Wir essen mit Benedikt Weibel im Restaurant «Einstein» in Aarau zu Mittag. Am Nebentisch sitzen zwei Männer mittleren Alters, die immer wieder kurz rüber schauen. Schliesslich fasst sich einer der beiden ein Herz: Er kramt ein Buch aus der Tasche, geht auf Weibel zu und bittet um eine Widmung. Der ehemalige SBB-Chef zögert keine Sekunde – er freut sich, dass da jemand sein Erfolgsbuch gekauft hat: «Mir nach! Erfolgreich führen vom heiligen Benedikt bis Steve Jobs».
Erkennen die SBB-Mitarbeiter Sie im Zug noch?
Benedikt Weibel: Immer weniger. Ich bin jetzt seit mehr als sieben Jahren weg, da wächst eine neue Generation heran. Aber es kommt schon noch vor, dass Leute auf mich zukommen. Als SBB-Chef habe ich Tausende handgeschriebene Karten an Kunden verschickt. Ich wollte bei Reklamationen keinen vorgedruckten Roman mehr unterzeichnen, in welchem wir ausführlich erklärten, wieso der Anschluss verpasst wurde. Stattdessen habe ich mich kurz handschriftlich entschuldigt und eine Tageskarte beigelegt. Deshalb sagen mir noch heute – vorzugsweise ältere Damen –, dass ich ihnen mal eine solche Karte geschrieben hätte.
Haben Sie vorzugsweise älteren Damen geschrieben?
Nein, nein (lacht). Aber das war immer eine Fangruppe von mir, ich weiss auch nicht, warum. Aber diese handschriftlichen Karten waren eine der ganz kleinen Massnahmen, die schnell gemacht sind, aber eine grosse Wirkung erzielen.
Sind die Schweizer zu kritisch mit den SBB?
Nein, es ist gut, dass die Ansprüche derart hoch sind. Das ist eine Auszeichnung für die SBB. In Italien oder Deutschland erwarten die Leute gar nicht mehr, dass die Bahn pünktlich ist. Ich habe allerdings ein Problem damit, dass wir in der Schweiz nicht mehr merken, was wir eigentlich an unserer Bahn haben.
Dann wird also doch zu viel gejammert?
Was ich nicht begreife, ist diese ewige Diskussion über den Ausbau des Systems – obwohl wir schon einen unheimlich hohen Level haben. Ich war kürzlich in Lons-le-Saunier, der Hauptstadt des Departements Jura in Frankreich. Das ist ein grosser SNCF-Bahnhof auf einer wichtigen Verkehrslinie. Trotzdem war der Bahnhof an einem Freitagmorgen um 9 Uhr praktisch leer. Ich schaute mir die Abfahrtszeiten an und stellte fest, dass die Züge lediglich im Zweistundentakt fahren – und das nicht einmal durchgehend. Zwischen 6 und 12 Uhr fahren dort nur zehn Züge weg. Lons-le-Saunier hat 20'000 Einwohner, gleich viele wie meine Heimatstadt Solothurn. In Solothurn fahren innerhalb der gleichen Zeitspanne 96 Züge. Das sagt alles.
Die Bahn hat in der Schweiz eine grössere Bedeutung.
Die Franzosen haben Milliarden in den TGV investiert. Trotzdem ist der Zug bei uns eine echte Alternative zum Auto und in Frankreich nicht. Wir können im Mittelland jede halbe Stunde von überall nach überall, das ist genial. Wir haben das beste Verkehrssystem der Welt – aber mit Sicherheit auch das teuerste. Deshalb warne ich: Wir müssen vorsichtig sein mit Investitionen, wenn wir das erhalten wollen.
Das heisst, wir sollten die Bahn nicht weiter ausbauen?
Ich sage nicht, man soll gar nicht mehr weiter ausbauen. Aber man muss extrem vorsichtig sein. Die Betriebsinfrastruktur auszubauen, sollte das letzte Mittel sein, die Ultima Ratio. Erstens ist es extrem teuer, und zweitens zieht es hohe Folgekosten nach sich.
Aber was wollen Sie machen: Schon heute muss man regelmässig stehen.
Ich fahre viel Zug – und muss nie stehen. Ausser in der S-Bahn: Aber im
S-Bahn-Verkehr ist doch klar, dass man in den Spitzenzeiten stehen muss – das ist überall auf der Welt so. Stehen in der S-Bahn ist ein Zeichen wirtschaftlicher Stärke. Da haben wir Schweizer manchmal ein unrealistisches Bild und zu hohe Ansprüche.
Es gibt Pläne für den Bau einer neuen Bahnstrecke quer durchs Mittelland. Sie würden die Fahrt von Zürich nach Bern je nach Variante auf 42 oder gar 28 Minuten verkürzen. Braucht es das?
Nein, die absolute Geschwindigkeit sagt überhaupt nichts aus. Die Magnetschienen-Bahn ist endgültig ad acta gelegt, die Concorde fliegt nicht mehr ... Mit einer solchen Milliardeninvestition würden wir uns übernehmen.
Deutschland und Frankreich haben auch Hochgeschwindigkeitsstrecken gebaut.
Ja, weil diese Länder lange Distanzen haben, auf denen die Bahn heute eine Konkurrenz ist zum Flugzeug. In der Schweiz ist die Situation völlig anders. Gemäss Routenplaner habe ich von Bern nach Zürich mit dem Auto 90 Minuten, die Bahn braucht 56 Minuten. Deshalb hat sie schon heute einen Marktanteil von nahezu 100 Prozent. Wieso soll ich da noch mehr investieren? Wir haben eine unglaubliche Investitionsfixierung. Es gibt ein fundamentales ökonomisches Prinzip: dasjenige des abnehmenden Grenznutzens. Jede Investition, die ich zusätzlich mache, hat einen kleineren Nutzen. Und: Milliardeninvestitionen gefährden unser Bahnsystem, weil wir irgendwann den Unterhalt nicht mehr finanzieren können.
Wieso sind Politiker so ausbaugetrieben?
In der Schweiz treibt der Föderalismus das an – erst recht bei Projekten, die nicht selbst bezahlt werden müssen. Warum will Basel eine Bahn zum Flughafen? Wenn ich heute am Bahnhof Basel ankomme, habe ich immer einen Bus und ich kann direkt beim Check-in aussteigen. Was würde passieren mit einem Zug? Wenn ich von Bern komme, muss ich trotzdem in Basel umsteigen. Der Zug würde wahrscheinlich nur alle 30 Minuten fahren. Zudem wäre ein neuer Bahnhof mit Sicherheit rund 500 Meter neben dem Flughafen. Also muss man noch irgendein Rollband installieren. Kurz: Das Angebot würde schlechter, trotz Milliardeninvestitionen. Wieso will Basel diesen Flughafen-Anschluss? Die Antwort ist ganz einfach: weil Zürich und Genf einen haben.
Hören die Kantone nicht auf die Bahnen, wenn diese sagen, eine Verbindung mache keinen Sinn?
Etwas hat sich seit meiner Zeit fundamental verändert: Die SBB haben in diesen Diskussionen die Federführung verloren. Wenn früher etwas in Planung war, haben das die SBB gemacht – das sind ja die Profis. Mit Fabi ist diese Kompetenz an das Bundesamt gegangen. Das finde ich problematisch, das hätte ich bekämpft.
Was genau könnte passieren, wenn man falsch investiert?
Ich habe Angst, dass man wegen der Folgekosten in der Peripherie spart, also Verbindungen in Randgebiete streicht. Das fängt bereits ein bisschen an. Das würde mich extrem treffen – zumal man dort beim Sparen nicht viel rausholen kann. Finanziell gesehen ist es eher Symbolsparen, für die betroffenen Regionen jedoch wären die Auswirkungen enorm.
Die Stimmbürger haben am
9. Februar Fabi angenommen,
eine Vorlage, die dem öffentlichen Verkehr 6,4 Milliarden Franken zur Verfügung stellt, unter anderem auch für Ausbauten. War das demnach ein Fehler?
Nein, denn dort, wo es Sinn macht, müssen wir investieren – frühzeitig, bei Bahn und Strasse. Die Investition bei der Überlappung der Autobahnen A1 und A2 bei Härkingen kommt viel zu spät. Dort hätte man früher auf sechs Spuren ausbauen sollen. Wichtig ist einfach, dass wir immer mit möglichst wenig Aufwand möglichst viel herausholen. Das war in den 1980er-Jahren unser Konzept bei der «Bahn 2000». Wir haben mit 6 Milliarden Franken 135 Bauprojekte realisiert – allein der Ausbau des Bahnhofs Stuttgart kostet mehr! Auch heute ist es möglich, das Bahnsystem auf dem bestehenden Netz zu verbessern mit verhältnismässig bescheidenen Investitionen.
Haben Sie Vorschläge?
Wir sollten sämtliche weichen Massnahmen ausschöpfen. Wir müssen die Kapazitäten besser nutzen. Die Auslastung der Autobahnen und der Bahn ist extrem tief – bei der Bahn liegt sie bei 30 Prozent. Wir brauchen monetäre Anreize. Das ist komplex, aber wir müssen es testen. Ich könnte mir folgenden Versuch vorstellen: 100'000 Tickets à 10 Franken auf den Markt bringen, die abends ab 19 Uhr bis morgens um 6 Uhr gültig sind. Mal schauen, was passiert. Ich bin überzeugt, dass es dadurch eine zeitliche Verlagerung geben würde.
Schön und gut, doch die meisten Pendler können nicht wählen, wann sie zur Arbeit fahren, und müssen zu Stosszeiten gehen.
Es gibt relativ viel Spielraum – man muss halt eine Strategie entwickeln. Ein Beispiel: Um 7, 7.30 und 8 Uhr sind die Züge von Bern nach Zürich sehr stark belegt. In einen solchen Zug komme ich nicht auf die Minute genau. Ich bin fünf Minuten vorher dort. Dann gibt es in Bern einen zusätzlichen Zug um 7.11 Uhr. Der ist nur etwa zu 60 Prozent ausgelastet – ich zähle jeweils. Und auch im 6.30-Uhr-Zug hat es genug Platz. Sie sehen: Es braucht nicht viel.
Müssten die Arbeitgeber stärker in die Pflicht genommen werden, damit die Leute flexibler zur Arbeit gehen können?
Nicht unbedingt, viele haben doch schon heute gleitende Arbeitszeiten. Vieles hängt mit unseren Gewohnheiten zusammen. Ein Extrembeispiel: Die Leute, die zur Hauptreisezeit durch den Gotthard fahren. Da habe ich kein Erbarmen, wenn einer im Stau steht. Warum fahren die genau dann dort durch?
Hat es die Politik nicht verpasst, das Strassennetz der wachsenden Bevölkerung anzupassen?
Die Schweiz hat das dichteste Autobahnnetz der Welt. Wenn man nur während eineinhalb Stunden pro Tag ein Kapazitätsproblem hat, muss man nicht Milliarden in Ausbauten stecken. Es gibt andere Ansätze: Die Strasse ist mit der Auslastung genauso schlecht wie die Bahn. In einem Auto fahren im Durchschnitt 1,59 Personen – Tendenz sinkend. Carsharing-Konzepte könnten Gegensteuer geben. Oder in Paris gibt es überall Velos, die man mit einer Karte ausleihen kann. 70 Prozent der Pendlerfahrten im Auto sind weniger als 20 Kilometer lang. Das ist doch genau der Rayon des E-Bikes.
Ist Bahnfahren zu billig?
Nein. Die Menschen in der Schweiz sind zwar weniger preissensitiv als in anderen Ländern, aber auch hier kann es kippen: Wird Bahnfahren zu teuer, dann steigen die Leute aufs Auto um. Daran hat niemand ein Interesse, am allerwenigsten die Autofahrer.
Ein 2.-Klass-GA kostet heute 3550 Franken. Damit kann man unbeschränkt in der ganzen Schweiz fahren. Viele sagen: Der GA-Kunde zahlt zu wenig.
Damit bin ich überhaupt nicht einverstanden. Das ist ein korrekter Preis. Es ist immer so, dass derjenige, der über längere Distanzen fährt, etwas besser dran ist. Wer mit einer Skilift-Tageskarte die Abfahrt zwanzigmal macht, zahlt verhältnismässig auch weniger als derjenige, der nur fünfmal fährt. Dazu kommt: Ein grosser Teil der GA-Besitzer – vor allem die Senioren – schlagen ihr GA nie und nimmer heraus. Sie haben das GA, weil es praktisch ist.
Sie haben noch immer ein starkes Feuer für Verkehrsfragen. Bereuen Sie es manchmal, dass Sie nicht mehr so viel Einfluss nehmen wie früher?
Überhaupt nicht. Ich arbeite zwar immer noch sehr viel, aber ganz anders. Der operative Druck ist nicht mehr da. Der ist bei der Bahn extrem hoch.
Haben Sie das erst nach dem Rücktritt gemerkt oder war Ihnen das vorher schon bewusst?
Erst danach. Eine Bahn läuft rund um die Uhr, nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit passiert hin und wieder ein Unfall. Als es 2013 eine Häufung gab, habe ich inständig gehofft, dass nicht noch einmal etwas passiert. Ein Unfall ist das Schlimmste, was passieren kann. Letztes Jahr war ich froh, dass nicht mehr ich diese grosse Verantwortung tragen muss.
Fühlten Sie sich an das Unfalljahr 1994 zurückerinnert, als Sie als SBB-Chef in der Verantwortung standen?
Das war nicht vergleichbar. 1994 war viel gravierender. Damals hatten wir drei Mega-Unfälle, wie es seither keine mehr gegeben hat. Der erste war im März in Affoltern, als ein Benzinzug entgleiste und explodierte. Zwei Wochen später war das schwere Zugunglück in Däniken, als ein Baukran einen Zug aufschlitzte …
… wussten Sie, dass der heutige Bundesrat Johann Schneider-Ammann in diesem Zug sass?
Nein, das wusste ich nicht. Tatsächlich? Der Zug wurde aufgeschlitzt wie eine Sardinenbüchse. Neun Tote. Die Überlebenden hatten grosses Glück. Ein paar Monate später entgleiste ein Güterzeug im Bahnhof Lausanne, hochgiftiges Epichlorhydrin lief aus, der Stadtkern musste evakuiert werden. Hinzu kam eine Reihe von Unfällen auf dem Level wie letztes Jahr. Es war schrecklich.
Ist die Bahn seither sicherer geworden?
Ja, dank diesen Vorfällen. Wir haben Lehren gezogen. Das Verrückte war: Wir wussten vor den Unfällen, dass wir Mängel hatten im Sicherheitssystem. Wir versuchten Anpassungen vorzunehmen, aber wir kamen einfach nicht weiter. Erst danach kam ein 12-Punkte-Programm durch. Seither ist der Sicherheitslevel nicht mehr vergleichbar mit vorher. Das war für mich das wichtigste Jahr, das ich je erlebt habe.
Fühlt man sich als Chef persönlich verantwortlich für solche Vorfälle?
Ja. Es passierte genau dann, als wir anfingen zu rationalisieren. Da kam natürlich sofort der Vorwurf, das sei deswegen passiert. Ich denke, in der heutigen Medienlandschaft würde ich ein solches Horrorjahr nicht überleben. Aber das wäre schlecht, denn es gibt keine grössere Motivation als solche Ereignisse, die Sachen nachher besser zu machen.
Haben Sie Mitleid mit Ihrem Nachfolger Andreas Meyer, wenn er
medial gegrillt wird?
Nein, das gehört zum Job, da habe ich kein Mitleid. Kürzlich habe ich eine alte Ausgabe des «L’Hebdo» hervorgeholt, auf der ich auf der Front abgebildet war mit den Worten: «L’homme qui se moque des Romands». Das hängt dann eine ganze Woche am Kiosk …
Ab und zu werden Sie wieder mit Ihrer Zeit als SBB-Chef konfrontiert. Einige Experten sagen, dass der Unterhalt während Ihrer Amtszeit vernachlässigt worden sei.
Diese Vorwürfe sind nicht gerechtfertigt, in keiner Art und Weise.
Warum nicht?
Es gab nie irgendein Zeichen, dass wir zu wenig in den Unterhalt investiert hätten. Ich habe bereits 1992 – noch bevor ich Chef wurde – ein Strategiepapier geschrieben. Darin stand, dass wir die Bahn an die Wand fahren, wenn wir die Kosten nicht massiv herunterfahren. Als Grundbedingung stand aber auch drin: Die Substanz der Bahn darf nicht angerührt werden. Wir hatten nie Hinweise auf Mängel. Jetzt haben die SBB ein neues Diagnosefahrzeug, das mit Ultraschall in die Schienen schauen kann und nun zu anderen Schlüssen kommt. Aber dafür kann ich nichts.