Eine Granate kommt den Kindern entgegen geschossen. Sie findet ihren Weg ins Kellerversteck durch einen Luftschacht. Ein Mädchen überlebt unter den Leichen seiner drei Geschwister. Es ist Januar 1945 in Budapest. Jemand hat das Versteck der jüdischen Familie an die Nazis verraten.
Die feinen Splitter, die das Mädchen in seinem Körper mit sich trägt, werden gut zwanzig Jahre später zum Tod führen. Doch zuerst wird sie Ehefrau und Mutter. Ihr Mann hat die Konzentrationslager Auschwitz und Dachau überlebt. Von seinen nächsten Verwandten sind nur noch drei am Leben. Alle andern wurden vergast.
1950 kommt Tochter Olga zur Welt, 1954 Sohn Klaus. Als Klaus zwei Jahre alt ist, verbringen die Kinder einen Abend allein zuhause. Draussen tobt der Ungarnaufstand. Eine sowjetische Panzergranate trifft ihre Wohnung, sie geht in Flammen auf.
Danach flieht die Familie Richtung Westen. Wird im schweizerischen Lenk von einem jüdischen Hilfswerk betreut. Wird mittellos und traumatisiert von Dorf zu Dorf verschoben, bevor sie in Zürich landet, wo ihnen ein koscherer Metzger im Kreis 4 einen seiner weiss geplättelten Metzgerei-Räume zur Verfügung stellt. Dort leben sie. Jeden Tag gehen sie ins öffentliche Bad im Volkshaus, um sich zu waschen.
Was ihnen die Schweiz am übelsten nimmt? Dass sie Juden sind. Klaus wird nach Bayern in ein katholisches Internat für ungarische Flüchtlinge geschickt. Später wird er seinem Vater vorwerfen, dass alles, was er dort erlebt hat, genau so schlimm wie die Zeit des Vaters im KZ gewesen sei.
Als Klaus nach Zürich zurückkehrt, stürzt er sich in die Subkultur der aufblühenden Jugendbewegung, wird Teil der «Autonomen Republik Bunker», «befreit» zwanzig bis dreissig Jugendliche aus einer Jugenderziehungsanstalt und wird dafür mit 17 zum ersten Mal in Einzelhaft gesteckt.
Anfang der 70er-Jahre wird er als junger Fotograf auf das besetzte Gelände des geplanten AKWs Kaiseraugst geschickt. Und bleibt gleich bei den Besetzern. Er schmeisst sich mit seinem ganzen Können als Dokumentarist und Rädelsführer in den Kreislauf aus Protest und Repression, Aufbegehren und Niedergetrampelt-Werden.
Er macht Bilder und hält Reden und kriegt dafür aufs Dach. Wahrscheinlich kennt ihn noch heute jeder Zürcher Polizist. Zum letzten Mal von den Bullen verdroschen wird er 2008, als er den Kampf um das besetzte Hardturmstadion fotografiert. Einer der Bullen wünscht ihm, dass er «vom Tram verschlierget» werde. Klaus Rózsa ist sich nichts anderes gewohnt.
Heute ist er 62 und selbst Gegenstand einer Dokumentation. Der Filmemacher Erich Schmid hat ihn zum Star von «Staatenlos» gemacht. Denn auch das war Klaus Rózsa 40 Jahre lang: ein Mann ohne Staatszugehörigkeit. Auf die schweizerische Staatsbürgerschaft musste er jahrzehntelang warten, weil es hiess, Ungarn sei ja inzwischen wieder eine Demokratie, es bestünde kein Grund, ihn einzubürgern. Es war eine Ausrede. Er war schon lang kein Ungar mehr, durch die Flucht hatte er die ungarische Staatsbürgerschaft verloren. Heute besitzt er beide Pässe.
Unbequem ist er trotzdem geblieben. Wie sehr ihn das «System», die Polizei und einige seiner prominenten SP-Parteigenossen in all den Jahren hassten (und umgekehrt) füllt wohl ganze Alpenlandschaften von Aktenordnern.
Erich Schmid schafft es, dass Klaus Rózsa im Film zum stringenten und objektiven Erzähler seines verrückten Lebens wird. Man hört ihm gerne zu, wenn er von den Jugendunruhen der 80er-Jahre erzählt. Vom brutalen Kampf ums Autonome Jugendzentrum AJZ an der Limmatstrasse neben dem Carparkplatz, den Zürichs Jugend schliesslich verlor, aus dem aber das Kulturzentrum Kanzlei samt Kino Xenix, die Rote Fabrik, der Jazzclub Moods, das Theaterspektakel und die Wochenzeitung WoZ hervorgingen.
Der Kampf damals war existenziell. Rózsa erzählt, wie sich die 23-jährige Silvia Z. 1980 aus Protest am Bellevue mit Benzin übergoss, sich in Brand steckte und qualvoll starb. Tag für Tag entfernte die Polizei die Kerzen der Trauernden. Es geht ans Herz.
Man sieht seine Bilder, die von all den Geschichten übrig geblieben sind, enorm gern. Bilder vom AJZ an der Limmatstrasse neben dem Carparklatz. Von den Globus- und Opernhaus-Krawallen. Gut 10'000 protestierten regelmässig, und je aggressiver die Begegnungen mit der Polizei wurden, desto mehr Sympathisanten fanden sich für die Jugendlichen, viele Eltern und etablierte Kulturschaffende marschierten mit.
Die Polizisten entdeckten das Gummischrot. Klaus Rózsa schoss mit seiner Kamera zurück. Er hatte seine Mission gefunden. Und wurde wieder und wieder zum Märtyrer.
Als cineastisches Erlebnis ist «Staatenlos» unwichtig. Neben Klaus Rózsas Material findet Schmid keine eigenen Bilder. Die nachgestellten Szenen sind peinlich. Aber darum geht es auch nicht. Denn als Dokumentation über einen unbeugsamen Widerspenstigen mitten in der Geschichte Europas und Zürichs ist der Film unverzichtbar.
«Staatenlos» läuft jetzt im Zürcher Lunchkino, am 4. April sind Klaus Rózsa und Erich Schmid anwesend. Ab 6. April ist der Film im regulären Kinoprogramm zu sehen.