Gemessen an den Prognosen der Politologen und den Umfragen der Institute gab es bei der Wahl vom Sonntag wenig Unerwartetes. Blickt man hingegen etwas näher auf einzelne Schauplätze, so gab es doch ein paar erstaunliche Ergebnisse.
Eine Auswahl:
Mit Anna Rosenwasser und Islam Alijaj ziehen zwei neue SP-Nationalräte für den Kanton Zürich ins Bundeshaus ein.
Polit-Influencerin und Aktivistin Anna Rosenwasser hat für die SP den Sprung in den Nationalrat geschafft. Sie profitiert davon, dass die SP um 3,83 Prozentpunkte zulegte, was zu einem zusätzlichen Sitz führte. Rosenwasser gelang dabei ein seltenes Kunststück: Sie «rutschte» vom Listenplatz 20 auf den 8. Platz und damit gleich ins Bundeshaus.
Gegenüber watson erzählt die Aktivistin, wie gross auch ihre eigene Überraschung war:
Ebenfalls gewählt ist für die SP Inklusionspolitiker Islam Alijaj. Sein Ziel ist eine «Behindertenrevolution»: Alijaj kämpft dafür, dass Menschen mit Behinderungen in der Schweiz komplett gleichgestellt sind. Der SP-Politiker politisiert seit 2022 im Zürcher Stadtparlament. Mit seiner Wahl ist Islam Alijaj der erste SP-Nationalrat mit Zerebralparese – und der erste Nationalrat mit kosovarischen Wurzeln überhaupt.
Meret Schneider sass vier Jahre lang im Nationalrat, nun konnte sie ihren Sitz nicht verteidigen. Die 33-Jährige setzt sich für Tier- und Umweltschutz ein und ist bekannt als Veganerin, die aber nicht immer auf Parteilinie politisierte und auch mal Brücken schlagen konnte – zum Beispiel mit den Bauern. Mit 47 eingereichten Motionen war sie die Rekordhalterin der noch laufenden Legislatur.
Zuletzt sorgte Meret Schneider für Schlagzeilen, als sie von der Plattform X gesperrt wurde. Eben dort äusserte sie sich am Sonntagabend zu ihrer Abwahl, die «brutal schmerzhaft» sei.
Ja Freunde, ich bin abgewählt. Das ist brutal schmerzhaft und im Moment möchte ich einfach nur im Boden versinken. Ich habe mein Allerbestes gegeben, danke trotzdem von Herzen für jede Stimme❤️ pic.twitter.com/VVeODTUtPQ
— Meret Schneider (@Schneimere) October 22, 2023
Auch mit Natalie Imboden, Nationalrätin aus Bern, verliert die Partei ein bekanntes Gesicht. Imboden ist Generalsekretärin des Mieter:innen-Verbands. Nach ihrer Abwahl habe sie keinen «Plan B», sagte Imboden gegenüber dem «Bund».
Auch der Basler SP-Nationalrat Mustafa Atici hat am Sonntag die Wiederwahl in den Nationalrat nicht geschafft, seine Abwahl gilt als eine der grösseren Überraschungen. Atici galt für eine Weile als möglicher Bundesratskandidat, ehe er sich im September doch noch zurückzog.
Die Schwyzer FDP-Nationalrätin Petra Gössi hat Othmar Reichmuth (Mitte) aus dem Ständerat gedrängt. Gössi ist damit die erste Frau, die vom Kanton Schwyz ins «Stöckli» geschickt wird. Ausserdem verdrängt sie mit Reichmuth einen amtierenden Ständerat, was eher aussergewöhnlich ist.
Herzliche Gratulation @PetraGoessi zur Wahl in den Ständerat 👏😄👍 FDP.Die Liberalen. Wir machen die #Schweiz stark. pic.twitter.com/jRHTlz4gri
— FDP.Die Liberalen Einsiedeln (@FDPEinsiedeln) October 22, 2023
Als Parteipräsidentin hatte die Schwyzerin weniger Erfolg: An der Spitze der FDP versuchte sie, ihrer Partei einen grüneren Anstrich zu geben – vergeblich. Gössi erklärte nach dem Volks-«Nein» zum CO₂-Gesetz ihren Rücktritt. Ihrer eigenen Politkarriere scheint dieser Schritt hingegen keinen Abbruch getan zu haben.
Neben Gössi schaffte auch ein zweiter Ständerat seine Wiederwahl nicht. Der Neuenburger Freisinnige Philippe Bauer muss dem Sozialdemokraten Baptiste Hurni überraschend Platz machen. Bauers Wiederwahl galt als gesetzt – auch wenn er selber einige Zweifel äusserte. Für die Abwahl gab Bauer der starken Mobilisierung von links und dem Proporzsystem die Schuld.
Viele Ständeräte wurden am Sonntag im ersten Wahlgang gewählt, der Präsident der grössten Schweizer Partei – und der grossen Wahl-Gewinnerin – aber gehört nicht dazu: Marco Chiesa hat zwar in seinem Kanton Tessin die meisten Stimmen geholt, trotzdem reicht es ihm nicht auf Anhieb zur Wiederwahl ins Stöckli. Es kommt zu einem zweiten Wahlgang am 19. November. Zwar wurde im Vorhinein spekuliert, dass es eng werden könnte – trotzdem ist es ein Zeichen dafür, dass ihm die Tessiner Bevölkerung (noch) nicht ihr vollstes Vertrauen entgegenbrachte.
Trotz Rekord-Wahlkampfbudget hat der Zürcher EVP-Kandidat Donato Scognamiglio die Wahl in den Nationalrat nicht geschafft. Scognamiglio investierte stolze 365'000 Franken in seinen Wahlkampf. Es war die landesweit höchste Summe für eine Einzelperson im Nationalratswahlkampf.
Genützt hat es dem Wirtschaftsprofessor, Immobilienexperten und Schlossherren wenig: Er holte nur 17'924 Stimmen. Damit landete er auf dem zweiten Platz der EVP-Liste. Gewählt wurde erneut Nik Gugger.
Die EVP verliert den Sitz ihrer Parteipräsidentin, die Genfer Protestpartei Mouvement Citoyen Genevois (MCG) feiert ein Comeback, die Partei der Arbeit (PdA) verliert ihren letzten Mann im Parlament und Mass-Voll scheitert – bei den Kleinen hat sich was getan.
Die EVP – derzeit Teil der Mitte-Fraktion – verliert mit Parteipräsidentin Lilian Studer (AG) einen ihrer drei Sitze.
Überhaupt nicht mehr vertreten im Nationalrat sind die Partei der Arbeit (PdA) und das Linksbündnis Ensemble à Gauche (EàG); sie verloren ihre beiden Sitze.
Vom Jahrhundertereignis Covid-Krise bleibt auf parlamentarischer Ebene schon kurze Zeit danach gar nichts mehr. Weder die Bürgerbewegungen Mass-Voll noch Aufrecht konnten die Proteststimmung aus den Corona-Jahren in Sitze ummünzen.
Ebenfalls auffallend ist das Comeback des MCG im Kanton Genf. Die Protestpartei war bereits von 2011 bis 2019 in der grossen Kammer vertreten. Die personelle Zusammensetzung der neuen MCG-Vertretung im Nationalrat wird vom Ergebnis des zweiten Wahlgangs der Ständeratswahlen abhängen.
Sicher ist: Der ehemalige Staatsrat Mauro Poggia, der von 2011 bis 2013 im Nationalrat gesessen hatte, und Roger Golay, der ihm bis 2019 gefolgt war, kehren unter die Bundeshauskuppel zurück. Poggia hat allerdings auch noch Chancen auf eine Wahl in den Ständerat.
(lak, mit Material der SDA)