Die vollständige Abdeckung durch TV-Übertragungen hat den Sport «gläsern» gemacht. Der Zusehende daheim kann jeden Fehlentscheid erkennen. Noch 1966 waren die TV-Bilder nicht gut genug, um zu sehen, ob Geoff Hurst in der Verlängerung des WM-Finals gegen Deutschland tatsächlich zum 3:2 getroffen hatte. Ob der von der Latte abprallende Ball auf oder hinter der Torlinie landete, bleibt ein ewiges Geheimnis.
Dieses «Wembley-Tor» hat dem Schweizer Schiedsrichter Gottfried Dienst Weltruhm beschert. Er erkannte nach Befragung seines sowjetischen Linienrichters Tofik Bachmarow auf Tor. England gewann am Ende 4:2 und wurde zum bisher einzigen Mal Weltmeister.
Nun haben wir TV-Bilder, die zumindest auf höchster Profistufe jedes Spiel einer Meisterschaft oder eines Titelturniers bis in den hintersten Winkel ausleuchten. Damit ist die Rechtsgleichheit gegeben, um die TV-Bilder als Hilfsmittel für die Rechtsprechung heranzuziehen. Also müsste es möglich sein, Fehlentscheide weitestgehend zu vermeiden und den Sport gerechter und berechenbarer (und langweiliger?) zu machen.
Tatsächlich ist es in den wichtigen Sportarten gelungen, mit der technischen Hilfe der laufenden Bilder die Anzahl der Fehlentscheidungen stark zu reduzieren. Probleme mit diesem System hat nur der Fussball. Weil die Regelung im Fussball aufgrund eines Kardinalfehlers gar nicht richtig funktionieren kann.
Die Idee der «TV-Hilfe» für die Schiedsrichter kommt primär aus dem nordamerikanischen Profisport. Football, Baseball, Basketball und Eishockey haben das System der «Coaches Challenge» perfektioniert. Der entscheidende Unterschied zum Fussball: Die Hoheit über einen Entscheid hat nicht mehr der Schiedsrichter. Der Trainer oder Coach hat die Möglichkeit, eine Überprüfung einer Szene über den Kopf der Schiedsrichter hinweg zu verlangen. Nach einer vom Regelwerk erlaubten Intervention des Trainers oder Coaches (Coaches Challenge) wird eine Szene bei bestimmten, klar definierten Regelverstössen auf den TV-Bildern noch einmal überprüft.
Damit wird ein Grundsatz des Rechtssystems aus dem richtigen Leben übernommen: die Möglichkeit, gegen den Entscheid eines (Schieds-)Richters zu appellieren. Also ein Urteil weiterzuziehen. Diese Möglichkeit gehört zur DNA jeder funktionierenden Justiz. So kann ein Fehlurteil korrigiert werden.
Dieses System ist im Fussball grundsätzlich anders. Der Video-Assistent (Video Assistant Referee – VAR) kann auf Fehlentscheidungen des Schiedsrichters hinweisen. Er schaut sich strittige Entscheidungen des leitenden Schiedsrichters auf einem Fernseher in der Wiederholung und gegebenenfalls in Zeitlupe an und teilt diesem per Funk seine Sicht der Dinge mit. Der Schiedsrichter hat die Möglichkeit, strittige Szenen noch einmal neu zu beurteilen.
Der entscheidende Unterschied zum Baseball, Football, Basketball oder Eishockey: Der Coach oder Trainer kann aufgrund des Fussball-Regelwerkes nicht verlangen, dass eine Szene überprüft wird. Der Schiedsrichter behält uneingeschränkt die Hoheit über das Rechtswesen. Er entscheidet in letzter Konsequenz allein, ob er eine Szene in Zusammenarbeit mit dem VAR noch einmal beurteilen und allenfalls seinen Entscheid abändern will oder eben nicht. Der Coach oder Trainer kann ihn auf der Basis des Regelwerkes nicht dazu zwingen.
Logisch also funktioniert das Fussball-System nicht richtig. Zwar ist es gelungen, die Anzahl der Fehlentscheidungen zu reduzieren. Aber die Ohnmacht der Seitenliniengeneräle und die Allmacht der Schiedsrichter verhindert zu oft die Klärung strittiger Szenen, führt zu heftigen Diskussionen und offensichtlichen sportlichen Ungerechtigkeiten.
Das ist umso stossender, weil Schiedsrichter-Entscheide im Fussball eher noch stärkeren Einfluss auf den Spielausgang haben können als in anderen Mannschaftssportarten. Es gibt wenig Tore und es gibt Regelverstösse, die zu einem ziemlich sicheren Tor führen: ein Foul oder ein Handspiel, das einen Elfmeter verursacht. Die Wahrscheinlichkeit, dass bei einem Penalty ein Tor fällt, ist im Fussball um ein Vielfaches höher als beispielsweise die Möglichkeit, eine Strafe im Eishockey zu einem Treffer zu nützen. Kommt dazu, dass es möglich ist, durch Mogelei (Schwalbe) einen Elfmeter herauszuholen. Könnte der Trainer oder Coach den Schiedsrichter durch eine Coaches Challenge beispielsweise dazu zwingen, eine Penalty-Szene noch einmal zu begutachten, könnten viele Fehlentscheide korrigiert werden.
Das System der Coaches Challenge funktioniert sehr gut. Auch deshalb, weil das Regelwerk dem Missbrauch einen Riegel vorschiebt: Wenn die Coaches Challenge verloren wird (wenn sich der Entscheid des Schiedsrichters als richtig erweist), gibt es entweder eine Strafe (beispielsweise zwei Minuten im Eishockey) oder das Recht für weitere Coaches Challenges im gleichen Spiel wird eingeschränkt.
Eines lehrt die Erfahrung: Eine absolute Gerechtigkeit gibt es auch mit dem System der Coaches Challenge nicht. Aus einem einfachen Grund: Es wird immer Szenen im Graubereich des Regelwerkes geben. Also Szenen, die aufgrund der Regeln auch nach tagelangem Video-Studium so oder so interpretiert werden können. Dass Richterinnen oder Richter einen Fall so oder so beurteilen, ist ja auch im richtigen Leben der Fall. Sonst gäbe es keine Anwältinnen und Anwälte.
Der Trainer hat X Möglichkeiten einen VAR Entscheid einzufordern. Stellen sich seine Bedenken als richtig heraus , bleibt's bei X, wenn nicht, wird's halt X - 1. Strategisches Einsetzen also.
Oder bin ich auf dem Holzweg?