Die Journalistinnen und Journalisten des «Express» waren deprimiert und bestellten grosse Mengen an alkoholischen Getränken. Die Redaktoren arbeiteten für eine Zeitung, der ein Makel anhaftete: Sie erschien nie.
Das Zürcher Medienunternehmen Tamedia wollte sich im Jahr 2003 an «20 Minuten» beteiligen. Vier Jahre nach der Lancierung des Pendlerblattes zeigte sich, dass dessen Konzept aufging. Der norwegische Konzern Schibsted liess aber nicht mit sich reden. Also kündigte der damalige Tamedia-Chef Martin Kall an, dass mit dem «Express» bald eine Konkurrenzzeitung erscheinen werde. Tamedia stellte eine neue Redaktion zusammen.
Das war eine Drohgebärde. Sie verfehlte ihr Ziel nicht. Kurz vor dem Start des «Express» gewährten die Norweger Tamedia den Einstieg bei «20 Minuten». Die Zürcher stoppten ihr eigenes Projekt. 2005 übernahmen sie «20 Minuten» ganz.
Jetzt hat das Unternehmen bekannt gegeben, dass die gedruckte Ausgabe im Dezember 2025 eingestellt wird. Die Ära der Pendlerzeitungen geht zu Ende. Es gab eine Zeit, da lagen in den öffentlichen Verkehrsmitteln des Landes nicht nur Exemplare von «20 Minuten», sondern diverser anderer Gratiszeitungen herum. Die Verkehrsbetriebe beschäftigten zusätzliches Putzpersonal, um der Papierflut Herr zu werden.
Das Konzept kam aus Schweden. Der Kernpunkt: Die Kosten einer Zeitung ergeben sich aus den Löhnen der Journalisten, aus dem Druck sowie der Zustellung in die Haushalte. Wenn man nun für die Verteilung viel weniger Geld ausgibt, kann man das Produkt gratis an die Kunden abgeben.
Wie schafft man das? Das Blatt wird nicht in die Haushalte geliefert, sondern liegt in Zeitungsboxen auf – an Bahnhöfen, Bus- und Tramhaltestellen. Wer morgens zur Arbeit pendelt, fischt ein Gratisblatt aus der Box.
«Metro» in Stockholm und Göteborg war 1995 die erste Pendlerzeitung. Die Schweden hatten bald den Grossraum Zürich für ein gleichartiges Projekt im Visier. Es kam im Jahr 1999 nur schleppend voran.
Schweizer Beteiligte erzählen, dass die beiden schwedischen Projektleiter, zwei vormalige Maoisten, viele Vorgaben gemacht hätten. Der Wille, den Plan aus Schweden schweizerischen Begebenheiten anzupassen, sei nur in Ansätzen spürbar gewesen.
Die Norweger von Schibsted gingen anders ans Werk. Sie liessen dem Team in Zürich weitgehend freie Hand. Finanziell beteiligt an «20 Minuten» war der Investor Ernst Müller-Möhl, der im Mai 2000 in einem Privatflugzeug am Gotthardmassiv tödlich verunfallte.
Ende 1999 kam es zum Wettrennen: Welches Gratisblatt würde in der Schweiz zuerst auf den Markt kommen? «20 Minuten» oder «Metropol»? Das Produkt der Schweden hiess nach der Beilegung eines Markenstreites ein wenig anders. Kurz vor Weihnachten erschien «20 Minuten» zum ersten Mal. Während Wochen konnten alle Inserenten gratis ihre Anzeigen platzieren.
Die Zeitungsboxen an Bahnhöfen hatte sich aber «Metropol» gesichert. «20 Minuten» reagierte umgehend und reaktivierte einen Berufsstand, den es nicht mehr gab: den des Zeitungskolporteurs. Das sind Personen, die auf den Strassen und Plätzen den Passanten Zeitungsexemplare in die Hand drücken. Auch in den Beizen wurden die Blätter manchmal verteilt.
«20 Minuten» hatte den längeren Atem als «Metropol.» Das Pendlerblatt mischte Nachrichten mit Gesellschaftsgeschichten und setzte mit seinem Boulevardkurs dem «Blick» von Ringier zu. Und es entwickelte sich zum Goldesel von Tamedia.
Dutzende Millionen Franken an Gewinn spülte «20 Minuten» dem Unternehmen jährlich in die Kasse; die Rendite lag zeitweise zwischen 35 und 40 Prozent. «20 Minuten» galt als eine der rentabelsten Tageszeitungen der Welt. Als vorteilhaft erwies sich, dass die Leserschaft – vorwiegend Pendlerinnen und Pendler – jünger war als die Konsumenten anderer Blätter.
Der Erfolg rief neue Konkurrenten auf den Plan. Sie scheiterten, wie «Blick am Abend» und «.ch». Letzteres fiel mit einer neuen Zustellung auf: Nicht Zeitungsboxen im öffentlichen Verkehr waren vorgesehen, sondern Zeitungsständer unmittelbar vor den grossen Wohnhäusern. Die Abwarte, stets besorgt um die Ordnung in den Siedlungen, räumten die Ständer aber gleich reihenweise weg – und «.ch» war erledigt.
Wer heute in der Schweiz zur Arbeit pendelt, sieht auf den Bahnperrons nicht mehr viele Leute, die ein gedrucktes Exemplar von «20 Minuten» in der Hand halten. Die meisten Pendler schauen in ihre Smartphones und konsumieren so Nachrichten. Die Auflage der Gratiszeitung brach ein während der Corona-Pandemie, erholte sich danach leicht, erreichte aber nicht mehr das Niveau der Vorjahre.
Das Online-Portal von «20 Minuten» ist das reichweitenstärkste der Schweiz, steht aber unter Druck, weil die amerikanischen Tech-Konzerne wie Apple, Alphabet und Meta Werbeerlöse aus dem Schweizer Markt abziehen. Die Rendite sinkt. Die TX Group – vormals Tamedia – vollzieht nun nach der Art des Hauses einen harten Schnitt: Nicht nur die gedruckte Ausgabe von «20 Minuten» wird eingestellt, auch die regionalen Redaktionsbüros in Basel, Genf, Luzern und St.Gallen fallen weg.
Es verbleiben nur die Standorte Zürich, Bern und Lausanne. Die TX Group streicht rund 80 Stellen. Das entspricht 28 Prozent der Belegschaft. Für die Nachrichtenproduktion setzen die Medienhäuser zunehmend Anwendungen der künstlichen Intelligenz ein. Journalisten aus Fleisch und Blut sind da überzählig.
Es ist ein schwacher Trost für die Redaktorinnen und Redaktoren, die nun entlassen werden: Sie haben für ein Presseerzeugnis gearbeitet, das anders als der «Express» kein Phantom, sondern sehr erfolgreich war. Nach 25 Jahren ist in der Schweiz die Zeit der Pendlerzeitungen vorbei. 2500 Zeitungsboxen werden Ende Jahr verschwinden.
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