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Frankreich

«Ein guter Junge»: Das war Nahel, der von der Polizei erschossen wurde

Qui était Nahel, 17 ans, tué à Nanterre par un policier?
Nahel, 17 Jahre alt, starb am Dienstag in Nanterre.montage: watson

Nahel, der «gute Junge»: Sein Tod hat Frankreich in Brand gesetzt

«Polizei bekannt» oder «guter Junge»? Wer war der 17-jährige Nahel, dessen Tod Frankreich in Brand setzt?
30.06.2023, 11:0930.06.2023, 15:25
Marine Brunner
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«Mami, ich liebe dich.»
«Ich liebe dich, pass auf dich auf.»

Nahel umarmt seine Mutter. Es ist Dienstagmorgen. Die beiden kommen gemeinsam aus ihrer Wohnung im belebten Pablo-Picasso-Viertel in Nanterre. Zuvor lebten sie lange im Viertel Vieux-Pont. Seine Grossmutter und mehrere Nachbarn geben an, dass er dort «sehr beliebt» sei.

Die berühmten Tours Nuages (Wolkentürme) im Pablo-Picasso-Viertel.
Die berühmten Tours Nuages (Wolkentürme) im Pablo-Picasso-Viertel. bild: watson

Seit jeher sind Nahel und Mutter Mounia nur zu zweit. Seinen Vater hat er nie kennengelernt; auch Geschwister hat der Teenager keine. Die Verbindung zu seiner Mutter ist deshalb umso enger.

«Wir sind zur selben Zeit hinausgegangen, er zu McDonalds, ich zur Arbeit, so wie jeder andere auch.»
Mounia, Nahels Mutter, in einem Instagram-Post in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch.

Nahel hat sich einen Nebenjob besorgt, um seiner Mutter, die Lieferfahrerin ist, finanziell zur Hand zu gehen. Er hilft bei der Auslieferung von Kebab und Pizzen aus. Die Arbeit lohnt sich nicht immer, aber es reicht, um sich ein wenig Sackgeld und einen Beitrag zur Miete zu leisten.

Video: watson/Aya Baalbaki

Seit zwei Jahren ist er am Lycée Louis-Blériout in Suresnes eingeschrieben, wo er eine Ausbildung zum Elektriker absolviert – oder besser gesagt, absolvierte. Nach sechs Monaten war es ihm genug, seither schwänzt er fast alle seine Kurse.

Auf alle Fälle sei er jedoch ein «positiver junger Mann», wie ein anderer Junge aus dem Viertel dem «Le Parisien» erklärte. Er verzweifle nicht daran, «sein Leben wieder in den Griff zu bekommen». Dies liegt auch am Rugby: Seit drei Jahren spielt er eifrig bei den «Pirates de Nanterre», einem Verein, der sich für Jugendliche aus den Quartieren einsetzt.

«Nahel war ein Junge aus der Nachbarschaft, der sich integrieren wollte: Er musste wissen, was er tun sollte, und hat Rugby benutzt, um dorthin zu kommen.»
Jeff Puech, Vorsitzender des Vereins Ovale Citoyen, der den Club «Pirates de Nanterre» beaufsichtigt.

Nahel habe immer «eine vorbildliche Einstellung» gehabt, sagt Jeff Puech in «Le Parisien». «Weit entfernt von den grauenhaften Kommentaren, die man in den sozialen Netzwerken sehen kann.» Er sei garantiert «kein Kind, das vom Dealen lebte oder sich in der Kleinkriminalität herumtrieb».

Das heisst aber nicht, dass er nie mit dem Gesetz in Berührung kam. Laut Informationen, die dem französischen Sender BFMTV vorliegen, ist Nahel in der TAJ, dem französischen Vorstrafenregister, eingetragen. Er ist nämlich den Behörden wegen Befehlsverweigerung und Fahren ohne Führerschein bekannt. Eine Anwältin der Familie versichert indes, dass Nahels Strafregisterauszug rein sei.

Wie auch immer, 2022 wurde Nahel einem Jugendrichter vorgeführt, der ihm eine «erzieherische Massnahme» aufbrummte. Und erst ein Wochenende vor seinem Tod wurde er wegen Befehlsverweigerung in Gewahrsam genommen, was ihm einen zweiten Termin beim Jugendrichter einbrachte. Diesen sollte er im September wahrnehmen.

Nahel hat schon viel erlebt. Schliesslich ist er ein Junge, der alle Zeit der Welt hatte, um erwachsen zu werden, wie eine Jungendliche aus seinem Quartier Le Parisien anvertraute. Vielleicht sagt er sich genau das, als er sich an diesem fatalen Dienstagmorgen mit zwei Begleitern hinter das Steuer des kanariengelben Mercedes-AMG mit polnischem Kennzeichen setzt.

Es ist 07:55 Uhr, als zwei Polizisten die Verfolgung aufnehmen. Das Fahrzeug fährt mit hoher Geschwindigkeit weiter und begeht dabei mehrere Verstösse gegen die Strassenverkehrsordnung.

Als Nahel das Fahrzeug schliesslich zum Stehen bringt, stellen sich die Beamten an das Fenster des Fahrers. Auf einem Video, welches eine Zeugin zeitgleich macht, ist der Satz «du wirst dir eine Kugel einfangen» zu hören. Als er von einem der beiden Polizisten ins Visier genommen wird, fährt er unerlaubt wieder los. Der Polizist schiesst aus nächster Nähe. Nahel fährt gegen einen Pfosten ein Stück weiter auf dem Place Nelson Mandela. Es ist 8.19 Uhr. Eine Stunde später wird er für tot erklärt. Getötet durch einen «einzelnen Schuss», der «den linken Arm und den Brustkorb von links nach rechts» durchdrang.

«Es ist das Leben eines Kindes, das endet, und das Leben einer Familie, die ruiniert wird.»
Jeff Puech, gegenüber dem «Parisien».

Eine Stunde später erhält seine Mutter die Hiobsbotschaft.

«Was soll ich denn jetzt machen? Ich habe ihm alles gegeben, nur damit irgendein Hurensohn mir meinen Sohn wegnimmt. Ich habe nicht zehn, nur einen. Er war mein Leben, mein bester Freund, mein Sohn, mein Alles.»

48 Stunden nach seinem Tod findet ein Trauermarsch statt, der vor der Präfektur des Departements Hauts-de-Seine in der Nähe des Ortes beginnt, an dem der Schuss abgegeben wurde.

In der Zwischenzeit geht Frankreich in Flammen auf. Mehrere Wellen der Gewalt schwappten durch die Vorstädte im ganzen Land. Die Regierung rief zur Ruhe auf und dazu, so schnell wie möglich «die Wahrheit» zu ermitteln. Nun geht es für die Ermittler darum, die Umstände, die zum Tod eines Jungen geführt haben, der erst 17 Jahre alt war, vollständig aufzuklären.

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244 Kommentare
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Dave Hawtin
30.06.2023 11:29registriert Dezember 2021
Sry nein. Mit 17 alleine in einem Auto unterwegs, Rotlichter überfahren und weitere Strassenvergehen während dieser Fahrt durchgeführt. Polizeibekannt, immer wieder mit dem Gesetz in Konflikt gekommen. Die Polizei hält ihm eine Waffe an den Kopf und er meint dennoch Fahrerflucht begehen zu müssen. Das war kein guter Junge. Das war ein Kleinkrimineller der immer weiter auf die schiefe Bahn abgerutscht ist. Und seit 3 Nächten tobt und randaliert der Mob in ganz Frankreich. 40'000 (!) zusätzliche Polizisten musste man aus ganz Frankreich zusammensammeln, damit man einigermassen Herr der Lage ist.
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Roko93
30.06.2023 12:23registriert Dezember 2022
Wenn zwei Polizisten in Vollmontur und gezogener Waffe mich anhalten, fahre ich nicht weiter - Punkt!
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BG1984
30.06.2023 11:35registriert August 2021
Der Polizist hat seinen Arm auf der A-Säule des Autos aufgestützt und er fährt einfach los. Klar kann sich da ein Schuss lösen und klar muss der Polizist Angst haben, angefahren oder eingeklemmt zu werden. Der Junge ist selber schuld.
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