Schweiz
Interview

Hätte ein Schweizer Polizist in dieser Situation Nahel auch getötet?

Raphaël Jallard, directeur école de police Jura, Neuchâtel et Fribourg
Die Erschiessung eines jungen Mannes im französischen Nanterre wirft Fragen auf.
Interview

Hätte ein Schweizer Polizist einen flüchtenden Autofahrer getötet? Ein Experte erklärt

Der Tod des jungen Nahel im französischen Nanterre wirft die Frage nach dem Einsatz von Waffen und den Bedingungen für Festnahmen auf. Wie sieht es in der Schweiz aus? Raphaël Jallard, Direktor der Polizeischulen Neuenburg, Freiburg und Jura, gibt uns Antworten.
08.07.2023, 17:0108.07.2023, 17:36
Cynthia Ruefli
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Der Polizeieinsatz, bei dem der junge Nahel in Frankreich ums Leben kam, wird in den kommenden Wochen aus allen Blickwinkeln analysiert werden: Verfolgungsjagd, Festnahmemethode und Waffengebrauch.

Im Jahr 2021 kam es in Frankreich zu 290 Schussabgaben, die zum Tod von 10 Personen führten. In der Schweiz machten die Polizisten im selben Jahr sechsmal von ihren Waffen Gebrauch, was in einem Fall zum Tod führte, wie die Konferenz der kantonalen Polizeikommandanten mitteilte.

In welchen Fällen darf ein Polizist von seiner Waffe Gebrauch machen? Welche Mittel stehen ihm bei einer Verfolgung zur Verfügung? Raphael Jallard beantwortet unsere Fragen.

Raphaël Jallard, directeur école de police Jura Neuchâtel Fribourg
Raphaël Jallard, Direktor der Polizeischulen Neuenburg, Freiburg und Juracifpol

Herr Jallard, wie beurteilen Sie als Leiter einer Polizeischule die Intervention, die zum Tod des jungen Nahel in Frankreich geführt hat?
Raphaël Jallard: Ich werde mich auf keinen Fall zu diesem Fall äussern. Er fand in Frankreich statt, die Polizisten dort sind mit einer anderen Art Kriminalität konfrontiert als wir. Das Vertrauensverhältnis zur Bevölkerung ist ein anderes. Sie haben andere Methoden und man müsste den gesamten Kontext kennen, der zu dieser Situation geführt hat. Was ich Ihnen sagen kann, ist, dass es in der Schweiz selten vorkommt, dass Polizisten ihre Waffe einsetzen. Im Jahr 2022 gab es in unserem Land sechs Schusswaffeneinsätze. Ich kann Ihnen jedoch versichern, dass die Polizisten vor Ort durch Schulungen zunehmend für die Folgen einer solchen Tat sensibilisiert werden.

Das heisst?
Wir sprechen untereinander darüber. Dies sind schwierige Situationen und die Tragweite dieser Tat wird unter Polizeibeamten zunehmend diskutiert.

«Man fragt sich, was man unter diesen Umständen getan hätte»

Vorwarnung und Einsatz der Waffe

In welchem Zusammenhang dürfen Polizisten in der Schweiz ihre Waffe benutzen?
Es gibt verschiedene Situationen, in denen die Polizei von ihrer Waffe Gebrauch machen darf. Laut dem Reglement über den Waffengebrauch vom 5. Dezember 1988, das in der ganzen Schweiz gültig ist, sind dies die folgenden:

  1. Wenn die Polizei angegriffen wird oder ihr ein unmittelbar bevorstehender Angriff droht, wird dies als Notwehr bezeichnet.
  2. Wenn in Anwesenheit der Polizei ein Dritter angegriffen oder mit einem unmittelbar bevorstehenden Angriff bedroht wird, handelt es sich um Notwehr eines Dritten. Dies kann z. B. bei Angriffen auf öffentlichen Plätzen geschehen, bei denen die Person auf Passanten schiesst oder diese verletzt.
  3. Um der Polizei die Erfüllung ihrer Aufgaben zu ermöglichen, insbesondere wenn eine Person, die ein Verbrechen oder ein schweres Vergehen begangen hat oder dringend verdächtigt wird, ein solches begangen zu haben, oder die andere in eine ernste und unmittelbare Gefahr für ihr Leben oder ihre Gesundheit bringt, versucht, sich durch Flucht einer Festnahme zu entziehen.
  4. Um eine Geisel zu befreien. In diesem Fall erfolgt die Schussabgabe durch einen Scharfschützen.
  5. Um einen schweren und unmittelbar bevorstehenden Angriff auf öffentliche Einrichtungen, deren Zerstörung erheblichen Konsequenzen für die Allgemeinheit haben könnte, zu verhindern.

Ich erinnere daran, dass der Einsatz von Waffen den Umständen angemessen sein muss und als letztes Mittel der Verteidigung oder Nötigung erlaubt ist.

Muss dem Einsatz der Waffe immer eine Vorwarnung vorausgehen?
In der Polizeischule wird gelehrt, dass man, wenn man die Waffe zieht, immer ‹Halt, Polizei!› sagt. Man muss sich als Polizist ausweisen und diese Warnung aussprechen. Es hängt natürlich alles von der Notsituation ab. Wenn die Person Sie überrascht, haben wir vielleicht keine Zeit, dies zu tun.

«Was wir in der Praxis sehen, ist, dass das ‹Halt, Polizei!› im Prinzip die Personen stoppt».

Was ist, wenn die abschreckende Wirkung der Vorwarnung nicht funktioniert?
Wissen Sie, wenn man die Waffe zieht, muss man immer bereit sein, sie einzusetzen, d. h. zu schiessen. Wenn die Person vor mir ein Messer hat, nach einer Aufforderung nicht erstarrt und in meine Richtung rennt, obwohl ich mich in einem engen Raum befinde, muss ich davon ausgehen, dass meine Waffe zum Einsatz kommt.

«In diesem speziellen Fall, bei 5 oder 7 Metern, sagt man in der Praxis, dass die Möglichkeit besteht, zu schiessen».

Aber das ist alles nur Theorie, denn vor Ort geht alles sehr schnell. Stress, Adrenalin und der Tunneleffekt machen diese ganz besondere Situation aus. Der Polizist muss sekundengenau eine schwere Entscheidung treffen, mit allen Konsequenzen, die das mit sich bringt.

Was ist der Tunneleffekt?
Dieser Effekt tritt auf, wenn man sich in einer Krisensituation oder unter starkem Stress befindet. Es handelt sich dabei um eine Fokussierung der Aufmerksamkeit auf ein Element, bei der alle anderen Dinge, die wir in unserer Umgebung haben, ausgeklammert werden.

Muss der Polizist, wenn die Waffe im Anschlag ist, wie Sie sagen, auf bestimmte Körperteile zielen? Lernen die Beamten, anderswo hin zu schiessen, etwa in die Beine oder Ähnliches?
Also ja. Man lernt, woanders hin zu schiessen, wie Sie sagen. Aber im Allgemeinen zielt man, wenn man in der Ausbildung ist, auf Objekt. Man verwendet Ziele, die eine bestimmte Form haben, und man zielt nicht speziell auf einen Körperteil. Das Ziel ist es, die bedrohliche Person zu neutralisieren. Der Polizist wird auf das Objekt zielen und die Person soll getroffen werden und erstarren.

«Bei der Selbstverteidigung hat man keine Zeit, die Zielorgane auszurichten, d. h. einen Präzisionsschuss abzugeben. Das Ziel ist es, die Bedrohung zu stoppen».

Normalerweise steht man nach einem Schuss nicht wieder auf, oder?
Der Schuss soll die Person aufhalten, aber manchmal hat er nicht die gewünschte Wirkung und manche Personen sind auch nach einer Schussverletzung eine Bedrohung. Es mag überraschend klingen, aber getroffene Personen greifen manchmal weiterhin die Polizisten an.

Verfolgungsjagden und Verhältnismässigkeit

Welche Methoden werden der Polizei bei einer Verfolgungsjagd beigebracht, um die Personen festzunehmen?
Bei Verfolgungsjagden besteht die Idee darin, andere Patrouillen zur Verstärkung heranzuziehen. Dies ist zeitaufwendig und erfordert, dass man sich in der Hitze des Gefechts organisieren kann.

Verwenden Sie spezielle Geräte wie Nagelgurte oder Ähnliches?
Ja. Aber man muss immer den Kontext berücksichtigen. Man kann Strassensperren einrichten, wenn man die Fluchtrichtung des Fahrzeugs abschätzen und seine Fahrt antizipieren kann. Auf dem Land oder in der Peripherie gibt es weniger Strassen und es ist günstiger für Strassensperren, aber in der Stadt kann es schwieriger sein.

«Wir müssen uns ständig die Frage nach der Verhältnismässigkeit unserer Handlungen stellen».

Wie?
Nun, dafür sorgen, dass die von uns ergriffenen Massnahmen in einem angemessenen Verhältnis zur begangenen Straftat stehen. Man erschiesst keinen flüchtigen Einbrecher, wenn er weder für einen selbst noch für Dritte eine ernste und unmittelbare Gefahr darstellt.

«Bei Verfolgungsjagden könnte es vorkommen, dass auf die Verfolgung verzichtet wird, weil der Fahrer minderjährige Passagiere oder sogar uns selbst in unverhältnismässiger Weise gefährdet.»

Auf Verhaftung verzichten

Kann die Polizei also auf die Verhaftung verzichten?
Ja, in einer Extremsituation. Wenn die Polizei beispielsweise jemanden verfolgt, der bei Rot über die Ampel gefahren ist, und diese Person beschleunigt mit sehr hoher Geschwindigkeit und fährt im Zickzack durch den Verkehr, um der Polizei zu entkommen und dabei andere Verkehrsteilnehmer ernsthaft gefährdet. Man muss sich die Frage stellen, welche Mittel eingesetzt werden, um seine Ziele zu erreichen:

«Stehen die eingesetzten Mittel in einem angemessenen Verhältnis zum Verstoss und würde die Verfolgung die Situation nicht noch gefährlicher machen?»

Ich nenne Ihnen ein Beispiel aus einem Fernsehbericht, in dem eine französische Polizeistreife einen Raser verfolgte. Als die Polizei ihn sah, beschleunigte er plötzlich und fuhr mit sehr hoher Geschwindigkeit durch eine Ortschaft. Auf den Rücksitzen des Autos sassen kleine Kinder. Die Polizei beschloss daher, die Verfolgung abzubrechen, da die Situation zu gefährlich war.

«Wir werden nicht wegen eines Verkehrsdelikts ein solches Risiko eingehen.»

Ein solches ist im allgemeinen Kontext von geringer Schwere. Wenn es natürlich um schwere Straftäter ginge, z. B. um Bankräuber, die von ihren Waffen Gebrauch gemacht haben, könnte die Entscheidung ganz anders ausfallen.

Aber wenn Sie darauf verzichten, die Person zu verhaften, erfüllen Sie Ihre Aufgabe nicht, oder?
Dann ja. Aber es gibt potenziell andere Ermittlungsmöglichkeiten, um die Person zu finden, z. B. über das Autokennzeichen oder andere Methoden. Wir werden die Person vielleicht nicht am selben Tag festnehmen, aber wir haben die Informationen und können es später tun.

Ist Ihnen Ihre Verhältnismässigkeit wichtig?
Ja, denn dieser Begriff klingt zwar einfach, ist aber viel subtiler als das. In der Hitze des Gefechts denkt man weniger darüber nach. Bei einer Verfolgungsjagd zum Beispiel denkt man vielleicht «Ich halte den Fahrer an der nächsten Kreuzung an» und fährt dann doch weiter.

«Die Analyse der Situation und die Verhältnismässigkeit des Einsatzes müssen immer im Mittelpunkt der Interventionen stehen».

Aber ich spreche hier von dem, was im Unterricht in einem Klassenzimmer ohne Stress und Druck gelehrt wird. In der Realität ist es viel komplexer. Ich selbst habe meine Waffe noch nie in einem Einsatz eingesetzt.

Demos gegen Polizeigewalt in Frankreich – Protest bei Paris untersagt
Knapp zwei Wochen nach dem tödlichen Schuss eines Polizisten auf einen Jugendlichen bei einer Verkehrskontrolle bei Paris haben am Samstag in mehreren französischen Grossstädten Hunderte Menschen gegen Polizeigewalt demonstriert.

Obwohl die Polizei in Paris eine Demonstration im Gedenken an den 2016 nach einer Verfolgung durch die Polizei gestorbenen jungen Schwarzen Adama Traoré untersagt hatte, versammelten sich am Nachmittag rund 1000 Demonstranten auf dem Place de la République. Darunter befanden sich auch Abgeordnete des Linksbündnisses im Parlament. Wie «Le Parisien» berichtete, kam es zu Festnahmen und Angriffen von Polizisten auf Journalisten, die diese filmten.

In Strassburg setze sich am Morgen ein Protestzug mit mehreren Hundert Teilnehmern in Bewegung. Die Demonstranten trugen ein Banner mit der Aufschrift «In Trauer und in Wut».

Bei einer Demonstration in Marseille mit Hunderten Teilnehmern wurde eines 19-Jährigen gedacht, der 2021 von der Polizei erschossen wurde, als er sich einer Kontrolle entziehen wollte. Kundgebungen gab es auch in Lille und Saint-Nazaire.

(sda)
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65 Kommentare
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IndiaPaleAle
08.07.2023 18:10registriert Mai 2020
Die Schweizer Polizei hat mein absolutes Vertrauen, Danke.
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glointhegreat
08.07.2023 18:45registriert Dezember 2014
Danke. Sehr gutes interview. ... Auch weil erwänht wird, das in Frankreich z.T. ganz andere "Kaliber" unterwegs sind. Gut ist die CH Polizei mit soviels Augenmass unterwegs. 👍
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Johann Larson
08.07.2023 19:07registriert März 2021
Es ist schon interessant, wie hingebungsvoll und kritisch sich die Presse mit der Polizeiarbeit auseinandersetzt. Weiter so. Als nächstes kann sie sich dann mal eingehend mit den Kriminalitätsstatistiken auseinandersetzen. Es gäbe viel Spannendes zu entdecken.
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