Die Schweizer Gletscher schmelzen. Das ist seit Jahren so. Mancher von uns besucht nach Jahren wieder den gleichen Ort in den Bergen und erschrickt, wie weit sich die Eismassen zurückgezogen haben. Das «ewige Eis» ist vergänglich geworden, denn Gletscher reagieren empfindlich auf die Klimaerwärmung. Doch wie geht es unseren Gletschern wirklich? Wir haben mit Matthias Huss, Glaziologe an der ETH Zürich und Leiter des Schweizer Gletschermessnetzes GLAMOS, gesprochen.
Matthias Huss, an was denken Sie, wenn Sie das Wort «Gletscher» hören?
Matthias Huss: Puh, eine gute Frage. Das habe ich mir noch gar nie so überlegt. Ans Hochgebirge, ans Schmelzen. An den Rückgang, der anschaulich für den Klimawandel ist. Nicht beruflich verbinde ich viele positive Gefühle mit ihnen und habe viel Schönes erlebt. Gletscher gehören für mich in den Schweizer Bergen einfach dazu.
Sie haben die Gletscherschmelze schon erwähnt. Haben Sie einen Ort, an dem ihnen das jeweils am eindrücklichsten bewusst wird?
Eindrücklich ist es überall. Bei rund 20 Gletschern in der Schweiz bin ich regelmässig. Ich finde, wenn man das jedes Jahr sieht und eine Beziehung zum Gletscher aufbaut, dann wird es noch eindrücklicher. Grundsätzlich sind es bei mir schon jene Orte, die ich seit Jahren kenne. Und weniger Orte, die ich früher mal besuchte und die heute ganz anders aussehen.
Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?
Der Pizolgletscher. Da habe ich während der letzten 20 Jahre hautnah miterlebt, wie er aus einem schönen Gletscher zu einem völlig verfallenen Rest geworden ist. Der Pizolgletscher wird heute ja nicht mehr als Gletscher klassifiziert (seit 2021 keine Messungen mehr, Anm. d. Red.). Es handelt sich nur noch um Toteis-Reste. Für die Forschung ist es spannend zu beobachten, wie alles verschwindet. Es ist ein langer Prozess.
Ich denke immer an die Metalltreppe bei der Konkordia-Hütte oberhalb des Grossen Aletschgletschers und wie sie immer länger wird. Aktuell sind es rund 400 Treppenstufen.
Stimmt. Allerdings: Diese Treppe wurde 2021 etwas versetzt und wird jetzt nicht mehr verlängert. Aber ja, vom Gletscher bis zur Hütte sind es mittlerweile rund 300 Höhenmeter. Und wenn man bedenkt, dass beim Konkordiaplatz (dort wo drei Gletscher zusammenfliessen) noch eine Eisdicke von rund 800 Metern liegt, dann ist das sehr eindrücklich.
Wie weit wird der Grosse Aletschgletscher in den nächsten Jahren noch «absinken»?
In einem Szenario ohne Klimaschutz könnte er bis in 75 Jahren komplett verschwinden. Falls wir bis 2050 das Netto-Null-Emissionen-Ziel erreichen und die weltweite Erwärmung deutlich weniger als zwei Grad beträgt, wird der grösste Alpengletscher zwar kürzer und dünner, bleibt jedoch mit seinen drei Eisströmen zum Teil erhalten.
Ich habe gelesen, dass die Gletscher für das aktuelle Klima eigentlich zu gross sind.
Das ist so. Gletscher reagieren langsam. Vor allem so Riesen wie der Grosse Aletschgletscher haben eine sehr lange Reaktionszeit. Der «hinkt» eigentlich ein halbes Jahrhundert hinterher. Grosse Gletscher sind schwieriger zu stabilisieren. Selbst wenn wir die Temperaturen jetzt stabil halten und den Klimaschutz schnell extrem stärken könnten, würde er – wie andere grosse Gletscher – in den nächsten Jahren rund zwei Drittel seines Eisvolumens verlieren.
Was nützt denn der Klimaschutz für die Gletscher noch?
Es ist noch nicht zu spät. Das Schmelzen der Gletscher ist ja nur eine Auswirkung. Bei Themen wie Starkniederschlägen, Dürren oder dem Schmelzen der Eisschilde an den Polen kann man noch einen grossen Unterschied machen. Bei den Gletschern könnten kleinere und steile Gletscher von den Massnahmen profitieren. Ich nenne hier nochmals den Pizolgletscher mit seinem Schattenhang und Schutt auf den Eisresten.
Eine Auswirkung, wenn Gletscher kleiner werden, ist ja auch der veränderte Wasserhaushalt. Sieht man da schon Auswirkungen?
Die sind aktuell «maskiert». Weil die Gletscher kleiner werden, geben sie mehr Wasser ab. Wenn man so will, sind wir noch in den «fetten Jahren» drin, es kommt viel Gletscherwasser. Aber der Kipppunkt kommt näher. Ab einer gewissen Grösse sind die Gletscher nicht mehr fähig, genügend Wasser abzugeben. Also aktuell haben wir eher mehr Wasser, die Gletscher kommen salopp ausgedrückt kaum nach mit Schmelzen. Aber in Zukunft wird das fehlende Wasser nicht nur in Gebirgsbächen, sondern dann auch in grossen Strömen wie dem Rhein, Inn oder der Rhone zum Problem.
Wie verlief der aktuelle Winter für die Gletscher?
Der ist noch nicht durch. Den Höhepunkt erleben wir meist Ende April, teilweise erst Ende Mai. Die Situation momentan ist aber nicht gut. Es ist zwar nicht so dramatisch wie 2022 oder 2023, aber wir haben eindeutig zu wenig Schnee. Aktuell liegt teils fast rekordwenig Schnee. Genaue Daten kommen aber erst in ein paar Wochen.
Im letzten Juli war ich auf dem Claridenfirn. Der war noch total schneebedeckt, es sah nach einem guten Jahr für die Gletscher aus. Das änderte sich dann innert Wochen. Wie konnte das geschehen?
Der Claridenfirn wird seit 110 Jahren gemessen. Im letzten Winter wies er die höchste Schneemenge seit Messbeginn auf. Ende Juni sah es wirklich gut aus. Aber im Juli und August schmolzen rund sechs Meter Schnee. Am Ende verlor der Claridenfirn fast am meisten aller Schweizer Gletscher. Ein paar heisse Wochen und es kann schnell gehen.
Auf dem Claridenfirn war der Sahara-Staub letztes Jahr gut sichtbar. Kürzlich gab es wieder Meldungen dazu in der Schweiz. Was ist da der Stand?
Ja, das ist ein Thema, allerdings nicht mehr so ausgeprägt wie in den Jahren zuvor. Der Gletscher akkumuliert den Staub. Im Flachland wird der mit dem nächsten Regen weggewaschen. Auf dem Gletscher wird er eingeschneit und bleibt. Wenn der Schnee dann schmilzt, heizt der Sand zusätzlich auf.
Was halten sie eigentlich von Gletscherpalästen wie auf dem Klein Matterhorn, dem Titlis oder beim Rhonegletscher. Also Orte, wo man touristische Infrastruktur in den Gletscher baut und diesen so auch verletzt?
Die Öffentlichkeit will Gletschergrotten und Ski fahren auf dem Gletscher. Ich finde, dort, wo es das schon gibt, kann man das aus touristischen Gründen behalten. Aber neue solche Angebote darf es nicht geben.
Sehen Sie solche Anlagen ähnlich wie ein Zoo, wo immer wieder mit der Sensibilisierung der Menschen für die bedrohte Tierwelt argumentiert wird?
Nein, eigentlich nicht. Gletscher sind Naturschönheiten und attraktiv. Das versucht man so lange wie möglich zu verkaufen. Das ist zwar kritisch, der Eingriff im Hochgebirge ist nicht gut und wenn man einen Bagger auf dem Gletscher Eis verschieben sieht, wirkt das schon krass. Aber der Verlust des Eises durch diese Arbeiten ist sehr, sehr klein. Das bricht den Gletschern nicht das Genick. Man kann das verteufeln, aber den Klimawandel zu verlangsamen und die weltweiten Durchschnittstemperaturen kühler zu halten, bringt viel, viel mehr.