«Mami, ich liebe dich.»
«Ich liebe dich, pass auf dich auf.»
Nahel umarmt seine Mutter. Es ist Dienstagmorgen. Die beiden kommen gemeinsam aus ihrer Wohnung im belebten Pablo-Picasso-Viertel in Nanterre. Zuvor lebten sie lange im Viertel Vieux-Pont. Seine Grossmutter und mehrere Nachbarn geben an, dass er dort «sehr beliebt» sei.
Seit jeher sind Nahel und Mutter Mounia nur zu zweit. Seinen Vater hat er nie kennengelernt; auch Geschwister hat der Teenager keine. Die Verbindung zu seiner Mutter ist deshalb umso enger.
Nahel hat sich einen Nebenjob besorgt, um seiner Mutter, die Lieferfahrerin ist, finanziell zur Hand zu gehen. Er hilft bei der Auslieferung von Kebab und Pizzen aus. Die Arbeit lohnt sich nicht immer, aber es reicht, um sich ein wenig Sackgeld und einen Beitrag zur Miete zu leisten.
Seit zwei Jahren ist er am Lycée Louis-Blériout in Suresnes eingeschrieben, wo er eine Ausbildung zum Elektriker absolviert – oder besser gesagt, absolvierte. Nach sechs Monaten war es ihm genug, seither schwänzt er fast alle seine Kurse.
Auf alle Fälle sei er jedoch ein «positiver junger Mann», wie ein anderer Junge aus dem Viertel dem «Le Parisien» erklärte. Er verzweifle nicht daran, «sein Leben wieder in den Griff zu bekommen». Dies liegt auch am Rugby: Seit drei Jahren spielt er eifrig bei den «Pirates de Nanterre», einem Verein, der sich für Jugendliche aus den Quartieren einsetzt.
Nahel habe immer «eine vorbildliche Einstellung» gehabt, sagt Jeff Puech in «Le Parisien». «Weit entfernt von den grauenhaften Kommentaren, die man in den sozialen Netzwerken sehen kann.» Er sei garantiert «kein Kind, das vom Dealen lebte oder sich in der Kleinkriminalität herumtrieb».
Das heisst aber nicht, dass er nie mit dem Gesetz in Berührung kam. Laut Informationen, die dem französischen Sender BFMTV vorliegen, ist Nahel in der TAJ, dem französischen Vorstrafenregister, eingetragen. Er ist nämlich den Behörden wegen Befehlsverweigerung und Fahren ohne Führerschein bekannt. Eine Anwältin der Familie versichert indes, dass Nahels Strafregisterauszug rein sei.
Wie auch immer, 2022 wurde Nahel einem Jugendrichter vorgeführt, der ihm eine «erzieherische Massnahme» aufbrummte. Und erst ein Wochenende vor seinem Tod wurde er wegen Befehlsverweigerung in Gewahrsam genommen, was ihm einen zweiten Termin beim Jugendrichter einbrachte. Diesen sollte er im September wahrnehmen.
Nahel hat schon viel erlebt. Schliesslich ist er ein Junge, der alle Zeit der Welt hatte, um erwachsen zu werden, wie eine Jungendliche aus seinem Quartier Le Parisien anvertraute. Vielleicht sagt er sich genau das, als er sich an diesem fatalen Dienstagmorgen mit zwei Begleitern hinter das Steuer des kanariengelben Mercedes-AMG mit polnischem Kennzeichen setzt.
Es ist 07:55 Uhr, als zwei Polizisten die Verfolgung aufnehmen. Das Fahrzeug fährt mit hoher Geschwindigkeit weiter und begeht dabei mehrere Verstösse gegen die Strassenverkehrsordnung.
Als Nahel das Fahrzeug schliesslich zum Stehen bringt, stellen sich die Beamten an das Fenster des Fahrers. Auf einem Video, welches eine Zeugin zeitgleich macht, ist der Satz «du wirst dir eine Kugel einfangen» zu hören. Als er von einem der beiden Polizisten ins Visier genommen wird, fährt er unerlaubt wieder los. Der Polizist schiesst aus nächster Nähe. Nahel fährt gegen einen Pfosten ein Stück weiter auf dem Place Nelson Mandela. Es ist 8.19 Uhr. Eine Stunde später wird er für tot erklärt. Getötet durch einen «einzelnen Schuss», der «den linken Arm und den Brustkorb von links nach rechts» durchdrang.
Eine Stunde später erhält seine Mutter die Hiobsbotschaft.
48 Stunden nach seinem Tod findet ein Trauermarsch statt, der vor der Präfektur des Departements Hauts-de-Seine in der Nähe des Ortes beginnt, an dem der Schuss abgegeben wurde.
In der Zwischenzeit geht Frankreich in Flammen auf. Mehrere Wellen der Gewalt schwappten durch die Vorstädte im ganzen Land. Die Regierung rief zur Ruhe auf und dazu, so schnell wie möglich «die Wahrheit» zu ermitteln. Nun geht es für die Ermittler darum, die Umstände, die zum Tod eines Jungen geführt haben, der erst 17 Jahre alt war, vollständig aufzuklären.