Nobody is perfect? Seit dem frühen Sonntagmorgen kann man diese Binsenweisheit neu interpretieren. Denn Nemo, lateinisch für Niemand, zeigte auf der Bühne in Malmö eine derart perfekte Show, dass die Schweiz gegen alle Wettquoten den Sieg beim Eurovision Song Contest 2024 holte, erstmals seit Céline Dions Triumph 1988.
Zweifel gab es bis zuletzt. Auch ich hielt «The Code» für raffiniert, aber zu wenig eingängig, um bei der breiten Masse zu punkten. Total daneben lag ich nicht. Hätten wie in früheren Fällen nur die Publikumsstimmen gezählt, hätte es für die Schweiz mit Platz 5 eine weitere «ehrenvolle Niederlage» gegeben. Das Juryvoting gab den Ausschlag für Nemo.
Nun darf die Schweiz 2025 erstmals seit 36 Jahren wieder den ESC organisieren. Oder sie muss. Denn Würde bringt auch Bürde. In Schweden jedenfalls waren am Ende viele froh, dass es vorbei war. Es winkt ein beträchtlicher Werbeeffekt. Aber in den nächsten Wochen und Monaten wird es zu schwierigen Debatten kommen, und das in mehrfacher Hinsicht.
«Nemo hat alle verzaubert», kommentierte die «Berner Zeitung» am Montag den Erfolg des Showtalents aus Biel auf ihrer Frontseite. Im Gefühlschaos sind solche Schlagzeilen legitim, aber dass die ganze Schweiz in Jubel ausgebrochen wäre, ist masslos übertrieben. Viele stossen sich an Nemos offensiv zelebrierter Identität als non-binäre Person.
Das gilt besonders für jene Kreise, die sich gerne als Superpatrioten inszenieren. Oder für Journalistinnen und Journalisten, die mit Vorliebe gegen alles lästern, was irgendwie «woke» aussieht. Ihnen scheint es ob Nemos selbstbewusstem Auftritt (der Song! das Kostüm!) und den ungenierten Forderungen an die Politik die Sprache verschlagen zu haben.
Andere halten sich weniger zurück. Das zeigen die vielen Hasskommentare gegen Nemo in sozialen oder «klassischen» Medien, etwa unter einem Meinungsartikel der NZZ, der sich kritisch zur Zulassung eines dritten Geschlechts in der Schweiz äussert. Es lässt sich nicht bestreiten, dass der damit verbundene Aufwand enorm wäre, wie die NZZ schreibt.
Das aber darf kein Grund für Diskussionsverweigerung sein, auch wenn viele ein Problem mit einer Welt haben, die nicht strikt nach Mann und Frau unterscheidet. Der Nationalrat hat im letzten Herbst in alter Zusammensetzung dem Bundesrat einen entsprechenden Auftrag erteilt. Es zeichnen sich schwierige und heftige Debatten ab – auch für Nemo selbst.
Letztmals fand der ESC, damals besser bekannt als Concours Eurovision de la Chanson, 1989 in der Schweiz statt. Es war eine andere Zeit, alles war ein paar Nummern kleiner als heute. Es gab nur 22 statt wie in Malmö 37 teilnehmende Länder. So fehlte der gesamte Ostblock. Bis zum Fall der Berliner Mauer dauerte es noch genau sechs Monate.
Trotzdem gab es Debatten, ob die «kleine» Schweiz den Event stemmen könne. Schliesslich fand er im Palais de Beaulieu in Lausanne statt. Heute ist ein Verzicht kein Thema, doch die Anforderungen sind erheblich grösser als damals. Laut Experten gibt es eigentlich nur in Basel, Genf oder Zürich genügend grosse Hallen und die notwendige Infrastruktur.
Das Interesse von Biel oder St.Gallen ist ehrenwert, doch sie wären mit der Organisation des ESC heillos überfordert. Sie ist ein Kraftakt, auch finanziell, und «eine riesige Aufgabe für die SRG», so die NZZ. SVP-Nationalrat Thomas Matter sagte zu «20 Minuten», die SRG solle «bei einem solchen Queer-Event wohl eher sparsam mit ihren Mitteln umgehen».
Diese Aussage ist in mancher Hinsicht vielsagend. Aus Sicht der SVP ist Nemos Sieg für die Schweiz offensichtlich mehr Last als Lust. Doch einen «schmörzeligen» ESC können sich die SRG und die reiche Schweiz kaum leisten. In den Medien werden die Kosten auf bis zu 40 Millionen Franken geschätzt. Die Frage, wer das bezahlen soll, wird für rote Köpfe sorgen.
Viele Kommentatoren waren sich einig: So politisch wie in Malmö war der ESC noch nie. Dafür sorgte vor allem der Gaza-Krieg, der eine lautstarke Minderheit in Europa mobilisiert. Am ESC äusserte sich dies durch Buhrufe gegen die israelische Sängerin Eden Golan. Das TV- und Online-Publikum gab die passende Antwort mit zahlreichen Sympathie-Stimmen.
Sie belegten, dass die europäische Öffentlichkeit den angeblichen «Genozid» an den Palästinensern differenzierter beurteilt als die Demonstranten und manche Medienleute. So etwa der Feuilletonchef der NZZ, der sich in der Samstagsausgabe angesichts der Proteste an Universitäten über die angebliche «Selbstzersetzung des Westens» in Rage schrieb.
Ausgerechnet der ESC zeigte am gleichen Tag, dass die Realität komplexer ist. Noch weiss niemand, was das für die Austragung in einem Jahr bedeutet. Der Krieg ist bis dahin hoffentlich vorbei, aber der Gazastreifen ist ein Trümmerfeld, das Elend dürfte auf Jahre hinaus unbeschreiblich sein. Die Schweiz sollte sich auf neuen Zoff vorbereiten.
Der Eurovision Song Contest ist zu einem Mega-Event geworden. Er ist das Abbild eines schillernden, in mancher Hinsicht diversen Kontinents. Das nimmt man sogar in den USA zur Kenntnis. Dort hatte man den ESC lange als typischen «Eurotrash» belächelt. Jetzt vermeldeten Leitmedien wie CNN und die «New York Times» Nemos Sieg als Breaking News.
Das mag mit den Gaza-Protesten zusammenhängen. Doch nun kennen viele Amerikaner die nichtbinäre Person Nemo, während ein Schweizer «Mainstream-Promi» wie Marco Odermatt den wenigsten ein Begriff ist. Nemos epochaler Erfolg in Malmö wird lange nachwirken, auf verschiedenen Ebenen. Denn Nemo ist jemand, kein Niemand.
Da haben wir unser Geld schon für extrem viel blöderes ausgegeben.
Was kostet eigentlich so eine weltweite Jahreskampagne von myswitzerland in etwa? Frage für einen Freund...