«Ich bin nicht überzeugt», sagt ein Mann, der in der ersten Reihe auf den Rängen oben im Fiserv Forum in Milwaukee sitzt. Er ist Anfang 30, trägt eine rote Baseballmütze, auf der «Make America Great Again» (Maga) zu lesen ist. Unterhalb von ihm jubeln Hunderte Delegierte Trumps neuem Stellvertreter J. D. Vance zu.
Der erst 39-jährige Senator aus dem Bundesstaat Ohio wurde soeben offiziell zum Vize-Präsidentschaftskandidaten nominiert. Der Mann mit der Maga-Mütze in Reihe eins klatscht nicht, sondern verschränkt die Arme. «Ich weiss nicht, ob er einen eigenen Wählerblock mitbringen kann, den Trump nicht ohnehin längst hat», sagt er.
Vance ist hiermit nominiert. Ein junger Mann mit MAGA-Cap neben mir ist nicht überzeugt: "I don’t know if he’s bringing a voting block Trump doesn’t already have." Er klatscht nicht. pic.twitter.com/qhUT1I144I
— Bastian Brauns (@BastianBrauns) July 15, 2024
Dabei wirkt J. D. Vance, der mit vollem Namen James David Vance heisst, auf den ersten Blick wie eine kluge Wahl. Sein Profil als jemand, der die vermeintlich von der Politik vergessene, weisse Arbeiterschaft versteht, scheint wie geschaffen für den Plan, bei den Präsidentschaftswahlen im Herbst diese wichtige Wählergruppe zurück ins Trump-Lager zu holen.
J. D. Vance ist mit seinem Hintergrund aus ärmlichen Verhältnissen und seinem vermeintlichen Verständnis für die vergessenen, weissen Arbeiter ein verjüngter Frontalangriff gegen den 81-jährigen Joe Biden, der bei den Gewerkschaften sehr beliebt ist. Der erst vor zwei Jahren erstmals in den Senat gewählte Vance könnte womöglich auch bei der jungen Generation und bei den Erstwählern Stimmen abgreifen.
Dabei offenbart J. D. Vance auf den zweiten Blick viele Schwächen: Ob er wirklich neue Wählergruppen erschliessen kann, ist in der Tat zweifelhaft. Insbesondere bei Schwarzen, Latinos und Frauen oder bei Homosexuellen sind Trumps Zahlen noch immer deutlich schlechter, als es für die Republikaner eigentlich wünschenswert wäre, um bei unentschiedenen Wählern zu punkten. Die zarten Zuwächse, die Trump bei diesen Gruppen in den vergangenen Jahren verzeichnet hat, dürfte Vance eher wieder einbüssen, wohl aber kaum weiter ausbauen. Gegen seine Aussagen wirken die von Trump beinahe harmlos.
Bei Migranten, die schon länger in den USA leben, könnten seine Forderungen nach einer harten Einwanderungs- und Abschiebepolitik womöglich teilweise verfangen. «Another male from Yale» (Ein weiterer Mann von der Yale-Universität), brummt ein Zuschauer im Kongresszentrum von Milwaukee. Er will seinen Spruch ironisch verstanden wissen. Vielleicht wird J. D. Vance, der das berühmte Trump-Erklär-Buch «Hillbilly Elegy» geschrieben hat, von Einwanderern tatsächlich gar nicht als der Aufsteiger aus armen Verhältnissen wahrgenommen.
Vielleicht ist J. D. Vance für diese potenziellen Wählerinnern und Wähler nur männlich, weiss und elitär. Zwar gibt es Spekulationen, dass seine von indischen Einwanderern abstammende Ehefrau Usha Chilukuri Vance Sympathien bei anderen Amerikanern mit Migrationshintergrund erzeugen könnte. Eine Garantie dafür gibt es aber nicht.
Mit seiner radikalen Haltung gegen Abtreibungsrechte bietet J. D. Vance den Demokraten im Wahlkampf ausserdem eine offene Flanke, weit hinein in Wählerschichten, die normalerweise republikanisch wählen. Sein Hinweis, den er 2022 Eltern gab, sie sollten «zum Wohle ihrer Kinder» zusammenbleiben, auch wenn sie eine Ehe voller Gewalt führen, könnte ebenfalls weite Teile Amerikas irritieren. Im Wahlkampf jedenfalls bekommt Vance es unter anderem bei einem geplanten TV-Duell mit Joe Bidens Vizepräsidentin Kamala Harris zu tun. Als Frau und ehemalige Generalstaatsanwältin hat sie bei diesen Themen einen klaren Vorteil.
Warum aber hat sich Donald Trump dann für ihn entschieden? Insgesamt wirkt J. D. Vance, der gerade mal halb so alt ist wie Trump, mit seinen politischen Positionen wie dessen jüngerer Kronprinz. Sollte der einmal nicht mehr in der Lage sein, Politik zu machen, wäre J.D. Vance so etwas wie sein Erbe auf dem Maga-Thron. Die Zukunft der republikanischen Partei bekommt mit ihm dann endgültig ein radikales Gesicht und ist eine Überlebensversicherung für Trumps geschaffene, politische Bewegung.
Und so könnte hinter seinem Entschluss eine Strategie stecken, die erst auf den dritten Blick erkennbar ist: Denn, was Donald Trump im Wahlkampf unter allen Umständen vermeiden will, sind jegliche Anzeichen von Schwäche. Hätte er eine Frau als Vize-Kandidatin gewählt oder jemanden, der mangelhafte Eigenschaften von ihm ausgleichen soll, würde er wohl implizit zugeben, dass ihm selbst bestimmte Qualitäten fehlen. Als er vor seinem ersten Wahlkampf 2016 einst Mike Pence als seinen Stellvertreter wählte, benötigte Trump noch die Zustimmung argwöhnischer Wähler aus dem mittleren Westen, insbesondere von Evangelikalen.
In diesem Wahlkampf 2024 fühlt sich Donald Trump, beflügelt von seinen guten Umfragewerten, offenbar deutlich stärker als noch vor acht oder vier Jahren. So hat er etwa die Evangelikalen längst auf seiner Seite. Ihnen hat er mit einem wohl auf Jahrzehnte hinaus mit einer erzkonservativen Mehrheit besetzten Obersten Gerichtshof das wohl grösste Geschenk überhaupt gemacht. Für diese Gruppe braucht Donald Trump also keinen neuen Mike Pence, keinen, der netter und glaubwürdiger wirkt als er selbst.
Im Gegenteil, Donald Trump scheint mit J. D. Vance einen Mann ausgewählt zu haben, der wie ein Katalysator wirken könnte – ein deutlich jüngerer Kandidat, der ihn nicht ergänzen muss, sondern ihn noch heller erstrahlen lassen kann. Auf den ersten Blick wirkt die Wahl von Vance vielleicht etwas uninspiriert und wenig überraschend. Im Kern aber ist sie so etwas wie Trumps Maga-Booster, ein Verstärker der radikalsten Maga-Ideen.
Das wird auch deutlich bei Vances aussenpolitischen Positionen, wie seiner radikalen Haltung zur Ukraine. In einem Interview mit Trumps Berater Steve Bannon sagte er einst:
Diese Haltung ist in weiten Teilen der Republikanischen Partei, zumindest an der Basis, anschlussfähig.
OH Senate candidate JD Vance: “I think it’s ridiculous that we are focused on this border in Ukraine. I got to be honest with you, I don’t really care what happens to Ukraine one way or the other.” pic.twitter.com/QtZbckZf0b
— Ron Filipkowski (@RonFilipkowski) February 19, 2022
Wie problematisch ein solcher US-Vize-Präsident hingegen für die deutsche Bundesregierung werden kann, davon konnte man sich in diesem Jahr schon bei der Münchner Sicherheitskonferenz überzeugen, zu der J. D. Vance extra angereist war. Er sehe Putin nicht als «existenzielle Bedrohung» für Europa an, sagte er. Wenn dem so sei, dann müssten die Europäer eben stärker aufrüsten.
Eine wichtige Rolle bei Trumps Entscheidung für J. D. Vance dürfte ausserdem eine Überlegung gewesen sein, die mit sehr viel Geld zu tun hat. Der rechtskonservative Tech-Milliardär Peter Thiel ist ein grosser Förderer von ihm. Thiel hatte J. D. Vance einst bei seiner Firma «Mithril Capital» angestellt und später massiv in Vances eigenen Fonds «Narya Capital» investiert. Thiel brachte Trump und den einstigen Trump-Kritiker Vance erstmals im Jahr 2021 zusammen. Schliesslich spendete Thiel mehr als 15 Millionen Dollar für Vances Wahlkampf und trug damit erheblich zu dessen erfolgreicher Wahl zum Senator bei den Midterms 2022 bei.
Congratulations @JDVance1!
— Elon Musk (@elonmusk) July 15, 2024
Excellent decision by @realDonaldTrump.
Auch der weltweit vermögendste Mann gratulierte Donald Trump zu seiner «exzellenten Entscheidung»: Elon Musk. Er hatte sich im Hinblick auf die US-Wahl zwar längst für Trump ausgesprochen. Der Multimilliardär machte aber kein Geheimnis daraus, dass er den ehemaligen US-Präsidenten eigentlich für zu alt hält. Musk hatte sich darum zunächst für Floridas Gouverneur Ron DeSantis starkgemacht.
Nachdem dessen Kandidatur kläglich gescheitert war, wirkt J. D. Vance als Vize-Kandidat wie ein versöhnlicher Kompromiss angesichts Musks offensiver Unterstützung für Trump. Kurz nach der Bekanntgabe des Vize-Kandidaten wurde bekannt, dass Musk offenbar plant, fortan pro Monat 45 Millionen Dollar für den gemeinsamen Wahlkampf zu spenden.
Das Geld dieser beiden einflussreichen Milliardäre, ist damit so etwas wie die Mitgift, die J. D. Vance in diese politische Ehe mitbringt. Vance ist zudem ein glaubhafter Vertreter jener libertär-autoritären Ideen, denen Männer wie Trump, Musk und Thiel unter dem Deckmantel des Freiheitsbegriffs nachhängen. Thiel etwa schrieb schon 2009:
Nicht zuletzt dürfte für Trump auch eine wichtige Rolle gespielt haben, dass er J. D. Vance inzwischen für komplett kontrollierbar hält. Vor einigen Jahren hatte der ihn noch als «Amerikas Hitler» bezeichnet und davor gewarnt, Trump zu wählen. Mit zahlreichen öffentlichen Entschuldigungen und noch mehr Unterstützungen hat der junge Mann aus Ohio sozusagen ausreichend oft den Ring des Maga-Paten geküsst. Nach dem Attentat auf Donald Trump war J. D. Vance wohl darum auch einer der ersten, die in den sozialen Medien schrieben, dass Präsident Joe Biden letztlich für den versuchten Mord an Trump verantwortlich sei.
Today is not just some isolated incident.
— J.D. Vance (@JDVance1) July 14, 2024
The central premise of the Biden campaign is that President Donald Trump is an authoritarian fascist who must be stopped at all costs.
That rhetoric led directly to President Trump's attempted assassination.
Wie glaubhaft diese Unterwerfungs- und Loyalitäts-Gesten für Trump sind, zeigt sich auch daran, dass sich sein Sohn Donald Trump Junior schon lange öffentlich für den jetzigen Vize-Kandidaten einsetzt, der etwa im gleichen Alter wie er ist. J. D. Vance ist quasi «approved by the Trump-Family», also offiziell genehmigt vom verschworenen Clan aus Mar-a-Lago.
J. D. Vance als Vize-Kandidat spiegelt insgesamt das gewachsene Selbstbewusstsein Donald Trumps. Die Personalie ist eine Wahl mit Risiken, die andeutet, dass Trump sich politisch derzeit für unverwundbar hält. Das liegt auch an der grossen Krise der Demokraten. Sollten Joe Biden, Kamala Harris und die Demokraten weiterhin in den Umfragen so schlecht abschneiden, könnte es am 5. November darum sogar egal sein, ob Trumps Entscheidung für J. D. Vance eigentlich ein Fehler war oder nicht. Das spielt dann schlicht keine Rolle. Bei den Demokraten keimt aber bereits eine Hoffnung: Sie sprechen von Trump und Vance als einem Extremisten-Duo, das sie plötzlich glauben, schlagen zu können.
Verwendete Quellen:
Der nächste müsste wohl "Trennung von Milliardären und Staat" sein, sonst regieren tatsächlich definitiv einige wenige Menschen die Welt und die Demokratie geht unter.
Sobald Vance erstmals seine Meinung zu Abtreibung und Medicare teilt, ist die Wahl entschieden.
Von Thiel unterstützt bedeutet radikal libertäre Innenpolitk. Damit lassen sich aber keine Wähler in der Mitte gewinnen.
Trump gewinnt und wird gewählt, weil er viel redet, aber dann macht er, was er will. Und das mögen die Leute.
Erst ich, dann meine Familie und dann mein Land. Auch das kommt bei seinen Wählern gut an: der Sinn für Sippschaft.
Und schließlich hat er einen angeborenen Sinn für Spektakel und Inszenierung. Wir haben es gerade gesehen: jede Situation, auch eine tragische, verwandelt er sofort in Gold - hoffentlich werden in Zukunft die Wähler auch Gold essen können