«Packing» packt die Fussballnerds: Das steckt hinter DEM Modebegriff der Euro 2016
Fussball – das einfache Spiel elf gegen elf auf zwei eckige Tore mit einem runden Ball. Wer nach 90 Minuten mehr Tore als der Gegner erzielt hat, gewinnt. Einverstanden, die Regeln sind mit der Zeit etwas komplizierter geworden, aber die Grundsätze sind einfach geblieben.
Die Analyse dagegen wird immer interessanter und die Möglichkeiten scheinen unbeschränkt. Die Fussballverbände leisten grossen Aufwand, um keinen Spielzug und keinen Pass des nächsten Gegners zu verpassen. Die neusten technischen Methoden liefern die Hilfsmittel dazu. Wer hat wie viel Ballbesitz? Wer spielt mehr Pässe? Wie viele Pässe kommen beim Mitspieler an? Wo bewegen sich die Spieler auf dem Feld?
Wer packt es wirklich?
Viele genaue Pässe sind gut. So sagt der Wert der angekommenen Pässe eines Spielers viel über die Qualität seines Spiels und am Ende auch der Mannschaft aus. Doch wer kennt sie nicht, die langweiligen Querpässe – die neue Analyse, genannt «Packing», soll nun die Effektivität der Pässe messen.
Am Sonntagabend, nach dem Spiel Deutschland–Ukraine, stellte Stefan Reinartz (Ex-Fussballprofi) das «Packing» etwas genauer vor. Zusammen mit seinem Kollegen Jens Hegeler (ebenfalls Ex-Profi) gründete Reinartz die Firma Impect.
Folgende Überlegung steckt dahinter: «Wir haben uns gefragt, warum die gängigen Werte wie Laufleistung und Passquote alle relativ wenig Aussagekraft in Bezug auf das Ergebnis haben», so Reinartz im Studio bei der ARD.
Der neue Wert ist eigentlich ganz einfach erklärt. Es wird untersucht, wie viele Gegenspieler mit einem Pass überspielt werden. Noch etwas genauer ausgedrückt: wie viele Gegenspieler, die vor dem Pass noch hinter dem Ball standen, anschliessend vor dem Ball und Empfänger stehen. Weiter heisst es auf der Website von Impect:
Wichtiges Zusatzkriterium: Der Pass muss von einem Mitspieler verarbeitet oder zu einem anderen Teamkollegen weitergeleitet werden können. Es werden aber nicht nur Pässe gewertet: «Alle Aktionen im Offensivspiel, mit denen man es schafft, dass weniger Gegner zwischen Ball und Tor stehen, fallen unter die Rubrik ‹Gegner überspielen› – zum Beispiel auch Dribblings», heisst es auf der Website. Noch nicht ganz gecheckt? Dann hilft dir das nachfolgende Video.
«Packing» – ein Beispiel
Wunderschöner Anschauungsunterricht für einen wirklichen Superpass gab es gestern im Spiel Belgien gegen Italien. Beim Tor von Emanuele Giaccherini zum 1:0 für die «Azzurri» machte sich Leonardo Bonucci direkt zum «Packing-Monster».
Mit einem Pass überspielte Bonucci zehn Gegenspieler und ebnete somit seinem Teamkollegen den Weg zum Tor.
Der direkte Statistikvergleich
Unsere Nachbarn aus Deutschland betrachteten bei der Präsentation am Sonntag im ARD-Studio den 7:1-Erfolg im WM-Halbfinal gegen Brasilien etwas genauer. Zuerst die gängigen statistischen Werte zum Spiel:
Trotz einer 1:7-Schlappe weist die «Seleçâo» bei allen drei Punkten die (eigentlich) besseren Werte aus. «Packing» spricht dann allerdings eine andere Sprache:
Es zeigt, dass Deutschland viel mehr Gegner und auch Verteidiger überspielte, also ingesamt die effektiveren, gefährlicheren Pässe produzierte. Diese Werte widerspiegeln laut Reinartz dann auch das Endresultat besser.
Die Analyse vom EM-Spiel am Sonntag
Wird jetzt alles anders?
Orientiert sich nun die neue Analyse vermehrt an diesem «Packing»-Wert? Mit Bestimmtheit ist er ein guter Indikator und gibt Ballbesitz und Passstatistik mehr Aussagekraft. Der deutsche Ex-Fussballprofi und TV-Experte Mehmet Scholl hält grosse Stücke auf das «Packing»:
Da hat Scholl bestimmt Recht, denn wer diese neue Entwicklung verpennt, der ist bald von gestern. Jedoch gewinnt man damit alleine noch keine Spiele. Die Meinungen auf Twitter gehen auseinander – vor allem aber wird der Begriff etwas auf die Schippe genommen:
Mit #Packing also ein weiterer Schritt zur Verkomplizierung und Akademisierung des Fußballs.
— Herr Vorragend (@ElRey_MUC) 14. Juni 2016
Irgendwann verstehts echt keine Sau mehr.
Dieses moderne #packing gibt es übrigens schon seit ewig in der Fußballtheorie: hoch und weit bringt Sicherheit
— Matthias Seidel (@cybersoccer) 14. Juni 2016
Tachchen Neuland. Dank @sportschau kann ich jetzt sogar messen wie erfolgreich der Einkauf war. Hab 9 Hausfrauen überspielt! 1a #packing!
— Ingo (@Schmallek) 14. Juni 2016