Wieder brennen in Frankreichs Vorstädten Autos, wieder plündern wütende Jugendliche Läden und liefern sich erbitterte Strassenschlachten mit der Polizei. Bürgerkriegsähnliche Szenen wie in den letzten Tagen rufen in Erinnerung, dass in den Banlieues unseres westlichen Nachbarlandes ein Dauerkonflikt schwelt, der sich trotz aller staatlicher Massnahmen immer wieder in Eruptionen der Gewalt entlädt. Fast immer ist es ein unverhältnismässig brutaler Polizeieinsatz, der die latente Wut zum Kochen bringt – dieses Mal war es der Tod eines 17-Jährigen, der bei einer Polizeikontrolle erschossen wurde.
«Quartiers prioritaires» (QP), zu Deutsch etwa «vorrangige Stadtviertel», nennt die französische Verwaltung die Problemgebiete der «Cités», die nahezu jede grössere Stadt umgeben. Etwa 1500 von ihnen gibt es, rund 5,5 Millionen Einwohner leben in ihnen. Bis 2014 wurden sie als «Zones urbaines sensibles» (ZUS) bezeichnet, als «sensible urbane Zonen». Der Name hat sich geändert, die Probleme sind geblieben. Worin bestehen diese Probleme, woher kommen sie?
Der alte Begriff «Banlieue» («Bannmeile») wurde auf die im Lauf des 19. Jahrhunderts entstandenen Arbeiterviertel am Rande der französischen Grossstädte übertragen und steht heute vor allem für die nach 1950 entstandenen Cités. Sie waren die Antwort auf die massive Wohnungsnot, die in Frankreich nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs herrschte. Diese Hochhaussiedlungen mit ihrer modernen Architektur standen zu Beginn für wirtschaftlichen Aufschwung und einen neuen Lebensstil. Wohnungen in diesen «Grands ensembles» waren durchaus gesucht und galten als attraktiv, selbst für den Mittelstand.
Allerdings wurden schnell bauliche Mängel sichtbar, und die strikte Trennung von Wohnen und Arbeiten mit den damit verbundenen langen Arbeitswegen trug im Verbund mit den fehlenden Freizeiteinrichtungen ebenfalls dazu bei, dass die neuen Quartiere an Attraktivität einbüssten. Wer es sich leisten konnte, zog in die Einfamilienhaus-Viertel ausserhalb oder in die Innenstadt.
Mit dem Zustrom neuer Bewohner veränderte sich in der Folge die Zusammensetzung der Banlieue-Bevölkerung deutlich: Zunächst kamen die «Pieds-noirs», die sogenannten Algerienfranzosen, die nach dem verlorenen Krieg in Algerien nach Frankreich strömten. Viele von ihnen stammten ursprünglich aus Italien oder Spanien. Auch viele maghrebinische Juden siedelten sich in den Banlieues an. Zudem kamen zahlreiche «Harkis» – jene algerischen Muslime, die loyal zur Kolonialmacht geblieben waren – ins Land. Ihnen folgten später weitere Einwanderer aus den ehemaligen Kolonien in Nordafrika und danach auch Westafrika.
Mit den neuen Bewohnern, die auf dem Arbeitsmarkt aufgrund von schlechterer Ausbildung und auch Diskriminierung oft geringere Chancen hatten, verschärfte sich die soziale Lage in den Cités. Arbeitslosigkeit, Armut und Ausgrenzung nahmen zu. Die Cités verwahrlosten zusehends, Kriminalität und Gewalt nahmen zu. Insbesondere die Jugend war davon stark betroffen; die durchschnittliche Quote der Jugendarbeitslosigkeit lag 2010 bei 41,7 Prozent im Vergleich zu 23,2 Prozent im nationalen Durchschnitt. Im selben Jahr hatten von den Jugendlichen, die einer Erwerbstätigkeit nachgingen, mehr als die Hälfte nur den niedrigsten Schulabschluss.
Die Diskriminierung trifft die Jugendlichen nicht im gleichen Ausmass. Eine Studie zu religiöser Diskriminierung bei der Jobsuche belegt, dass vor allem männliche Bewerber muslimischen Glaubens am stärksten diskriminiert werden – deutlich stärker übrigens als muslimische Frauen. So musste «Mohammed» viermal mehr Bewerbungen verschicken als «Michel», um zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen zu werden.
Für zahlreiche Jugendliche bildet der Drogenhandel eine lukrative Alternative zu einem schwierig zu findenden und obendrein schlecht bezahlten Job. Die «Caïds», die Bosse der Drogengangs, beeindrucken die Jüngeren mit ihrem schnell verdienten Geld und ihrem Auftreten. Die noch nicht dem Erwachsenenstrafrecht unterworfenen Jugendlichen lassen sich daher leicht als Drogenkuriere rekrutieren; manchmal werden sie sogar zu solchen Diensten genötigt.
Mittlerweile hat die Stigmatisierung der Banlieues als Problemviertel dazu geführt, dass deren Bewohner nur schon aufgrund der Tatsache, dass sie in einem solchen Quartier wohnen, bei der Wohnungs- und Arbeitssuche ausserhalb dieser Viertel diskriminiert werden. Damit ist ein Teufelskreis der Ausgrenzung entstanden, der nur äusserst schwierig zu durchbrechen ist.
Die französische Republik, die in einem langwierigen Kampf gegen die katholische Kirche 1905 die strikte Trennung von Kirche und Staat endgültig durchgesetzt hat, ist laizistisch: Der Staat verhält sich gegenüber religiösen Gemeinschaften neutral und garantiert die Glaubensfreiheit; Religion ist ausschliesslich Privatangelegenheit. In den Schulen hängen keine Kreuze, Kopftücher sind in öffentlichen Gebäuden verboten. Die Laïcité ist tief in die DNA der Republik eingeschrieben; für 84 Prozent der Franzosen ist Laïcité ein grundlegender Wert der Republik. Dies erklärt unter anderem, warum in Frankreich ein Magazin wie «Charlie Hébdo» 2012 die berüchtigten Mohammed-Karikaturen abdruckte – was im deutschen Sprachraum oft auf Unverständnis stiess.
Hinzu kommt die zunehmende Säkularisierung der französischen Gesellschaft: Mittlerweile bezeichnen sich nur noch 27 Prozent der Franzosen als religiös – weltweit einer der niedrigsten Werte. Dies kontrastiert mit einer Gegenbewegung in den Banlieues, in denen nach einer 2011 veröffentlichten Studie des Islamforschers Gilles Kepel mittlerweile mindestens zwei Drittel der Bewohner muslimisch sind. Kepel konstatiert, dass sich etwa in Clichy-sous-Bois eine «übertriebene muslimische Frömmigkeit» breitmache. Diese ostentative Hinwendung zur Religion der Eltern bei vielen Jugendlichen der Banlieues dürfte ihren Grund zum Teil im Bedürfnis haben, ihre eigene Identität in Abgrenzung zur als feindselig erfahrenen französischen Gesellschaft zu betonen.
Die Hinwendung zu einem konservativen oder gar fundamentalistischen Islam wird durch grosszügige Investitionen aus den Golfstaaten gefördert. Dazu kommt, dass der französische Staat selber keine Imame ausbildet und daher Religionslehrer aus Algerien oder Marokko nach Frankreich entsandt werden, die oft politische Vorstellungen aus ihrem Heimatland verbreiten. Die Kehrseite dieser Entwicklung zeigt sich etwa in der Verstärkung religiös begründeter patriarchalischer Strukturen in den Banlieues. Es kommt häufiger als früher vor, dass dort unverschleierte Frauen schikaniert werden. Dagegen richten sich Gruppen von Muslimas, die einen liberalen Islam anstreben, beispielsweise das Kollektiv «Femme sans voile» («Frau ohne Kopftuch»).
Die religiöse Radikalisierung eines Teils der muslimischen Vorstadtjugend hat aber auch zu einer Welle von islamistischen Anschlägen in Frankreich geführt, die ihren Höhepunkt 2015 mit dem Anschlag auf die Redaktion von «Charlie Hébdo» und dem Massaker im Bataclan-Theater fand. Diese Anschläge, die von einer Minderheit der muslimischen Vorstadtjugend begrüsst wurden («Je ne suis pas Charlie»), dürften wiederum anti-islamische Reflexe in der nicht-muslimischen Bevölkerung verstärkt haben.
Es ist im Gegensatz zu einer nicht selten zu vernehmenden Meinung nicht so, dass Frankreich die urbanen Problemzonen einfach sich selbst überlässt und dort keine Mittel investiert. Nach Ansicht des Sozialgeografen Christophe Guilluy leben in Frankreich ohnehin mehr Arme auf dem Land als in den Banlieues. In der Tat hat Paris einen beträchtlichen finanziellen Aufwand betrieben, um die «Quartiers prioritaires» aufzuwerten. So wurden etwa in Clichy zahlreiche der Wohntürme mit Sozialwohnungen gesprengt und dafür neue, drei- bis maximal vierstöckige Siedlungen gebaut.
Allein in Clichy und der Nachbargemeinde Montfermeil kostete diese urbane Renovierung rund 600 Millionen Euro. In Argenteuil verschlang die Erneuerung von drei Stadtvierteln 400 Millionen Euro, die je zur Hälfte vom Staat und der Stadt mit ihren Partnern aufgebracht wurden. Zwischen 2003 und 2013 flossen laut dem ehemaligen Abgeordneten Philippe Doucet mehr als 42 Milliarden Euro in die Modernisierung von 500 Stadtvierteln. Dies sei keine kosmetische Massnahme gewesen, wie oft kritisiert worden sei, betont Doucet. Die Renovierung von Gebäuden, die noch nie saniert worden seien, sei unbedingt notwendig gewesen, um die Lebensbedingungen der Bewohner zu verbessern.
Neben der Modernisierung der in die Jahre gekommenen Bauten und der Infrastruktur zielen die staatlichen Massnahmen auch auf die Verbesserung der schulischen, sozialen und kulturellen Versorgung, etwa durch die Einrichtung von Bibliotheken. Die lokale Ökonomie soll gestärkt werden, indem die Ansiedlung von Unternehmen durch Steuervergünstigungen gefördert wird. Die Erfolge dieser Politik sind freilich bescheiden – die Ungleichheiten zwischen den «Quartiers prioritaires» und den anderen Gebieten sind nicht kleiner geworden.
Ein wesentlicher Faktor, der zur Eskalation der Lage beigetragen haben dürfte, ist die Polizeigewalt. So war der Auslöser der aktuellen Unruhen ein Akt der Polizeigewalt, wie sie in Frankreich nicht selten ist: Allein im Jahr 2022 kamen bei Verkehrskontrollen 13 Personen ums Leben, nachdem sie sich der Polizei hatten widersetzen und davonfahren wollen. Längst nicht in jedem Fall handelte es sich dabei um gesuchte Schwerkriminelle, wie die Zeitung «L'Obs» berichtete.
Der Soziologe Sebastian Roche, der das Phänomen der häufigen Todesfälle bei französischen Polizeikontrollen untersucht hat, weist in einem Gespräch mit der deutschen Zeitung «taz» darauf hin, dass die erwähnten 13 Fälle im Jahr 2022 mit einem einzigen Fall in zehn Jahren in Deutschland kontrastieren. Er führt dies unter anderem auf ein Gesetz zurück, das in Frankreich auf Druck der Polizeigewerkschaft verabschiedet wurde und 2017 in Kraft trat. Es gibt den Polizeibeamten – im Gegensatz zu den Beamten der Gendarmerie – die Befugnis, die Waffe auch dann einzusetzen, wenn ihr Leben oder das von Dritten nicht bedroht ist und der mutmassliche Straftäter nicht unmittelbar ein Verbrechen begangen hat.
Roche weist überdies auf ein «strukturelles Problem mit Rassismus» hin. Mehrere Studien hätten gezeigt, dass es ein solches gebe. Die Soziologin Crystal Fleming von der Stony Brook Universität in New York stösst ins selbe Horn: Die Demonstrationen und Unruhen nach den tödlichen Schüssen seien ganz klar eine Reaktion auf den Rassismus, der eng mit Kolonialismus zusammenhänge. Sowohl Rassismus wie Kolonialismus seien seit jeher abgestritten «und aus dem kollektiven Gedächtnis verbannt» worden, obwohl Minderheiten und kolonisierte Völker über Jahrhunderte rassistisch unterdrückt worden seien.
Rassismus und Polizeigewalt kollidieren mit dem Versprechen des französischen Staats, die Gleichheit aller französischen Bürger in den staatlichen Institutionen zu garantieren, unbesehen aller sozialen, religiösen oder ethnischen Unterschiede. Den abgehängten Bewohnern der Banlieues muss dieses Versprechen angesichts der erlebten Ausgrenzung wie ein Hohn erscheinen. Die stets wiederkehrenden Gewalteruptionen können so als Folge der Frustration und Aggression angesichts dieser Diskrepanz zwischen den hehren Werten der Republik und der alltäglichen Realität gesehen werden.
In dieser Sicht sind die gewalttätigen Ausschreitungen der Jugendlichen aus den Banlieues nicht zuletzt auch ein politisches Statement: wir gegen den Staat. Der Hass auf den französischen Staat, wie er sich auch im populären Song «Nique la France» («F*ck Frankreich») der französischen Rap-Combo ZEP ausdrückt, erklärt auch, warum sich die Gewalt der Jugendlichen vornehmlich gegen staatliche Institutionen wie Polizei oder Schule richtet.
Der Allgemeingültigkeit dieser Deutung widerspricht etwa der Soziologe Stefan Zenklusen, der in einem Interview aus dem Jahr 2018 betont, in den meisten Fällen könne nicht von sozialen Aufständen mit politischem Charakter gesprochen werden. Die Gewalt, die in diesen Vierteln gewissermassen zur Routine geworden sei, richte sich eben nicht nur gegen Polizisten, sondern auch gegen Pfleger, Ärzte, Feuerwehrleute, Juden, Frauen und Homosexuelle. Und es würden auch Kindergärten und Bibliotheken angezündet. Auch die Tausenden von Autos, die jedes Jahr abgefackelt würden, gehörten mehrheitlich den Bewohnern der Banlieues selbst. Diese sind denn auch die hauptsächlichen Leidtragenden der Gewalteruptionen.