Die Schweiz lockere zu schnell. Das sagte letzte Woche nicht irgendwer, sondern Matthias Egger, der Chef der wissenschaftlichen Corona-Task-Force, im Interview mit der NZZ, der «SonntagsZeitung» und dem «Blick».
Zwar sei der bisherige Verlauf der Epidemie sehr erfreulich, aber in den letzten zwei Wochen seien die Fallzahlen wieder gestiegen. Momentan liegt die Reproduktionszahl des Virus knapp über 1. Das sei auf die Lockerungen vom 11. Mai zurückzuführen, die Auswirkungen der späteren Lockerungen seien noch nicht abzusehen. Sein Fazit: Die Öffnungen seien zu gewagt.
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Diesem Schluss widerspricht aber der Leiter der Abteilung übertragbare Krankheiten des BAG und Koch-Nachfolger Stefan Kuster in der Mittwochs-Ausgabe des «Tages-Anzeigers»: «Mit den stabil tiefen Fallzahlen gehen wir davon aus, dass es die Lockerungen verträgt.»
Er bekräftigt, dass das Lockerungstempo ein gewisses Risiko birgt, aber: «Würde man den Fokus nur darauf ausrichten, Ansteckungen vollständig zu verhindern, müssten wir dauernd im Lockdown bleiben.» Ausserdem sei er davon überzeugt, dass der Bundesrat die Risiken ausgewogen und angemessen berücksichtige.
Bundesrat Berset äusserte sich am Mittwoch noch selbst zur Kritik Eggers: Jeder habe eine andere Perspektive und das sei auch gut so. Aber der Bundesrat könne nicht auf Einzelne hören, sondern es gebe viele Interessensvertreter, die erhört werden wollen.
Kuster wiegelte bereits im Interview mit dem «Tages-Anzeiger» ab. Falls es doch zu einem Anstieg kommt, hat man ja immer noch das Contact Tracing, um potentielle Infektionsherde zu entdecken und entsprechend zu reagieren. Das führt direkt zum nächsten Konflikt.
Nein, zumindest gemäss Egger. Nicht nur die Art und die Menge der Daten seien derzeit noch mangelhaft. Auch die Geschwindigkeit, mit der die Informationen im BAG eintreffen, genüge nicht, um die Coronapandemie in der Schweiz zeitlich und geografisch in Echtzeit verfolgen zu können. Das wäre aber nötig für eine fundierte Beurteilung der steigenden Fallzahlen, sagte Matthias Egger gegenüber der NZZ am vergangenen Freitag.
Unterstützung erhält er von Marcel Tanner, ebenfalls Experte in der Science Task Force. Auch er kritisiert gegenüber den Tamedia-Zeitungen die Geschwindigkeit der Datenübermittlung: «Wir müssen beim kleinsten Rauch losfahren und nicht erst, wenn schon ein ganzer Strassenzug in Flammen steht.» Ausserdem bemängelt er, dass sich nicht alle Kantone gleich anstrengten. Dazu kommt, dass nicht alle Kantone über die gleichen Kapazitäten verfügen würden.
Kuster hingegen stört sich am Begriff «Echtzeit» beim Contact Tracing: «Wenn damit gemeint ist, dass man eine Ansteckung in Echtzeit sieht, dann ist das natürlich nicht der Fall und wird es auch nie sein.»
Ganz so langsam wie von den Wissenschaftlern sei das Contact Tracing nicht: «Vom Zeitpunkt an, in dem sich eine Person mit Krankheitssymptomen meldet und testen lässt, haben die Kantone die Situation auf dem Radar. Zwei Stunden nach Vorliegen des Laborresultats muss dieses den Kantonsärzten gemeldet werden. Und diese werden dann aktiv, um die Infektionskette zu unterbrechen.»
An der Pressekonferenz vom Mittwoch hiess es von Seiten Kuster, dass man zum Teil wisse, wo sich die Leute infiziert haben, zum Teil aber auch nicht. Zu Mega-Clustern sei es nicht gekommen.
Je nachdem, wen man fragt, kommen ganz unterschiedliche Antworten heraus. Tenor ist aber: Eigentlich wäre es ganz gut, wenn alle Schweizerinnen und Schweizer eine Schutzmaske in der Öffentlichkeit und insbesondere im ÖV tragen würden. Nur: Fast niemand hält sich an die Empfehlung.
Trotzdem ist der Bundesrat dagegen, eine allgemeine Maskenpflicht zu verfügen. Matthias Egger ist anderer Meinung: «Mit den neuen Lockerungen sind wir wohl bald am Punkt angekommen, an dem eine breite Maskenpflicht eingeführt werden muss», sagte der Leiter der Task Force.
BAG-Kuster sagt, dass die Maskenpflicht im ÖV «durchaus eine Option» sei, sollte sich die Bevölkerung nicht an die Empfehlungen halten. Auch wenn in vollen Zügen zunehmend Masken angelegt würden, täten dies noch zu wenige. Wann also sollte eine Maskenpflicht kommen? Konkreter wurde Kuster nicht.
Gemäss einer nicht repräsentativen Leserbefragung von Tamedia (publiziert am Mittwoch) mit 10'000 Teilnehmern befürwortet übrigens eine grosse Mehrheit von 78 Prozent eine Maskentragpflicht im ÖV.
Gegen eine Maskenpflicht wehrt sich auch der ÖV. Vom Verband Öffentlicher Verkehr hiess es etwa: «Wir möchten nicht, dass der öffentliche Verkehr stigmatisiert wird. Der ÖV wird in der Schweiz geschätzt und ist kein Sonderfall. Deshalb möchten wir keine andere Regelung.»
Bundesrat Berset gab am vergangenen Freitag die Verantwortung für eine solche Verordnung an die Kantone ab. Wunderbar, dachte sich wohl der Genfer Gesundheitsdirektor Mauro Poggia und bereitete einen entsprechenden Vorschlag vor, am Donnerstag könnte das Parlament darüber abstimmen.
Die Pläne Poggias riefen anfangs Woche aber das Bundesamt für Verkehr (BAV) auf den Plan: Seiner Ansicht nach könnte der Bund einen Genfer Alleingang stoppen. Denn: Gemäss Bundesverfassung ist das Transportrecht weitgehend Bundesrecht. Falls das BAV nicht der Meinung wäre, dass es genügend epidemiologische Gründe für eine Maskenpflicht gebe, könnte es dies verhindern.
Von der Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektoren (GDK) gibt es grundsätzlich Unterstützung für die Ideen Poggias. Aber: Eine generelle Maskenpflicht für den ÖV müsste mit dem Bund abgesprochen werden, meint GDK-Generalsekretär Michael Jordi. Geplant ist ein Treffen der GDK mit dem Bund noch vor den Sommerferien.
Das nächste Problem kommt aber postwendend: In den Kantonen ist man sich nicht einig. Während eine Maskenpflicht von Luzerner Seite positiv aufgenommen wird, gibt es Kritik aus St.Gallen: Regierungspräsident Bruno Damman findet es nicht verhältnismässig. Ähnlicher Meinung ist man im Tessin: Regierungspräsident Norman Gobbi setzt lieber auf Eigenverantwortung, das habe bis jetzt gut geklappt, sagt er zum Blick.
So viel zur Verwirrung. An der Pressekonferenz am Mittwoch fragte ein Journalist nochmals nach, ob denn die Kantone wirklich selbst bestimmen können. Berset antwortete: «Es gibt viele Fragen, die wir momentan abklären, aber ja, ich glaube, das können sie.» Ob es auch nötig sei, dazu wollte der Gesundheitsminister keine Stellung nehmen: «Ob die heutige epidemiologische Situation es erforderlich machen würde, dass kann ich nicht beurteilen.»
Letzte Woche sagte mir mein Arzt, dass er gerade eine Person positiv getestet hatte. (Kein Wunder waren alle in der Praxis mit Masken und Brille unterwegs)
Da merkt man dann plötzlich, dass es ja immer noch da ist.
Vielleicht wäre es sinnvoll, wenn die Zahlen genauer nach Region, (mindestens Bezirk, vielleicht sogar Gemeinde) publiziert würden. Wenn in der gleichen Gemeinde 10 Leute infiziert wären, würde dort wahrscheinlich niemand mehr ohne Maske in den ÖV steigen.