Vergessen ist die Petition von Umwelt- und Tierschutzorganisationen, die das Wallis 2021 zum Verbot von Steinbock-Safaris zwang. Ab dem 1. März dürfen reiche Touristinnen und Touristen aus dem In- und Ausland wieder Jagd auf die geschützte Art machen.
Die Walliser Regierung stellt sich auf den Standpunkt: Die Steinböcke müssen ohnehin reguliert werden. Da macht es keinen Unterschied, wer sie schiesst und ob der Kanton mit den Einnahmen auch noch die Steuerzahlenden entlastet.
Theoretisch stimmt das. Aber gerade im Kanton Wallis hinterlässt dieses Argument einen faden Beigeschmack. Um dies zu verstehen, muss man die Leidensgeschichte des Steinbocks in der Schweiz und insbesondere im Wallis kennen.
Der Mensch ist schon seit jeher fasziniert vom Steinbock, dem «König der Alpen». Darum macht er auch schon seit jeher auf ihn Jagd. Es geht ihm nicht nur um sein Fleisch. Der Mensch hat in der Vergangenheit ziemlich jedem Körperteil des Steinbocks eine wundersame Wirkung auf Körper, Geist und Seele unterstellt. Vom Blut über das Herz bis hin zu den Hörnern.
Daneben ist der Steinbock leichte Beute. Er ist tagaktiv und weder scheu noch schreckhaft. Die Folge: Je mehr Menschen und je fortschrittlicher ihre Waffen, desto stärker schrumpft die Steinbockpopulation.
Im Jahr 1809 wird im Wallis schliesslich der letzte Steinbock der Schweiz erlegt. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts ist er in ganz Europa ausgestorben. Mit einer kleinen Ausnahme.
Im Norden Italiens überlebt eine kleine Population von wenigen hundert Steinböcken. Zu verdanken hat sie das dem italienischen König Vittorio Emanuele II. Er hat 1856 das königliche Jagdschutzgebiet Gran Paradiso errichtet. Weil nur er die Tiere hier bejagen darf, lässt er sie von 50 Jägern bewachen. So schafft der König unbewusst eine kleine Schutzzone für den Steinbock.
1892 erfährt der St.Galler Hotelier Robert Mader von diesem Schutzgebiet. Er ist Mitgründer des Wildparks Peter und Paul, hoch über der Stadt St.Gallen, und setzt sich eine Mission in den Kopf: Er will den Steinbock im Tierpark züchten und anschliessend in der Schweizer Wildnis wiederansiedeln.
Mader bittet den italienischen König um einige seiner Kitze. Doch dieser lehnt ab. Maders Plan B: Er engagiert einen Wilderer, der unter Lebensgefahr Kitze aus dem Besitz des italienischen Königs stehlen und nach St.Gallen schmuggeln soll. 1906 treffen so die ersten beiden Kitze in St.Gallen ein. Mader kann mit seiner grossangelegten Wiederansiedlung beginnen. Und ist erfolgreich.
1938 leben bereits zwölf Kolonien mit über 500 Tieren in der Schweizer Wildnis. Nicht einmal hundert Jahre später, 2021, sind es gemäss Bundesamt für Umwelt (BAFU) schon 18'000 Steinböcke.
Ohne Robert Mader wäre der Steinbock wohl in ganz Europa ausgestorben. Denn selbst im Jagdgebiet des italienischen Königs kam der Steinbock im Zweiten Weltkrieg unter Druck, da die Bevölkerung ihn zunehmend jagte. Heute wird die Steinbockpopulation im gesamten Alpenraum auf über 50'000 Tiere geschätzt.
Die Freude über die Rückkehr des Steinbocks währt allerdings nicht lange. Bereits 1934 klagen die ersten Bauern in den Berner Voralpen über Schäden auf Wiesen und in Wäldern. Mit dem steten Anstieg der Population häufen sich Forderungen, den Steinbock wieder jagen zu dürfen.
Ab 1977 geben einzelne Kantone den geschützten Steinbock zum Abschuss frei. 1988 zieht der Bund nach und erlaubt die Regulierung schweizweit. Allerdings nur unter strengen Bedingungen. So brauchen die Kantone für jeden Abschuss eine Bewilligung vom Bundesamt für Umwelt (BAFU).
De facto beginnt mit diesem Entscheid die Trophäenjagd auf den König der Alpen von Neuem. Und der Kanton Wallis, der besonders viele Steinböcke beherbergt, entdeckt eine Marktlücke.
Als einziger Kanton erlaubt das Wallis 1991 ausländischen und ausserkantonalen Jägerinnen und Jägern den Steinbock zu schiessen. Gegen Geld. Je länger die Hörner des erlegten Steinbocks, desto mehr müssen die Touristinnen und Touristen bezahlen. Bis zu 20'500 Franken kann ein Abschuss kosten.
Umgangssprachlich erhält dieses Angebot den Übernamen «Steinbock-Safari». Aus gutem Grund. Der Kanton Wallis kooperiert mit Agenturen, die das «Erlebnis» bewerben und organisieren. Teilweise inklusive Helikopter-Flug über die Alpen.
Die Safaris laufen wie folgt ab: Ein Trophäenjäger löst ein Tagesjagdpatent und geht in Begleitung eines kantonalen Wildhüters auf die Jagd. Im Anschluss an den tödlichen Schuss misst der Wildhüter die Hörner des Steinbocks und legt so den Preis fest. Der Kunde bezahlt den Wildhüter umgehend bar auf die Hand.
Jedes Jahr spülen Steinbock-Safaris dem Kanton so bis zu 650'000 Franken in die Kassen.
30 Jahre lang bietet das Wallis Steinbock-Safaris an, ohne dass es die breite Schweizer Öffentlichkeit mitbekommt. Doch das ändert sich 2019 schlagartig, als der Westschweizer Sender RTS schwere Missstände offenlegt: Die ungeübten Jägerinnen und Jäger sollen grosses Tierleid verursachen und trotz Begleitung von Wildhütern und Agenturen die Jagdethik missachten.
Das RTS zeigt Videoaufnahmen von einem Wildhüter, der einen ausländischen Touristen direkt zu einem Steinbock führt und ihn aus nächster Nähe abschiessen lässt. Auch Fotos von in den Bergen liegengelassenen Steinböcken, denen lediglich der Kopf abgetrennt worden ist, oder von einzelnen, verstreuten Gliedmassen spielen Walliserinnen und Walliser dem RTS zu.
Zusätzlich wird der Vorwurf laut, dass Wildhüter bei den Safaris grosse Trinkgeldsummen angenommen haben, obwohl ihnen dies als Staatsangestellte untersagt ist. Teilweise sollen die Touristinnen und Touristen auch wenige hundert Meter von der Grenze entfernt Steinböcke geschossen haben, die aus dem Ausland kamen.
Nach den Medienberichten über den unwürdigen Umgang mit dem «König der Alpen» geht ein Erdbeben durch die Schweiz. Tierschutz- und Umweltverbände lancieren eine Petition für ein sofortiges Verbot der Steinbock-Safaris und sammeln erfolgreich 70'000 Unterschriften. Die Walliser Regierung weigert sich zunächst, zu handeln. Stattdessen lässt sie intern untersuchen, ob ihre Abschusspraxis überhaupt bedenklich ist.
Der öffentliche Druck lässt jedoch nicht nach. Schliesslich gibt die Regierung auf und verkündet per 2021 ein Verbot von Steinbock-Safaris.
Das Verbot hat dem Kanton Wallis von einem Jahr aufs andere ein Loch in die Kasse gerissen. Unter den Jägerinnen und Jägern geht bald die Angst um, ihr Jagdpatent könnte teurer werden. Sie sind es deshalb auch, die Kundenabschüsse wieder aufs politische Tapet bringen.
Kurz vor Weihnachten 2024 veröffentlicht das Wallis schliesslich eine Medienmitteilung: «Regulierung des Steinbocks – Kundenabschüsse wieder offen für ausländische und ausserkantonale Jägerinnen und Jäger».
Die «Fehlfunktionen», wie der Kanton die 2019 aufgedeckten Missstände umschreibt, habe man behoben. Künftig müssten alle Jägerinnen und Jäger – egal woher – ein von der Dienststelle für Jagd, Fischerei und Wildtiere (DJFW) anerkanntes Jagdpatent vorweisen. Weiter müssten jene aus dem Ausland ihre Treffsicherheit beweisen.
Die Zusammenarbeit mit Agenturen ist ausserdem passé. Die DJFW will die Kundenabschüsse selbst verwalten. Wildhüter gehen mit den Kundinnen und Kunden auf die Jagd und bestimmen, welches Tier sie schiessen dürfen. Die Gebühren für den Abschuss müssen die Touris dem Kanton im Voraus überweisen. So will man auch auf die Trinkgeld-Vorwürfe reagieren.
Ist jetzt also alles in Ordnung? Theoretisch schon. Praktisch muss sich erst noch weisen, ob das Wallis wirklich alle «Fehlanreize» im System behoben hat. Zeigen kann sich das allerdings nur, wenn der Kanton gegenüber der Öffentlichkeit, Medien und Umweltorganisationen proaktiv und transparent kommuniziert. Schliesslich ging 2019 die Hauptkritik nicht an die Adresse der Agenturen, sondern an jene der kantonalen Wildhüter.
Der Kanton Wallis hat sich in der Vergangenheit schwer damit getan, Transparenz über seine Steinbock-Safaris herzustellen. Die Walliser Naturschutzorganisation Fauna.vs hat den Kanton deshalb mehrfach kritisiert. In einer Medienmitteilung 2019 als Reaktion auf die publik gewordenen Missstände schrieb Fauna.vs:
An der Art und Weise, wie das Wallis über seine Abschüsse informiert, hat sich seit der Kritik von Fauna.vs nichts geändert. Warum das problematisch ist? Weil der Mensch die Art des Steinbocks mit seiner Trophäenjagd nachhaltig geschwächt hat. Und weiterhin schwächen könnte.
Alle Alpsteinböcke, die heute in Europa leben, stammen aus dem kleinen Genpool aus Italien. Sie sind schwächer, leichter, ihre Hörner kleiner als vor ihrer Fast-Ausrottung. Die heutigen Tiere sind zudem anfälliger auf Krankheiten und reagieren sensibler auf Veränderungen der Umwelt – ganz besonders jüngst verursacht durch den Klimawandel. Aufgrund von Inzucht pflanzen sich die heutigen Steinböcke ausserdem langsamer fort als früher.
Wie Forschende inzwischen herausgefunden haben, sind alte Böcke mit grossen Hörnern für den Fortbestand und die Gesundheit der Population zentral. Für die Steingeissen gelten grosse Hörner als Zeichen der genetischen Fitness.
Für den Menschen sind grosse Hörner allerdings beliebte Trophäen geblieben. Ganz besonders im Wallis. Das zeigen Daten aus dem Jahr 2018.
In jenem Jahr unterschied das Wallis in seiner öffentlich einsehbaren Jagdstatistik erstmals zwischen Steingeissen und Steinböcken. Ebenfalls legte es erstmals offen, welche Altersgruppen wie stark bejagt worden sind.
Das Ergebnis: 2018 schossen Jägerinnen und Jäger 32 Prozent mehr Steinböcke im Alter von 11 Jahren und älter, als sie gemäss BAFU hätten schiessen sollen. Konkret waren es 78 Steinböcke statt 59.
Bei den jüngeren Steinböcken von ein bis fünf Jahren hingegen blieb man unter dem für die Regulierung der Art nötigen Abschuss-Soll. Auch das Soll der Steingeiss erreichte man nur zu 70 Prozent.
Welchen Einfluss die Steinbock-Safaris 2018 auf die intensive Jagd auf alte Böcke hatte, lässt sich nicht sagen. Das Wallis legt gegenüber watson nicht offen, wie alt die Steinböcke waren, die Touristinnen und Touristen in jenem Jahr schossen. Nach mehrmaligem Nachfragen gab die DJFW lediglich bekannt, dass 2018 insgesamt 52 Steinböcke durch Kundenabschüsse erlegt worden sind, was ein Viertel aller getätigten Steinbock-Abschüsse ausmacht.
Seit der Einführung der detaillierteren Jagdstatistik ist es im Wallis allerdings nicht mehr zu überproportional häufigen Abschüssen von alten Böcken gekommen. Das zeigt: Transparenz hat den gewünschten Effekt auf die korrekte Regulierung des Steinbocks.
Dennoch entsteht der Eindruck, dass man sich im Wallis immer noch schwertut, Jagdpraktiken transparent zu machen. Auf viele Fragen antwortet die DJFW ausweichend. Etwa, als watson wissen will, mit wie hohen Einnahmen der Kanton künftig jährlich durch die wiedereingeführten Kundenabschüsse rechnet. Die DJFW schreibt: «Die Zahl der für Kundenabschüsse freigegebenen Steinböcke wird erst nach den Frühjahrszählungen bekannt sein.» Deshalb könne man «hier» keine Schätzung abgeben.
Eine Antwort, die nachvollziehbar wäre. Wenn da nicht am 14. Dezember 2024 im «Walliser Boten» ein Artikel erschienen wäre, in dem der Walliser Jagdchef Nicolas Bourquin bereits eine Schätzung abgegeben hatte:
Auch, wie hoch die neuen Gebühren für Kundenabschüsse sein werden, kommunizierte die DJFW nicht offen in ihrer Medienmitteilung. Um diese zu erfahren, muss man aktiv auf die Suche gehen. Dann findet man die folgende Preisliste:
Aus diesen Informationen kann man schliessen, dass das Wallis mit jährlichen Einnahmen von 125'000 bis 650'000 Franken von ausländischen Trophäenjägerinnen und -jägern rechnet.
Wenn ein Kanton solche Summen mit der Trophäenjagd einnehmen kann, ist es umso wichtiger, dass er offenlegt, auf welche Steinböcke in welchen Kolonien er Schüsse erlaubt. Und auch: für wen. Nur so könnte man sicherstellen, dass der Kanton aktiv verhindert, dass vor allem Böcke mit den grössten Hörnern und der wichtigsten Funktion für das Überleben der Art geschossen werden. Und dabei auch noch leiden.
Die DJFW ist jedoch der Meinung, man ist schon transparent genug. Auf Nachfrage von watson schreibt sie: «Die neu geltenden Modalitäten sind transparent auf der Website der Dienststelle für Jagd, Fischerei und Wildtiere (DJFW) verfügbar.»