Die wenigsten Menschen können von sich behaupten, schon auf einem Kirchturm übernachtet zu haben. Renato Häusler dagegen tat das nicht ein- oder zweimal, sondern bereits über 3300 Mal. Jede Übernachtung notierte der heute 65-Jährige mit einem Strich im Wandschrank seiner Loge auf der Kathedrale Notre-Dame in Lausanne.
Die wenige Quadratmeter kleine Kammer, ausgestattet mit einer Holzpritsche sowie einem einfachen Tischchen und zwei Stühlen, liegt im Glockenturm in 30 Metern Höhe. Seit Jahrzehnten ist sie der Rückzugsort von Renato Häusler, dessen Aufgabe als «Guet» von Lausanne darin besteht, zwischen 22 Uhr und 2 Uhr morgens draussen auf der Turmplattform die Stunden auszurufen.
Die Bezeichnung «Guet» geht auf das Verb «guetter» (dt. spähen) zurück. Ursprünglich musste der «Guet» von Lausanne nämlich nicht nur die Uhrzeit verkünden, sondern die Stadt vor Angriffen und Bränden warnen. Solche Turmwächter gab es im Mittelalter in ganz Europa. Ab dem 19. Jahrhundert verschwanden sie jedoch fast überall aus dem Stadtbild. Das Frühwarnsystem war obsolet geworden.
Heute ist Lausanne die einzige Stadt in der Schweiz und einer der letzten Orte auf der Welt, in dem die tägliche Arbeit der Turmwächter seit dem Mittelalter nie unterbrochen wurde. Die erste schriftliche Erwähnung des «Guet» von Lausanne datiert von 1404. Teil dieser langen Tradition zu sein, mache ihn glücklich, sagt Renato Häusler. «Auch wenn ich schon tausendmal auf den Turm gestiegen bin und die Uhrzeit ausgerufen habe, bin ich jedes Mal dankbar für mein Schicksal, hier zu sein.»
Das erste Mal die 153 Treppenstufen erklommen hat Häusler, der in Zürich geboren und mit seinen Eltern als Kleinkind in die Waadt gekommen ist, im Jahr 1987. Zunächst arbeitete er als stellvertretender Turmwächter. 2002 ernannte ihn die Stadt Lausanne zum Hauptwächter, der an fünf Nächten die Woche im Einsatz steht. Geholfen haben dürfte Häusler bei der Ernennung, dass er wegen seiner Deutschschweizer Wurzeln fliessend Schweizerdeutsch spricht - gerade für die Touristenführungen ein Vorteil.
Ende Dezember geht der 65-Jährige nun in Pension. «Gerne wäre ich ein oder zwei Jahre länger geblieben, aber vonseiten der Stadt war das leider nicht möglich», sagt Häusler, ehe ihn das Geläut der Kirchenglocke unterbricht. Es ist Punkt 22 Uhr. Der Turmwächter packt Filzhut und Mantel, zündet die Kerze in seiner Laterne an und geht raus in die kalte Herbstnacht. Sobald die Glocke verstummt ist, ruft er durch seine zu einem Trichter geformten Hände: «C'est le guet, il a sonné dix, il a sonné dix». Und zwar je einmal in alle vier Himmelsrichtungen: «Dies ist der Türmer, es hat zehn geschlagen, es hat zehn geschlagen.»
Bereits nach einer Minute ist die Arbeit für diese Stunde getan und Häusler zieht sich in seine beheizte Loge zurück. Meist spielt er dort einige Partien Scrabble auf seinem Laptop, hört klassische Musik und recherchiert zu Themen wie der Astronomie. «Ich schätze die Einfachheit des Raums, die Ruhe und die Zeit mit mir allein», erklärt der Turmwächter. Hier fühle er sich wie in einer «Zeitkapsel», in welcher er der heutigen Gesellschaft entfliehen könne, in der alles immer schneller gehen müsse.
Offenbar stossen diese Aussichten auf grosses Interesse: Die Stadt Lausanne hat über 100 Bewerbungen für den Posten als Hauptwächter erhalten. Die Stelle entspricht einem Pensum von 55 bis 60 Prozent und wird entlöhnt.
So geruhsam die Arbeit erscheinen mag, so gross waren aber auch die Opfer, die Renato Häusler und seine Familie dafür erbracht haben. Bis 2014 arbeitete der zweifache Vater neben seinem Job als «Guet» gleichzeitig als Sozialarbeiter in einer Institution für Menschen mit Behinderung. An unzähligen Morgen ging er nach der Übernachtung im Glockenturm direkt zur Arbeit. Seine Frau und seine beiden Töchter sah er für einige Stunden am Abend - bis er wieder in die Kathedrale ausrückte.
«Meine Frau war immer sehr tolerant», zeigt sich der abtretende Turmwächter dankbar. Irgendwann sei ihm aber die Mehrfachbelastung zu viel geworden, zumal er sich gleichzeitig als Lichtkünstler zu etablieren versuchte. Anders als seinen Job als Sozialarbeiter hat Häusler dieses Standbein behalten.
Unter dem Label «Kalalumen» setzt er mittlerweile mit Kerzenlicht Kirchen, Schlösser und Konzertsäle im In- und Ausland in Szene. Zuletzt platzierte er 2300 Kerzen in der Kirche Notre-Dame von Calais in Frankreich. Diese Aktivität wird Häusler im Pensionsalter intensivieren - und somit auch künftig mit grossen Zahlen hantieren. (bzbasel.ch)