Zum Abschied zeigt uns Herr Shahamat ein Foto seiner siebenjährigen Tochter. Sie heisst Simin. Ihr kindliches Lachen ziert den Sperrbildschirm seines Handys. Es ist nun mehr als drei Jahre her, seit er Simin das letzte Mal gesehen hat. Wenn er mit ihr telefoniere, frage sie immer: «Warum kommst du nicht zu uns?»
Es ist der 25. November 2018, der das Leben von Shahamat für immer verändern sollte. Seit wenigen Monaten leitet der Journalist die «BBC Persian-Abteilung» in Kabul. An jenem Tag erhält er einen Anruf eines Kollegen. Er sagt ihm, dass ein hochrangiger Kommandant der ethnischen Minderheit der Hazara von der afghanischen Regierung gefangen genommen wurde.
Shahamat, selber Hazara, teilt die Neuigkeiten auf Facebook. Die Nachricht verbreitet sich wie ein Lauffeuer. In den Strassen Kabuls versammeln sich Hazara, um für die Freilassung des Kommandanten zu demonstrieren. Auf der Gegenseite protestieren auch Paschtunen, welche die damalige Regierung stellten. «Die Situation war äusserst angespannt», erinnert sich Shahamat.
Die Regierung droht jenen, die verantwortlich für die Unruhen sind, mit Inhaftierung. Shahamat entscheidet sich, die Nacht aus Sicherheitsgründen im BBC-Büro zu verbringen. Raus traut er sich erst am kommenden Tag, als er zusammen mit dem Pressekorps den Präsidenten Aschraf Ghani nach Genf zur Afghanistan-Konferenz begleiten kann.
Die Demonstrationen und die Drohung der Regierung, die Verantwortlichen zu inhaftieren, sind die Tropfen, die das Fass für Shahamat zum Überlaufen bringen. Aufgrund seiner Berichterstattung sei er zwei Mal entführt worden, erzählt Shahamat. Seine Familie – er hat eine Frau, vier Töchter und einen Sohn – habe immer wieder aus Sicherheitsbedenken ihren Aufenthaltsort wechseln müssen. Dies ist zumindest seine Sichtweise. Das Staatssekretariat für Migration (SEM) sollte später sagen, dass sich «kein direkter Bezug zur Entführung» und der journalistischen Tätigkeit herleiten könne.
Eine Rückkehr nach Afghanistan kann sich Shahamat zu diesem Zeitpunkt nicht mehr vorstellen. Er fürchtet um sein Leben. Am 7. Dezember 2018 reicht er in der Schweiz ein Asylgesuch ein.
In Zürich schildert er den Behörden seinen Fall. Danach wird er in eine Unterkunft nach Rorschach gebracht. Ein Jahr später folgt der Transfer nach Herisau, wo er in einer «WG» lebt. Es vergehen eineinhalb Jahre, bis die Behörden einen Entscheid zu seinem Asylantrag fällen. Für Shahamat eine Unendlichkeit. Er kämpft mit psychischen Problemen.
«Es war sehr hart. Ich versuchte, nicht komplett in ein Loch zu stürzen. Ich trage Verantwortung für meine Familie. Speziell für meine vier Töchter. Das ist schwierig. Vor allem hatte ich Angst, dass ich nicht hier bleiben darf.»
Shahamat besucht alle zwei Wochen einen Psychologen und nimmt Schlaftabletten. Die Wohnsituation in Herisau ist schwierig.
«Man kann nicht auswählen, mit wem man zusammenlebt. Ein Mann, mit dem ich gewohnt habe, war sehr gefährlich. Die Polizei kam bei uns vorbei und musste ihn festnehmen. Der andere Mann ist seit zwölf Jahren in der Schweiz mit dem Status N. Er ist psychisch krank. Man kann nicht mit ihm sprechen. Jeden Moment kann er dich angreifen.»
Shahamat versucht, den widrigen Umständen zu trotzen. Mit Online-Kursen schult er angehende Journalisten in Afghanistan, für eine afghanische Fernsehstation produziert er weiter Beiträge. Einen Lohn erhält er dafür nicht, er braucht die Tätigkeit aber, um nicht noch weiter in die Negativspirale zu fallen.
Es sei wichtig, dass die Leute, die auf ihren Asylentscheid warten, arbeiten dürfen. Es treibe sie sonst in Isolation und erschwere die Integration, so Shahamat.
«Isolation hat nicht nur einen wirtschaftlichen Einfluss, sondern auch einen psychologischen. Es macht dich krank. Wenn man den Leuten nach mehreren Jahren des Wartens auf einen Asylentscheid ein Dokument in die Hand drückt, sind die oft gar nicht mehr in der Lage, zu arbeiten.»
Eineinhalb Jahre nach dem Shahamat seinen Antrag auf Asyl gestellt hat, erreicht ihn endlich der Entscheid des SEM. Er fällt jedoch nicht so aus, wie sich das der Afghane erhofft hat.
Im Schreiben vom 12. Juni 2020, das watson vorliegt, heisst es: «Sehr geehrter Herr Shahamat Sie haben am 7. Dezember 2018 in der Schweiz ein Asylgesuch eingereicht. Die Prüfung Ihrer Akten hat ergeben, dass Sie nicht als Flüchtling anerkannt werden können. Ihr Asylgesuch wird deshalb abgelehnt. Sie sind verpflichtet, die Schweiz zu verlassen.» Nichts in den gemachten Aussagen deute auf «eine permanent anhaltende Verfolgung Ihrer Person» hin, so die Begründung des SEM.
Shahamat ist mit dem Entscheid nicht einverstanden. Er erhebt Beschwerde und kann sich schon bald über einen ersten Zwischenerfolg freuen. Das Bundesverwaltungsgericht erlässt im Juli 2020 eine positive Zwischenverfügung und erachtet die Beschwerde als nicht aussichtslos. Shahamat kann mit einem N-Ausweis in der Schweiz bleiben, bis die Beschwerde vom Bundesverwaltungsgericht entschieden wird.
Ein Jahr nach der positiven Zwischenverfügung verschlechtert sich die Situation in Afghanistan dramatisch: Die Taliban erobern im Sommer 2021 die Hauptstadt Kabul. Für Hazara ist dies eine besonders schlechte Nachricht. Jahrzehntelang wurden sie von den Taliban verfolgt und müssen nun mit dem Schlimmsten rechnen.
Shahamat aktiviert all seine Kontakte, um seine Familie in Sicherheit zu bringen. Am 26. August 2021 werden sie mit einer Militärmaschine aus Kabul evakuiert. Die Evakuation ist ein einziger Spiessrutenlauf und äusserst gefährlich. An jenem Tag, an dem Shahamats Familie abfliegen kann, sprengt sich vor dem Kabuler Flughafen ein Selbstmordattentäter in die Luft. 183 Personen sterben, darunter 13 Mitglieder des US-Militärs.
Der Entscheid über Shahamats Aufenthaltsstatus lässt indes weiter auf sich warten. Er lässt dem Bundesverwaltungsgericht ein weiteres Schreiben zukommen, bittet um eine schnellere Behandlung des Verfahrens. Die Antwort erfolgt schnell. Man sei bemüht, um einen «baldigen Abschluss» des Verfahrens. Aber: «Das Bundesverwaltungsgericht ist allerdings zurzeit mit vielen Verfahren belastet, darunter auch mit solchen, die seit längerer Zeit hängig sind.»
Obschon die Verfahren sich hinziehen und Shahamat mit psychischen Problemen kämpft, hält er sich mit Kritik zurück. Er bedankt sich sogar für all die Hilfe, die er in der Schweiz erhalten hat.
«Es war eine harte Zeit, trotzdem bin ich der Schweiz sehr dankbar. Die Schweizer haben mich während dieser drei Jahren so oft unterstützt.»
Die Machteroberung der Taliban hat für Shahamat auch berufliche Konsequenzen. Die nationale TV-Station wird zugemacht, er verliert seine Tätigkeit. Shahamat bewirbt sich in der Schweiz, wird zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen, erhält dann aber eine Absage wegen seines Aufenthaltsstatus.
Mehr Glück hat er bei einer britischen Firma, die News produziert. Shahamat arbeitet von der Schweiz aus drei Monate für das Unternehmen, erhält einen guten Lohn, als er einen Brief des Kantons Appenzell Ausserrhoden erhält. Sein Gesuch um eine Bewilligung zur Erwerbstätigkeit wird abgelehnt. Wiederum erhebt er Beschwerde und arbeitet vorerst weiter.
Der Job ist für ihn sehr wichtig, denn seine Familie ist auf finanzielle Unterstützung angewiesen. Mittlerweile befinden sie sich in der Ukraine, wohin sie mit der Militärmaschine geflogen wurden. Auf der Schweizer Botschaft beantragen sie ein humanitäres Visum. Doch der Entscheid der Botschaft fällt negativ aus. Sie seien in der Ukraine sicher, so die Begründung.
Shahamats Familie wird zwar in der Ukraine geduldet. Unterstützung erhalten sie aber keine. Dank seines Lohns bei der britischen Firma kann er ihnen jedoch eine Wohnung mieten und für das Wichtigste aufkommen.
Was, wenn Shahamat den Job verlieren würde? Dann würde er von der Sozialhilfe leben müssen. Von 400 Franken pro Monat. Dies genüge kaum, um seine täglichen Ausgaben zu decken, sagt er. Seine Familie könne er mit diesem Betrag überhaupt nicht mehr unterstützen. Ob es denn nicht falsche Anreize schaffen würde, wenn die Sozialhilfe für Flüchtende höher ausfallen würde, wollen wir wissen. Würde der Migrationsdruck auf die Schweiz nicht grösser werden? Shahamat antwortet:
«Menschen aus Afghanistan nehmen den ganzen Weg über Iran, Türkei und Griechenland auf sich. Dieser Weg ist sehr gefährlich. Wenn sie hier ankommen, geht es ihnen nicht darum, ob sie 400 oder 1000 Franken erhalten. Sie wollen Sicherheit. Oder nehmen Sie mein Beispiel. Ich hatte ein gutes Leben in Afghanistan, habe viel Geld verdient und besass ein Haus. Ich bin hierhergekommen, weil ich dort nicht sicher bin. Nicht wegen des Geldes.»
Dann – nach über drei Jahren des Wartens und Zitterns – erhält Shahamat am 8. Februar die Nachricht, auf die er so lange gewartet hat. Das SEM hat seinen Fall neu beurteilt. Aufgrund der veränderten Situation in Afghanistan wird Shahamat in der Schweiz als Flüchtling anerkannt, erhält Asyl und bekommt somit eine Aufenthaltsbewilligung B. Er darf jetzt einer Erwerbstätigkeit nachgehen und reisen.
Nun will Shahamat alles Mögliche tun, um seine Familie in die Schweiz zu holen. Er ist sich sicher, dass sie sich innert kürzester Zeit integrieren wird. Er selber hat sich in den vergangenen drei Jahren beeindruckende Deutschkenntnisse angeeignet.
Noch gibt es weitere Hürden, bis Shahamat zusammen mit seiner Familie in Sicherheit leben kann. Zwar kann für seine Frau und die minderjährigen Kinder nun ein Familienasylgesuch eingereicht werden. Doch das Asylgesetz sieht vor, dass seine erwachsenen Töchter beim Familiennachzug nicht berücksichtigt werden. Sie müssten also in der Ukraine bleiben. Für seine Ehefrau ist deswegen klar: Solange nicht die ganze Familie in die Schweiz kommen kann, bleibt sie mit all ihren Kindern in der Ukraine.
Trotz all der Rückschläge, die er erlitten hat, bleibt Shahamat optimistisch. Er glaubt, dass er auch diese letzte Hürde noch überwinden und einen Weg finden wird, um seine ganze Familie in die Schweiz zu holen.
Nun freut sich Shahamat erst einmal auf das Wiedersehen: «Wenn ich den B-Ausweis in der Hand halten werde, gehe ich in die Ukraine und besuche meine Familie.» Dann kann er nach mehr als drei Jahren endlich auch seine Simin wieder in die Arme schliessen.
Hier werden von rechter Seite Staatsabhängigkeiten geschaffen, über die sich gleiche Seite enerviert.
Bonne Courage den Betroffenen 💪
ein fähiger, gebildeter und williger Mann hat tollen erfüllenden Job , und mit administrativen Spitzfindigkeiten lässt man ihn nicht arbeiten.
er hat eine sinnvolle Beschäftigung, kann seine Frau und Kinder unterstützen und zudem entlastet er unser Sozialwesen.
neben solchem Nonsens muss endlich auch das Tempo betreffend Entscheidung erhöht werden und ein klarer Zeitrahmen geschaffen werden. die Wartezeit ist unmenschlich und schädigt die Menschen, die eh bereits Traumata haben zusätzlich.