Es war eine regelrechte Krise, wie sie es die Schweizer Schiedsrichter schon lange nicht erlebt hatten. Im Mai, nachdem Bledian Krasniqi vom FC Zürich gegen den FC Basel eine Schwalbe machte, die alle sahen - ausser der Schiedsrichter im Video Operation Room in Volketswil, nahm die Kritik Überhand. «Was läuft falsch?» fragte der «Blick».
«Unsicherheit überall» diagnostizierte der «Tages-Anzeiger». Der Sport-Podcast dieser Zeitung überschrieb seine Ausgabe mit dem Titel «Schiri-Krise». Als dann die Saison zu Ende war, wünschte Dani Wermelinger, Chef der Spitzenschiedsrichter beim Schweizerischen Fussballverband, dass in Volketswil auf den Weg «weniger detektivisch» eingegriffen wird.
Nach gut einem Viertel der Saison kann bilanziert werden: Die Schiedsrichter-Krise gehört der Vergangenheit an. Nicht nur sind die Diskussionen um fragwürdige Handspiele oder sonstige Fehlentscheide verstummt, auch die Zahlen belegen, dass Wermelingers Wunsch nach weniger Interventionen des VAR Rechnung getragen wird. Checkte der VAR in der letzten Saison noch 6.85 Aktionen pro Spiel, so sind es in dieser Saison noch 6.1 Mal. Und revidierte in der Vorsaison der VAR pro Spiel noch 0.45 Aktionen, so sind es nun 0.37. Damit fallen die Zahlen auch unter jenen aus dem Jahr 2021/22.
Dani Wermelinger freut sich darüber, dass seine Schiedsrichter weniger eingegriffen haben als in der Vorsaison. «Es wäre fatal gewesen, wenn wir so weitergefahren wären. Für das Spiel selber haben diese Anzahl an Eingriffen keinen Sinn mehr gemacht.» Wermelinger habe bei seinen Schiedsrichtern ein hohes Mass an Selbstkritik wahrgenommen. «Nach dem Ende der letzten Saison haben wir untereinander sehr, sehr intensiv diskutiert. Die Schiedsrichter waren teilweise auch nicht zufrieden mit ihren Leistungen. Wir haben die Probleme klar analysiert und angesprochen. Nun sind wir wieder da, wo wir sein wollen.»
Als in der Schweizer Super League auf die Saison 2019/20 der VAR eingeführt wurde, wurde von Beginn weg ausgegeben, dass er nur bei «klaren und offensichtlichen Fehlern» eingreifen soll. Anders als in den grossen Ligen, wo es anfänglich grössere Schwierigkeiten in der Umsetzung gab, verhielten sich die Videoschiedsrichter in der Super League in der Saison tatsächlich eher konservativ, wie die Zahlen belegen.
In jeder Saison wurden die Videoschiedsrichter aber mutiger im Vergleich zur Vorsaison, checkten häufiger – und änderten vor allem immer mehr. So erreichte die Zahl der VAR-Interventionen mit 80 geänderten Entscheidungen in 180 Spielen einen neuen Höchstwert. Die Zahl hat sich im Vergleich zur ersten Saison mit VAR mehr als verdoppelt, damals waren es noch 38 Interventionen gewesen.
Nun versuchen die Schweizer Schiedsrichter wieder konservativer einzugreifen, so wie nach der Einführung des VAR. Laut Wermelinger befinden sich die Zahlen, schaut man die Sachlage genau an, auf einem ähnlichen Niveau wie damals 2019/20. Denn: Seit der neuen Saison besitzt die Schweizer Super League eine kalibrierte Abseitslinie. «Früher hiess es auch beim Abseits, dass nur bei klaren und offensichtlichen Situationen eingegriffen wird. Nun gibt es beim Abseits kein Ermessensspielraum mehr», so Wermelinger.
Deshalb habe die Anzahl an Überprüfungen und Korrekturen von Abseitspositionen zugenommen. «Wenn wir diese Entscheide wegrechnen, dann dürften wir wieder in einem ähnlichen Rahmen unterwegs sein wie in den ersten beiden VAR-Saisons.»
Zur Einführung der kalibrierten Abseitslinie ziehen die Schweizer Schiedsrichter eine positive Bilanz. Die Umstellung sei ohne Probleme vonstattengegangen. «Zunächst war es natürlich eine Herausforderung. Es ging darum, alle Videoschiedsrichter zu schulen. Wir sind aktuell sehr zufrieden mit der Umsetzung.» Beim Übergang profitierten die Schweizer Schiedsrichter auch konkret von jenen, die auch internationale Spiele leiten und die Anwendung der kalibrierten Abseitslinie schon kannten.
Eine weitere Herausforderung für diese Saison war auch die Aufstockung von zehn auf zwölf Teams in der Super League. Dadurch kamen neue Schiedsrichterinnen und Schiedsrichter in der höchsten Liga zum Einsatz. «Wir sind sehr glücklich mit den Auftritten. Der Wechsel funktionierte – bis jetzt – ohne grössere Probleme», so Wermelinger.
Trotz eines positiven Zwischenfazits weiss der Schiri-Chef, dass es bald einmal wieder schlechter laufen könnte. «Wie bei Fussballteams kann es auch für unser Schiri-Team wieder einmal eine schwächere Phase gehen. Deshalb gilt es konzentriert weiterzuarbeiten und demütig zu bleiben.» Derzeit gäbe es auch wenig verletzte Schiedsrichter, was auch hilfreich ist. «Und wir wissen auch, dass wir noch am Anfang der Meisterschaft sind. In der entscheidenden Phase wird man uns – aus Erfahrung – wieder kritischer auf die Finger schauen.»