Die Sommerferien sind vorbei. Die Kinder sind zurück in den Schulen, wo teilweise eine Maskenpflicht sowie Hygiene- und Abstandsregeln gelten. Denn die Coronazahlen kennen seit Ende Juni nur noch eine Richtung: aufwärts. Am Mittwoch wurden erstmals seit April mehr als 300 Infektionen an einem Tag kommuniziert.
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Gleichzeitig meldete das Bundesamt für Gesundheit (BAG) im Vergleich zum Vortag 19 neue Spitaleinweisungen und zwei neue Todesfälle. Die Diskrepanz ist offenkundig: Trotz vieler neuer Fälle bleibt die Hospitalisierungsrate vergleichsweise tief. Denn momentan stecken sich vor allem junge, gesunde Menschen an, die selten an Covid-19 erkranken.
Grund zur Panik besteht also nicht. Der Bundesrat, der in seiner letzten Sitzung vor den Ferien eine Maskenpflicht im öffentlichen Verkehr verordnete, verbrachte einen ziemlich ruhigen Sommer. Er musste keine einzige ausserplanmässige Sitzung abhalten. Zurück an Bord hob er sogleich das Verbot von Grossveranstaltungen per Ende September auf.
Man könnte die derzeitige Einstellung der Schweiz in der Corona-Pandemie mit «Abwarten und Tee trinken» umschreiben. Man versucht, die steigenden Fallzahlen mit punktuellen Massnahmen (Schliessung von Clubs, Masken in Innenräumen) zu bekämpfen, lockert ansonsten aber weiter und hofft, dass man sich irgendwie durchwursteln kann.
Es ist eine gefährliche Hoffnung, nicht zuletzt im Hinblick auf die kalte Jahreszeit, vor der Virologen warnen. Denn die kritischen Signale haben sich in letzter Zeit gehäuft.
Da wäre die Pannenserie beim BAG, die in der Falschmeldung gipfelte, ein gesunder junger Mann sei an Covid-19 gestorben. Sie erhärtet den Eindruck, dass die Behörden zunehmend im roten Bereich agieren. Darauf deuten auch die Friktionen zwischen Bund und Kantonen hin, die am «Krisengipfel» vom Dienstag nur notdürftig kaschiert werden konnten.
Der Chef der Firma Medgate, die die BAG-Hotline betreibt, beklagte am Mittwoch in Bern den «totalen Leadershipverlust» nach der Aufhebung des Notstands durch den Bund. Im Visier hatte er das aus seiner Sicht ungenügende Contact Tracing der Kantone. Sie würden nicht auf die ohnehin wenigen Alarmmeldungen der Swisscovid-App eingehen.
Nicht gerade beruhigend wirken auch neue Befunde der Wissenschaft. So haben ETH-Forscher errechnet, dass Infizierte länger ansteckend sind als gedacht. Sie könnten das Virus nicht erst zwei Tage vor Ausbruch der Krankheit weitergeben, sondern bis fünf oder sechs Tage davor. Was ein vernünftiges Contact Tracing fast verunmöglicht.
Eine Studie aus St.Gallen deutet zudem darauf hin, dass Menschen nach überstandener Infektion weniger lange immun sind als erhofft. Die Zahl der Antikörper im Blut nehme schon nach acht Wochen deutlich ab. Das könnte die Entwicklung von Impfstoffen erschweren. Und es wäre ein Rückschlag für die Befürworter einer «differenzierten Durchseuchung».
Diese Idee erhielt im Corona-Sommer ebenfalls Auftrieb. Dabei deutet wenig darauf hin, dass die Durchseuchung funktionieren würde. Die bisherigen Befunde aus Schweden, dem «Traumziel» der Durchseuchungs-Befürworter, sind ernüchternd. Das liegt vor allem daran, dass viele Menschen Angst vor dem Virus haben und sich nicht «immunisieren» wollen.
Sie ist berechtigt, denn obwohl jüngere und gesunde Menschen statistisch gesehen kaum schwer erkranken, gibt es «Ausreisser», etwa den Schriftsteller Jonas Lüscher. Er ist 43, hatte keine Vorerkrankungen und lag wegen Corona sieben Wochen im Koma. Solche Erfahrungen dürften viele davor abschrecken, einen Grossanlass zu besuchen.
Der Wunsch der Eishockeyliga, die gesamte Hallenkapazität auszureizen, könnte trotz Maskenpflicht zum Eigentor werden. Darauf deuten Erfahrungen mit anderen Indoor-Anlässen hin, etwa dem Lucerne Festival. Obwohl es in stark verkürzter Form stattfindet und nur die Hälfte der Plätze verkauft werden, kann und konnte man für fast alle Konzerte problemlos Karten bekommen.
Klassikfestivals und Sportanlässe richten sich nicht unbedingt an identische Zielgruppen. Aber das Coronavirus verschont niemanden. Konzertveranstalter und Sportklubs fordern vom Bund «Planungssicherheit». Das ist nachvollziehbar, denn ihnen droht der finanzielle Ruin. Doch eine Pandemie lässt sich nur schwer planen.
Davor warnt auch die Basler Biologin Emma Hodcroft in einem Thread auf Twitter. Die selbst ernannte «Virenjägerin» verweist auf Florida, einen Corona-Hotspot in den USA. Dort stieg nach der Öffnung die Zahl der Infektionen an, während die Hospitalisationen auf einem tiefen Stand verblieben, wie derzeit in der Schweiz und vielen Ländern Europas.
Mit der Zeit sei das Virus in Florida jedoch von den Jungen auf die ältere, wesentlich verwundbarere Generation «übergesprungen», warnt Hodcroft. Sie zeigt Verständnis für das zurückhaltende Vorgehen vieler Länder, denn wir alle hätten Covid-19 einfach satt. Auf Englisch liest sich das noch hübscher: «We are all so, so sick of #COVID19.»
Die Aussicht auf weitere wirtschaftliche Schäden sei erschreckend und die Furcht vor politischer Unbeliebtheit real, meint die Biologin. Wunschdenken und Leugnen aber würden nicht helfen, auch «Abwarten und Tee trinken» brächten es nicht. Es bestehe «ein sehr reales Risiko», dass die Übertragungen mit dem Wechsel der Jahreszeiten viel schlimmer würden.
Steuern wir nach dem relativ sorglosen Sommer also direkt auf einen trüben Herbst und einen langen, finsteren Corona-Winter zu? Das muss nicht sein. In Australien ist derzeit Winter. Der Bundesstaat Victoria mit der Metropole Melbourne erlebt eine zweite Welle samt Lockdown, während die ewige Rivalin Sydney im Staat New South Wales bislang verschont blieb.
Der australische Winter ist mit dem schweizerischen nur bedingt vergleichbar. Aber mit der Zulassung von Grossevents begeben wir uns auf einen riskanten Weg. Selbst der St.Galler Infektiologe Pietro Vernazza, der sich betont optimistisch zeigte, musste am Mittwoch in Bern zugeben: «Punkto Corona wissen wir, dass wir noch sehr wenig wissen.»
Wichtig war von Anfang an, dass das Gesundheitssystem nicht zusammen bricht. Das haben wir erreicht.... Aber nun wie weiter?
Natürlich können gesunde junge Menschen auch vom virus betroffen sein, aber statistisch gesehen... Naja, shit happens! Man kann auch von einem Auto überfahren werden.
Vielleicht gehört das nun mal zu einer neuen Realität, mit der wir uns abfinden müssen (wie früher mit allen Krankheit!) und lernen müssen, wie wir gezielt die wirklich gefährdeten Leute effektiv schützen.
Endlich wurde das wieder mal richtig dargestellt.
Ich meine nicht das mit den Jungen, sondern dass man noch nicht krank ist, wenn man sich angesteckt hat.
Einmal mehr ein Artikel, der den Teufel an die Wand malt und die Angst vor dem Winter schürt. Wenn, wenn, wenn, ich kann es echt nicht mehr hören (und lesen!!!).