Wir warten in den Playoffs immer noch auf einen Helden. Nun mag der Einwand berechtigt sein, ein Held sei schon etwas anderes, als ein Mann, der dafür bezahlt ist, zu spielen und nicht zu arbeiten. Aber es gibt eine wunderbare Definition des Helden aus den 1700er-Jahren, die immer noch gültig ist:
Die letzten Männer im Spiel der rauen Kerle sind wie geschaffen für diese Heldenrolle. Sie wirken mit ihrer Postur und ihren Taten. Wie gross das Tor dem Gegner erscheint, hängt vor allem von dem Mann ab, der es bewacht.
Manchmal ist es gross wie ein Garagentor und manchmal erscheint es den Stürmern so, als müssten sie den Puck in einer Streichholzschachtel versorgen. Je nachdem, ob sich ein unsicheres Männchen zwischen den Pfosten duckt oder dort ein charismatischer Supermann steht, der noch 50 Zentimeter grösser und breiter scheint, als er wirklich ist.
Kein Wunder, werden im Hockey von heute die Goalies immer grösser, ihre Ausrüstung immer voluminöser – und die Stürmer immer kleiner. Diese letzten Männer können so gut sein, wie sie wollen – ihr Schicksal ist es, dass sie immer wieder bezwungen werden. Jede gute Parade ist nur so gut wie die nächste gute Parade. Ihr Schicksal zeigt die ganze Dramatik des Eishockeys und auch ein wenig vom richtigen Leben.
Das «Grande Lugano» des John Slettvoll war 1990 die letzte Mannschaft, die mit einem «Lottergoalie» (Markus Bachschmied) – also nicht mit einem Helden – den Titel holte. Seither sind die letzten Männer der Meisterteams Helden, deren Namen die Fans heute noch kennen. Renato Tosio, Reto Pavoni, Ronnie Rüeger, Cristobal Huet, Ari Sulander, Marco Bührer, Lars Weibel, Jonas Hiller, Reto Berra, Lukas Flüeler oder Leonardo Genoni. Vergessen ist eigentlich nur Jakub Stepanek, der tschechische SCB-Meistergoalie, der erst im Laufe der Saison 2015/16 aus Russland (KHL) herbeigeeilt war und nach der Meisterfeier schon wieder ging. Aber auch er war ein Held.
Nun hat sich still und heimlich, fast schleichend, etwas verändert. Wir sind in den Playoff-Halbfinals angelangt und es kann sein, dass erstmals seit 1990, zum ersten Mal in diesem Jahrhundert eine Mannschaft Meister wird, weil sie die besseren Stürmer, den besseren Trainer, die besseren Verteidiger, aber nicht den besseren Torhüter hat.
Es ist eine Saison der Aussenseiter. Auch auf der Position des letzten Mannes. Heldengeschichten haben Damiano Ciaccio in Langnau und Benjamin Conz in Ambri geschrieben und ein tragischer Held ist Melvin Nyffeler, der sich in Rapperswil-Jona abmüht wie der Hamster in seinem Rad. Und die grosse Torhüter-Story dieser Playoffs spielt nicht auf der grossen Bühne. Philip Wüthrich ist drauf und dran, Langenthal fast in Alleingang zum Titel zu hexen. Aber eben nur in der zweithöchsten Liga.
Wir können als Beleg für die schleichende Veränderung unserer Goalie-Kultur die Statistik heranziehen. Schliesslich lässt sich mit einer Statistik alles beweisen. Man muss sie nur finden. In den Halbfinals stehen Berns Leonardo Genoni, Biels Jonas Hiller, Lausannes Sandro Zurkirchen und Zugs Tobias Stephan. Zwei interessante Zahlen zeigen uns, dass die Romantik der grossen letzten Männer etwas nachgelassen hat. Durchschnittlich haben diese vier Goalies im Halbfinal 90,41 % der Schüsse abgewehrt.
Nur einmal seit diese Prozentzahlen offiziell erfasst werden – im Frühjahr 2013 (89,03 %) – waren diese Werte tiefer. Ansonsten haben die letzten Männer in den Halbfinals immer eine durchschnittliche Fangquote von mehr 91,50 % erreicht. Tobias Stephan ist mit 92,11 % der statistisch beste der vier aktuellen Halbfinal-Goalies. Kein Vergleich zu den Halbfinal-Spitzenwerten von Leonardo Genoni 2015 (94,83 %) und 2017 (94,58 %) oder von Elvis Merzlikins 2016 (94,12 %).
Nun mag der Einwand berechtigt sein, man solle diese Prozentzahlen nicht zum alleinigen Massstab nehmen. Man müsse auch die Qualität der Schüsse beachten, und die sei statistisch nicht zu erfassen. Aber es gibt eine andere, viel banalere Zahl, die viel aussagt: Noch nie in der Neuzeit waren die Halbfinal-Torhüter so alt. Im Schnitt nämlich 33 Jahre. Kein Vergleich mehr zum Frühjahr 2017, als das Durchschnittsalter der Halbfinal-Goalies Gilles Senn, Elvis Merzlikins, Tobias Stephan und Leonardo Genoni gerade mal 26,25 Jahre betrug.
Eigentlich kann nur noch Jonas Hiller zum strahlenden, echten Meisterhelden werden. Er ist der einzige Halbfinal-Goalie, der sein Team nach dieser Saison nicht verlassen wird.
Die drei anderen ziehen weg: Tobias Stephan zügelt nach Lausanne, Leonardo Genoni nach Zug und Sandro Zurkirchen hatte Davos schon mündlich zugesagt. Aber dann feuerte Lugano Sportchef Roland Habisreutinger, der einen ausländischen Ersatz für Elvis Merzlikins wollte. Nun hat Lugano den Kassenschrank geöffnet und Zurkirchen wird seinen Karriere-Lebensabend bei ordentlicher Bezahlung unter Palmen verbringen.
Der leise Zerfall unserer Goalie-Kultur wird uns über die Playoffs hinaus beschäftigen. Die bangen Fragen lauten: Wie werden unsere letzten Männer bei der WM heissen? In welcher Form werden sie sein? Und wird Leonardo Genoni wieder ein WM-Held sein wie zuletzt in Kopenhagen?