Liebe Schweizerinnen und Schweizer, wir müssen reden. Und zwar über die bevorstehenden Wahlen und euer politisches System. Ich selbst komme aus Deutschland und bin erst vor kurzem in die Schweiz gezogen. Da ich nun als Redaktorin bei watson arbeite, bleibt mir nichts anderes übrig, als mich endlich mit der Schweizer Politik auseinanderzusetzen. Ich kann euch sagen, es ist eine Herausforderung. Deshalb habe ich ein paar Fragen an euch:
Laut Swissinfo gibt es «keinen Grund zur Sorge: Das Ausfüllen einer Liste für die Wahl des Nationalrats ist nicht besonders kompliziert». Naja, ich bin nicht unbedingt dieser Meinung. Denn falls einem der Wahlzettel noch nicht passt, kann man alle möglichen Änderungen vornehmen: kumulieren, panaschieren, oder sogar eine komplett neue Liste anfangen. Für mich klingt das nach einer Menge ungültiger Stimmzettel. Ist doch logisch, dass einem bei so vielen Optionen mal ein Fehler unterläuft, oder?
Ja, okay, in Deutschland gibt es dieses System auch. Aber immerhin nur auf der Kommunalebene – bei den Landtags- und Bundestagswahlen gibt es keine andere Möglichkeit, als hinter die gewünschten Parteien und Kandidatinnen sowie Kandidaten ein Kreuz zu setzen. Ganz einfach.
Das deutsche Wahlsystem bei Kommunalwahlen wird aufgrund seiner Komplexität kritisiert: Der Gründer des Meinungsforschungsinstituts Forsa, Manfred Güllner, erklärt sich damit sogar die stetig sinkende Wahlbeteiligung bei Kommunalwahlen. «Das Wahlsystem muss einfacher werden», sagt Güllner. Vor allem in den Städten sei es «irre». Er betont zudem, dass es deshalb tatsächlich mehr ungültige Stimmzettel gibt. Wenn es in Deutschland eher schlecht funktioniert, kann ich mir kaum vorstellen, dass es in der Schweiz so viel besser läuft.
Die Schweiz ist zwar ein verhältnismässig kleines Land, aber reicht es wirklich, dass das Parlament viermal im Jahr für jeweils nur drei Wochen tagt? In der Schweiz gilt das Prinzip der Milizpolitik, eure Politikerinnen und Politiker üben also hauptberuflich einen anderen Job aus. Aus Deutschland bin ich das nicht gewohnt, hier heisst es: wenn schon Politikerin oder Politiker, dann auch richtig. Da stellt sich mir die Frage: Wie bringt ihr euer Land überhaupt zum Laufen?
Der Autor des Buches «A la découverte des institutions politiques suisses», Christian Pauletto, betont in einem Interview, dass «sich die Welt immer schneller» bewege und sich die Schweiz anpassen müsse. Die «Langsamkeit» sei «Teil der Institutionen» – ein Gesetz zu verabschieden würde «immer recht lange dauern». Vielleicht sollte dieses System in Anbetracht der sich überschlagenden Ereignisse auf der ganzen Welt einmal überarbeitet werden.
Dass ich die Kandidierenden für das Schweizer Parlament nicht kenne, ist wohl keine grosse Überraschung. Ehrlich gesagt musste ich auch erst einmal recherchieren, wer überhaupt im Bundesrat sitzt, wer Bundespräsident ist und wer Bundeskanzler. Aber sind wir mal ehrlich – für euch sind die Kandidatinnen und Kandidaten für den Nationalrat und den Ständerat doch auch grösstenteils unbekannt, oder?
2023 hat die Zahl der eingereichten Listen und Kandidaturen einen neuen Höchststand erreicht: 5909 Personen kandidieren auf 618 Listen in den Proporzkantonen um einen Sitz im Nationalrat. Um euch zu zeigen, wie übertrieben das ist, hier ein Vergleich: Zur deutschen Bundestagswahl im Jahr 2021 traten insgesamt 6211 Wahlbewerberinnen und -bewerber an. Das sind zwar etwas mehr als in der Schweiz, aber Deutschland hat auch über zehn mal so viele Einwohner und Einwohnerinnen! Hier kann doch irgendetwas nicht stimmen.
Eure Wahlbeteiligung kann sich leider nicht wirklich sehen lassen. Bei der Wahl im Jahr 2019 wählten lediglich 45,1 Prozent aller Schweizerinnen und Schweizer. Schätzungsweise könnte die Wahlbeteiligung in diesem Jahr noch geringer ausfallen. Indiz dafür ist die wahrgenommene Bedeutung der Wahlen für die Zukunft der Schweiz: Laut dem SRG-Wahlbarometer des Forschungsinstituts Sotomo wird dem Wahlausgang in diesem Jahr weniger Bedeutung zugemessen als noch 2019. Das passt zur vorherigen Erkenntnis, dass den politischen Institutionen der Schweiz eine Langsamkeit innewohnt, die schnelle Veränderungen erschwert.
Da die Schweiz eine direkte Demokratie ist, stelle ich mir die Frage, ob ihr schlichtweg zu verwöhnt seid? Denn ihr wisst, bei einigen Themen habt ihr die Entscheidungsmacht – egal, welche Partei im Parlament sitzt. Warum sich dann für eine Partei entscheiden? Oder nervt es euch, dass neben all den Volksinitiativen und Referenden, bei denen ihr bereits abstimmen könnt, jetzt schon wieder eine Entscheidung ansteht? Habt ihr keine Lust mehr zu entscheiden und seid einfach nur wahlmüde? Oder seid ihr so zufrieden mit dem Status Quo, dass ihr gar keinen Handlungsbedarf seht?
Ich finde jedenfalls, dass ihr euer Wahlprivileg mehr ausnutzen solltet – egal, ob bei Volksentscheiden oder bei den bevorstehenden Parlamentswahlen. Selbst wenn ihr mit dem Status Quo zufrieden seid: Besser geht immer.
Trotz allem muss man euch eins lassen: Irgendwie funktioniert ja doch alles ganz schön gut. Ich bin natürlich auch aus gutem Grund in die Schweiz gezogen, denn Zürich gehört zu den lebenswertesten Städten der Welt. Ich fühle mich sehr wohl hier und mein Meckern bewegt sich auf einem hohen Niveau. Euer Vertrauen in die Schweizer Regierung ist im internationalen Vergleich besonders hoch, die Schweiz gehört sowohl politisch als auch wirtschaftlich zu den stabilsten Ländern der Welt. Auch wenn mir (und vielen anderen Deutschen) einige Dinge in eurem politischen System kurios oder zu kompliziert vorkommen, macht ihr offenbar viele Dinge richtig.
Ich finde wir haben ein Top-System in der Schweiz, bis auf die vielen Wirtschafts-Lobbyisten in Bern vielleicht. Aber jene lassen sich mit etwas Recherche schnell filtern, wenn man will.