Man kann sie verstehen, die Menschen, die einst den Anfang machten und dort siedelten, wo Brienz bis heute liegt. Über tausend Jahre ist es her, dass das Dorf erstmals erwähnt wurde. Es liegt auf einer natürlichen Terrasse im Albulatal, umrahmt von Wäldern und Wiesen.
Im Rücken von Brienz im Bündner Albulatal aber tut sich eine graue Narbe auf. Fels und Geröll liegen dort an der Flanke des Piz Linard. Sie zeugen davon, dass etwas nicht stimmt mit dem Dorf. Seit vielen Jahren bröckelt der Berg.
Die gut 100 Menschen, die heute noch in Brienz leben, haben sich längst daran gewöhnt. Doch etwas ist passiert in den letzten Jahren, die Kräfte der Natur zerren immer stärker an Brienz. Und eine Frage wird immer drängender: Hat das Dorf hier eine Zukunft?
Letzte Woche hat die Gemeinde Albula, zu der Brienz gehört, eine Informationsveranstaltung für die Menschen im Dorf veranstaltet. Es war schon die zweite in diesem Jahr, und allein die Teilnehmerliste zeigt, wie ernst die Lage ist: Zwei Bündner Regierungsräte waren gekommen, dazu der Vizedirektor des Bundesamts für Umwelt und eine Reihe von Experten.
112 Folien lang war die Präsentation. Eine von ihnen zeigt zwei Kurven, die immer weiter in die Höhe wachsen, und nichts veranschaulicht besser, wie sehr die Dinge in Brienz in Bewegung geraten sind. Das Dorf, vermuten Experten, liegt auf einer Art Scholle innerhalb des sogenannten Brienzer Rutsch.
Dieser bewegt sich seit langem ins Tal. Doch in den letzten Jahren hat er das immer schneller getan. Bis vor ein paar Jahren betrug die Rutschgeschwindigkeit 10 Zentimeter pro Jahr. Heute ist es schon über ein Meter. In den letzten zwei Jahren hat sich ein weiteres Problem verschärft: Auch der Fels oberhalb von Brienz bewegt sich jetzt stärker, es droht ein Bergsturz.
Andri Largiadèr, der zuständige Experte vom Kanton, vermutet einen Zusammenhang – dass also der Fels bröckelt, weil sich der gewaltige, 2.5 Quadratkilometer grosse Rutsch schneller bewegt.
Schon länger, seit 2017, ist Brienz eine rote Zone, in der keine neuen Häuser mehr gebaut werden dürfen. Jetzt hat die Bündner Regierung die Situation zur «besonderen Lage» erklärt und unterstützt die Gemeinde mit Geld und Personal.
Der Berg oberhalb von Brienz gehört heute zu den bestüberwachten im ganzen Land, jede Bewegung wird von Reflektoren, Radargeräten und GPS-Empfängern registriert. Es gibt ein Evakuierungskonzept für die Bevölkerung, zu dem ein SMS-Alarm gehört.
Seit einem Jahr steht an der Verbindungsstrasse nach Lenzerheide eine Ampel, die auf Rot schaltet, sobald sich der Berg bewegt. Derzeit passiert das mehrmals täglich. Das alles reicht vielleicht, um das Risiko zu verwalten. Doch es reicht nicht, um Brienz zu retten.
Es werde alles unternommen, was möglich ist, sagt Mario Cavigelli, der Vorsteher des Bau- und Verkehrsdepartements. Doch seit diesem Jahr gibt es für Brienz auch noch ein anderes Szenario, eines, mit dem sich in der Schweiz bisher noch kein ganzes Dorf befassen musste: das der Umsiedlung.
«Wir müssen alles in Betracht ziehen», sagt Gemeindepräsident Daniel Albertin, «aber wir hoffen, dass wir das dereinst in einer Schublade verstauen können». In diesen Tagen erhalten die Bewohner von Brienz einen Fragebogen, auf dem sie etwa angeben müssen, wie und wo sie sich ihren neuen Wohnort vorstellen.
Parallel dazu wird die Suche nach einer anderen Lösung vorangetrieben. Im Vordergrund steht der Bau eines Entwässerungsstollens. Auf diese Weise soll dem Erdreich Wasser entzogen und der Brienzer Rutsch verlangsamt werden. An sechs Orten haben die Experten schon in den Untergrund gebohrt, doch sie wissen noch immer nicht genug darüber, was unter dem Dorf vor sich geht.
Es ist eine schwierige Situation für die Fachleute, denn die Ungeduld im Dorf wächst. «Wir versuchen aufs Tempo zu drücken, doch gewisse, wichtige Abklärungen erfordern viel Zeit», sagt Largiadèr.
Derzeit sind in Brienz noch viele Fragen offen. Doch eines steht heute schon fest: Der Fall Brienz wirft eine Frage auf, die für das ganze Land von Belang ist. Wie viel will sich das Alpenland Schweiz den Erhalt gefährdeter Siedlungen in den Bergen kosten lassen? Es spricht einiges dafür, dass sie sich im Zuge des Klimawandels künftig häufiger stellen wird.
In Brienz weiss noch niemand, ob ein Entwässerungsstollen tatsächlich die Lösung ist – und erst recht weiss niemand, wie teuer das Vorhaben werden würde. Die Schätzungen reichen von 20 bis zu 80 Millionen Franken. «Diese Kosten sind sehr grob geschätzt», sagt Largiadèr.
Am Ende entscheiden nicht nur die Brienzer, wie es mit ihrem Dorf weitergeht. Denn die Kosten für einen Entwässerungsstollen werden grösstenteils der Kanton und der Bund tragen. Letzterer subventioniert 35 bis 45 Prozent der Kosten für Sanierungsmassnahmen. Aber nur unter gewissen Voraussetzungen, das betonte der Vizedirektor des Umweltamts, Paul Steffen, in Brienz.
Bei der Abwägung, ob eine Massnahme verhältnismässig ist, fliessen verschiedene Faktoren ein. Zum einen der ökonomische, der Kosten-Nutzen-Faktor, der misst, welche Schäden an Gebäuden oder anderen Infrastrukturen wie Strassen sich mit einer Massnahme potenziell verhindern lassen.
Zum anderen sind da auch noch sozio-politische oder kulturelle Faktoren, welche deutlich schwerer messbar sind. Und die einiges an politischer Sprengkraft bergen. Denn letztlich geht es um die Frage, wie viel sich die Schweiz die Erhaltung von Dörfern wie Brienz kosten lassen will.
Seit herzlich willkommen.