Als schon fast niemand mehr daran glaubt, die Luft draussen zu sein scheint, kommt sie auf: die Spannung.
19 Minuten lang flirrt die Luft im Bundeshaus. Wird es plötzlich real, das im Vorfeld herumgereichte Szenario eines wilden Kandidaten.
Auf den Gesichtern der 246 Bundesparlamentariern spiegelt sich je nach Ratsseite Wut (links) oder Schadenfreude (rechts).
Was ist passiert?
Es ist 11:32 Uhr. Alle sechs wiederantretenden Bundesrätinnen und Bundesräte sind davor im ersten Wahlgang bestätigt worden.
Die Konkordanz, sie bleibt.
Jetzt geht es um den SP-Sitz des zurücktretenden Alain Berset. Beat Jans, der Favorit seit den Hearings, liegt erwartungsgemäss vorne. Doch der von der eigenen Partei abgestrafte Daniel Jositsch überholt den offiziell Nominierten Jon Pult deutlich. Das Resultat:
Jans macht 89 Stimmen. Jositsch kommt auf 63 Stimmen, Pult holt 49 Stimmen. 30 Stimmen entfallen auf den Grünen-Bundesratskandidaten Gerhard Andrey.
Dass keiner der beiden offiziellen SP-Kandidaten, Jans und Pult, im ersten Wahlgang gewählt wird, ist nicht überraschend.
Dass Jositsch Pult so deutlich überholt, ist dagegen Ausdruck der rechtsbürgerlichen Machtdemonstration. Und kommt einigermassen unvorhergesehen.
Eine sichtlich entnervte und die Wut in der Stimme nur mühsam zügelnde SP-Co-Fraktionschefin Samira Marti (BL) schreitet nach vorne zum Rednerpult. «Ich bitte Sie, entscheiden Sie sich für einen der beiden offiziellen Kandidaten», sagt sie an ihre Politikergspänli gerichtet.
Jositsch sitzt derweil lachend auf seinem Stuhl.
Es folgt der zweite Wahlgang. Während sich die Stimmenzähler zurückziehen, beraten sich die SP-Spitze um Mattea Meyer und Cédric Wermuth drinnen im Nationalratssaal mit düsteren Mienen. In der Wandelhalle steht ein grinsender Mauro Tuena (SVP/ZH). Das Resultat sei Ausdruck davon, wie «wenig zufriedenstellend das offizielle SP-Ticket» sei. Wen er gewählt hat, sagt Tuena nicht.
Um 11.51 Uhr kommt das Resultat des zweiten Wahlgangs. Wieder schafft niemand das absolute Mehr (124 Stimmen). Jans liegt mit 112 Stimmen weiterhin vorne, Jositsch kommt auf 70 Stimmen, Pult auf 54.
Nach kurzem Rechnen wird klar: Jositsch hat den Zenit erreicht, im nächsten oder spätestens im vierten Wahlgang dürften die Stimmen von Pult zu Jans gehen.
Und Jans neuer Bundesrat sein.
So kommt es dann auch: Um 12.07 hat die Schweiz mit Beat Jans einen neuen Bundesrat.
Basel-Stadt ist 50 Jahre nach dem Rücktritt von Hans-Peter Tschudi wieder in der Landesregierung vertreten. Standing Ovations. Eine staatsmännische Rede mit emotionalem Schluss.
Und so bleibt die neue Sitzverteilung die alte. Die Gesamterneuerungswahl verläuft erwartbar und ohne Überraschungen. Dafür mit Provokatiönchen, so gesetzt, dass Macht demonstriert wird, es aber zu keinem Erdbeben kommt.
Bei beiden FDP-Bundesräten hat die Linke ein bisschen gezündelt. Bei der Wahl von Ignazio Cassis kommt der Grüne-Bundesratskandidat Gerhard Andrey auf überraschend hohe 59 Stimmen. Nicht wenige SPler haben demnach Andrey gewählt.
Noch deutlicher wird der Unmut der Linken bei der Wahl von Karin Keller-Sutter. 21 Parlamentarier legen einen leeren Zettel ein, 15 wählen Andrey. Und nochmals 15 wählen FDP-Nationalrätin Anna Giacometti (GR).
Eine SP-Nationalrätin, die Giacometti gewählt hat, aber nicht mit Name hinstehen will, sagt: «Frau Keller-Sutters Politstil missfällt mir. Ich wollte ein Zeichen setzen, dass Frau Keller-Sutter nicht mit einem Top-Resultat gewählt wird.»
Giacometti selber zeigt sich «sehr überrascht» ob ihrer Nennung. «Dass mein Name auftaucht, ist mir peinlich, da es hier ja um die Wiederwahl meiner Parteikollegin geht.» Sie habe Fraktionschef Damien Cottier sofort gesagt, dass sie zuvor von nichts gewusst habe. Und nicht zur Verfügung stehe.
Und so geht ein langer – über weite Strecken erwartbarer – Wahlmorgen zu Ende. Er zeigt: Ein wichtiger Pfeiler des Schweizer Politsystems ist die Stabilität. Zumindest noch.
Wie stark dieser Pfeiler wackelt, zeigt sich bei der nächsten Vakanz. Weder die Grünen noch die Mitte dürfte ihren Anspruch auf einen (weiteren) Bundesratssitz begraben.
Darauf angesprochen, dass nun wohl ein ungeheurer Druck auf den beiden FDP-Bundesräten laste, weil ihr Rücktritt den zweiten Sitz gefährde, sagt Parteichef Thierry Burkart einzig: «Ich stelle mit Genugtuung fest, dass sich das Parlament für Stabilität ausgesprochen hat.»