihr alle wählen geht, wird er nicht Präsident! Auch wenn er jetzt zum Märtyrer stilisiert wird und Gott zu seinem Beschützer erklärt. Das ist Unfug. Möglicherweise gibt es jetzt ein paar Republikaner, die wieder zu Trump zurückkehren, aber keine demokratischen Wählerinnen und Wähler werden sich deshalb für ihn entscheiden.
Aber gab es das schon einmal, dass ein Bild eine Präsidentschaftswahl entschieden hat?
Nein. Aber dass es einen grossen politischen Einfluss hatte, das schon. Etwa die Aufnahme vom Hissen der amerikanischen Flagge am 23. Februar 1945 auf Iwo Jima. Die Amerikaner waren kriegsmüde, aber dieses Bild wurde zur grossen letzten Motivation, dass in Amerika wieder viel Geld für die Waffenproduktion und den Fortgang des Kriegs gespendet wurde.
Als weitere Pathos-Maschine erweist sich ja Melania Trump. In ihrem Statement vom Tag nach dem Attentat beschreibt sie ihren Gatten als «grosszügig und fürsorglich», als empathischen Mann voller «Lachen, Einfallsreichtum, Liebe zur Musik und Inspiration». Sie schreibt: «Dawn is here again. Let us reunite. Now.» Die Morgenröte ist wieder da. Lass uns wieder zusammenkommen. Jetzt. Was sind Ihre Gedanken dazu?
Ich glaube ja, diesen Text hat ein Chatbot geschrieben. Er steckt voller Worthülsen, die bei näherer Betrachtung keinen Sinn ergeben. Die Morgenröte zum Beispiel erinnert mich an Ronald Reagan («It’s morning in America!»), sie erinnert mich an eine Chrysler-Werbung mit Clint Eastwood, in der die Sonne aufgeht, und sie ist vor allem eine visuelle Lieblingsikone von Barack Obama. Wieso sollte ausgerechnet ein missglücktes Attentat dazu führen, dass jetzt die Morgenröte über Amerika aufglüht? Das ergibt wirklich keinen Sinn! Aber es klingt irgendwie nach der transzendentalen Logik von Ralph Waldo Emerson. Auch sowas kann man einem Chatbot füttern.
Unvorstellbar, dass dies von Melania Trump kommt, der Frau, deren deutlichstes schriftliches Statement bisher eine Jacke mit dem Aufdruck «I really don't care, do you?» war ...
Niemand, auch nicht der härteste Republikaner, würde Trump als «grosszügig und fürsorglich» bezeichnen. Und dann hat er Melania doch auch die ganze Zeit über betrogen! Doch jetzt inszeniert sie sich als Mutter der Nation, was sie ja während der ersten Amtszeit ihres Mannes nie sein wollte. Sie eilt ihrem Mann zu Hilfe und beschreibt Amerika als eine einzige grosse, liebende Familie – das ist alles derart sentimental, dass es völlig inhaltsleer ist.
Sie schreibt auch von «einfältigen Ideen, die Gewalt entzünden». Müsste sie da nicht vor allen anderen ihrem Mann ins Gewissen reden?
Eine der grössten Gruppen hinter Trump und seiner Partei ist die Waffenlobby National Rifle Association (NRA). Schiessereien in Schulen oder Supermärkten gehören in Amerika zum Alltag. Und während von den einen – vornehmlich Frauen und Mütter – eine Verschärfung des Waffengesetzes verlangt wird, sorgten die Republikaner dafür, dass heute alle offen ihre Waffen tragen können. Es ist eine tragische Ironie, dass ausgerechnet der Präsident, der sich am deutlichsten für das Kaufen, Tragen und Benutzen von Waffen einsetzt, jetzt zu ihrem Opfer geworden ist.
Melania versucht nun, das Narrativ umzuschreiben und ihn zu einem generösen, liebevollen Menschen zu machen – maaaaaag ja sein, dass er das hinter verschlossenen Türen auch ist, aber in der Öffentlichkeit war er das nie. «Grosszügig und fürsorglich», das ist Biden, der seinen Sohn Hunter nach dem verlorenen Prozess umarmt, der eh immer alle umarmt, aber nicht Trump. Biden hat nach dem Attentat geschrieben: «It’s not America, and we cannot allow this to happen.» Doch, genau dies ist Amerika!
Den Attentäter beschreibt sie als «a monster who recognized my husband as an inhuman political machine».
Da steht nicht: «Ein Monster, das meinen Mann für eine unmenschliche politische Maschine hielt», sondern: «Ein Monster, das meinen Mann als unmenschliche politische Maschine anerkannte.» Das ist ein grammatischer Fehler; man könnte es aber auch eine Fehlleistung nennen. Sie spricht aus, was sie dem Attentäter zuschreiben will. Zudem ist Trump eben gerade keine politische Maschine. Er ist ein Performer, ein, das muss man ihm zugestehen, grossartiger Entertainer. Wenn er noch eine Sekunde lang Kraft hat, um auf die Bühne zurückzugehen und seine Hand zu erheben, dann tut er das.
Und was hat es mit dem «Monster» auf sich?
Es ist schlimm, dass Melania den Täter als Monster bezeichnet, das ist eine Form der Entmenschlichung, die wir aus faschistischen und anderen totalitären Regimen kennen. Sie nimmt ihm damit die Möglichkeit, dass er seine Tat aus einer Unzufriedenheit, einem Unbehagen über den irrsinnigen Dissens heraus, der in Amerika herrscht, getan haben könnte. Denn Trump ist einer von denen, die diesen Dissens am meisten geschürt und die Spaltung der Gesellschaft am deutlichsten deklariert haben.
Dass er keine politische Maschine ist, möchte ich hier doch gerne nochmals in Frage stellen. Denn dass er J.D. Vance zu seinem Vizekandidaten macht, grenzt doch an teuflische Genialität. Oder etwa nicht?
Es ist ein brillanter Schachzug. J.D. Vance kennen viele, weil seine sehr erfolgreichen Memoiren «Hillybilly Elegy» auch verfilmt wurden: mit Amy Adams und Glenn Close in den Hauptrollen. Er steht für ein alttradiertes amerikanisches Narrativ – der Junge aus armen Verhältnissen, der in «middle America» (Ohio) aufgewachsen ist und an die Ostküste (Yale) gegangen ist auf der Suche nach Ruhm, Erfolg und Wohlstand. Anfangs war er sehr kritisch gegenüber Trump. Und er appellierte an seine Leser und Leserinnen, nicht an den Küsten zu bleiben, sondern in ihre Heimatorte zurückzukehren – dort, wo sie hingehören –, um dort, wo es zählt, ihre Stimmen abzugeben.
Amerika liebt Geschichten von einsichtigen Heimkehrern.
Wir kennen dieses Narrativ aus vielen Filmen und Romanen, etwa aus dem «Zauberer von Oz». Dorothy fliegt in einem Tornado zwar ins Zauberland von Oz, muss dort aber einsehen: «There’s no place like home!» Und dies, obwohl das «home», wo sie aufgewachsen ist, nur eine ärmliche Farm in Kansas ist. Seit einiger Zeit ist Vance – vielleicht auch aus politischem Kalkül – zum begeisterten Trump-Unterstützer geworden. Er ist intelligent, er ist gebildet, er ist ambitioniert, er hat ein Projekt, und er ist darauf vorbereitet, auf die Verzweiflung, die Wünsche, die Wut derjenigen einzugehen, die er bereits jetzt schon im Senat vertritt.
Was blüht uns jetzt?
Was uns jetzt blüht, ist ein ultrabrutaler Wettkampf zwischen einem alten Joe Biden, der sich trotz allem resolut gibt, und einem noch wütenderen Trump, der es jetzt erst recht allen beweisen will. Und es wird deswegen brutal, weil sich all diese rechtsextremen weissen Männer, die den Sturm auf das Capitol verübt haben, jetzt so richtig legitimiert fühlen, Trump zum Sieg zu verhelfen. Und wenn Biden gewinnt, wird es eh blutig.
Ein Begriff, der mir am Sonntag sofort durch den Kopf schoss, war «Tyrannenmord». Das stimmt aber nicht, oder?
Nein, das passt nicht, ein Tyrannenmörder ist eine hehre Gestalt, ein Tyrannenmord ein kühl geplanter Akt, der auf ein Gelingen abzielt. Beim Trump-Attentäter wissen wir nicht, ob er einfach in die Masse schiessen wollte oder ob er eine Art Judas war, der fand, der Auserwählte sei nicht so toll, wie er ihn gerne haben wollte. Ein Tyrannenmörder handelt aus Überzeugung und aus einer Not heraus und hat einen Plan.
So wie Tell im Schweizer Gründungsmythos den Gessler erschossen hat?
Genau. Tell war auch ein ausgezeichneter Schütze. Der Trump-Attentäter war es nicht.
Er wurde nicht Opfer sondern wurde dank viel Glück eben keins. Er profitiert jetzt sogar davon, da er sich als Märtyrer darstellt.
Es gibt Opfer, aber Trump gehört sicher nicht dazu.