Schweiz
Unvergessen

Seilzieh-Weltrekord in Lenzburg endet in tödlicher Tragödie

Unvergessen

«Erst grosses Gelächter, dann Schreie»: Seilzieh-Weltrekord in Lenzburg endet in Tragödie

12. Mai 1984: In Lenzburg versammeln sich 880 Personen, um den Weltrekord im Seilziehen zu knacken. Wenige Sekunden nach dem Startschuss reisst das Seil. Auf der Tribüne lachen die Zuschauer – bis sie realisieren, was da gerade geschehen ist.
12.05.2020, 00:0109.05.2024, 15:41
Marius Egger
Mehr «Schweiz»

Es ist Donnerstag, 10. Mai 1984, als in einem Lokalanzeiger im Raum Lenzburg der Artikel eines Redaktors erscheint. Er schreibt über den bevorstehenden Weltrekordversuch im Seilziehen. Nie zuvor würden mehr Leute gemeinsam an einem Seil gezogen haben, Lenzburg sollte ein Eintrag im «Guinness Buch der Rekorde» sicher sein. Der Redaktor schreibt: «Eine grosse Ungewissheit bleibt jedoch bis zum Rekordversuch bestehen: Nämlich, ob das Seil der ungeheuren Belastung standhält. ‹Sonst›, lacht der Seilziehchef, ‹gibt es ein grosses Dominospiel›».

Zwei Tage später tönen die Zeilen wie eine makabre Vorahnung.

Es ist Samstag, 17.15 Uhr. Es ist der 12. Mai 1984, der Tag, an dem die Stadt Lenzburg einen Eintrag im «Guinness Buch der Rekorde» ergattern sollte. 880 Personen umklammern das 2,5 Zentimeter dicke Seil. Um den Rekord offiziell zu machen, fassten sie zuvor eine Nummer. Dann gibt ein Mitglied des Lenzburger Stadtrats den Startschuss.

Kaum mehr als 30 Sekunden später peitscht ein zweiter Knall über das Sportplatzgelände.

Seilziehen Lenzburg 1984
Die Mitte des Seiles, Sekunden, bevor es reisst.bild: srf

Das Seil hat der ungeheuren Zugkraft nicht standgehalten und ist gerissen. Der Knall des auseinanderreissenden Seils wird begleitet von einer Rauchwolke an der Bruchstelle. Innert Sekunden liegt ein Grossteil der 880 Menschen am Boden. Der Platzspeaker kommentiert live (siehe Video unten): «Ond jetzt esch s'Seili grisse! – S'Seili hett die unghüüri Belaschtig vo dem Wältrekord ned chöne ushalte.»

Rund 100 Personen wohnen dem Weltrekordversuch als Zuschauer auf der Tribüne und im Sportplatz-Café bei. Der Lokalreporter der «Aargauer Zeitung» schreibt:

«Einige unter ihnen brechen in ein schallendes Gelächter aus, wie sie die vielen Menschen am Boden liegen sehen. Dann bleibt es jedoch auf dem Gelände plötzlich für einige Sekunden still. Schliesslich beginnen sich die ersten Seilzieher mühsam aufzurappeln. Die ersten Schreie gellen über den Platz. Die Lacher sind verstummt.»
Die Seilzieher fallen unmittelbar nach dem Knall um wie Dominosteine.
Die Seilzieher fallen unmittelbar nach dem Knall um wie Dominosteine.bild: srf

Jetzt erst wird den Zuschauern bewusst, was sich da gerade für eine Tragödie ereignet hat. Vereinfacht gesagt zieht sich das Seil nach dem Knall extrem schnell «zusammen». Durch die Reibung «verbrennt» es den Teilnehmern die Hände – oder reisst es gar Haut und Finger ab. Der Lokalreporter schreibt weiter:

«Ein Knabe schreit vor Schmerz und streckt seine durch die Reibung am Seil total zerschundenen Hände in die Höhe – kurz darauf bricht er unter grossen Schmerzen zusammen. Ein kleines Mädchen taumelt wehklagend mit blutenden Händen an den Rand des Sportplatzes, unablässig um Hilfe rufend. Frauen und Männer winden sich vor Schmerz, verbergen ihre Hände in Kleidungsstücken. Ein paar Knaben strecken herbeieilenden Helfern ihre geschwollenen, stark blutenden Hände entgegen.»
Eine Helferin betreut eine verletzte Person auf dem Sportplatz.
Eine Helferin betreut eine verletzte Person auf dem Sportplatz.bild: srf

Der Zwischenfall löst auf dem Sportplatz eine Panik aus. In grosser Angst rennen Verletzte und Zuschauer weg. Noch Stunden nach dem Unglück wird nach abgerissenen Fingern gesucht.

Um den am schwersten verletzten Teilnehmer, der bewusstlos auf dem Rasen liegt, kümmern sich Helfer. Der Mann erliegt später seinen Verletzungen im Spital. Insgesamt werden 24 Menschen zum Teil schwer verletzt.

Zwei Jahre nach dem Vorfall wird der Geschäftsführer der Seilfabrik, die das Seil lieferte, vom Aargauer Obergericht auch in zweiter Instanz freigesprochen. Das Gericht verwies darauf, dass der Käufer auf die mangelnde Belastbarkeit aufmerksam gemacht worden war.

Unvergessen
In der Serie «Unvergessen» blicken wir jeweils am Jahrestag auf ein grosses Ereignis der Sportgeschichte zurück: Ob hervorragende Leistung, bewegendes Drama oder witzige Anekdote – alles ist dabei.
Um nichts zu verpassen, like uns auch auf Facebook!
DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Für immer unvergessen! Diese Sportler gibt's als Statue
1 / 34
Für immer unvergessen! Diese Sportler gibt's als Statue
Obwohl immer noch aktiv wird Rafael Nadal vor dem French Open 2021 in Paris als Statue verewigt. Das Ding ist sechs Meter gross, wurde komplett aus Metall und zu Ehren seiner (bislang) 13 Roland-Garros-Titel gefertigt.
Auf Facebook teilenAuf X teilen
Basketballwurf Weltrekord
Video: watson
Das könnte dich auch noch interessieren:
Hast du technische Probleme?
Wir sind nur eine E-Mail entfernt. Schreib uns dein Problem einfach auf support@watson.ch und wir melden uns schnellstmöglich bei dir.
10 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
herrkern (1)
12.05.2020 06:59registriert Juli 2017
Es hat mich damals kalt geschaudert, und auch jetzt schüttelt es mich, wenn ich das lese.
1552
Melden
Zum Kommentar
avatar
Hans Franz
12.05.2020 07:20registriert Januar 2016
Wurde eigentlich jemand zur Rechenschaft gezogen? Der Seilverkäufer hat darauf hingewiesen das es womöglich nicht hält, was ist mit dem Käufer der dies ignorierte? Oder gab er diese Info weiter und wurde nicht erhöhrt?
7014
Melden
Zum Kommentar
10
Neue Schilthornbahn läuft: Jetzt hat die Schweiz die steilste Seilbahn der Welt

Die steilste Seilbahn der Welt zwischen Stechelberg und Mürren im Berner Oberland hat am Samstag den Betrieb für die Passagiere aufgenommen. Die Seilbahnfahrt mit einer Steigung von 159,4 Prozent über die senkrechten Wände der Mürrenfluh dauert nur vier Minuten.

Zur Story