Erstmals in der Geschichte steht mit Marokko ein Team aus Afrika in den Halbfinals einer Fussball-WM. Die «Löwen vom Atlas» schlugen Portugal 1:0 und warten nun darauf, ob der letzte Gegner auf dem Weg in den Final Frankreich oder England sein wird.
Youssef En-Nesyri wurde mit seinem Treffer kurz vor dem Ende der ersten Halbzeit zum Matchwinner. Äusserst imposant schraubte sich der 1,92 m lange Stürmer des FC Sevilla in die Höhe, um eine Flanke vor Portugals Torhüter Diogo Costa einzunicken.
En-Nesyris Sprungkraft verleitete Englands Fussball-Ikone Gary Lineker zur Frage, ob wohl ein Trampolin unter dem Rasen verbaut wurde. Fussballfans fühlten sich umgehend an ein Tor erinnert, das Cristiano Ronaldo fast auf den Tag genau vor drei Jahren erzielt hatte. Bei seinem Treffer für Juventus Turin gegen Sampdoria Genua wurde ermittelt, dass er mit dem Kopf auf 2,56 Meter stieg.
Doch der Cristiano Ronaldo des Jahres 2022 ist nicht mehr der Cristiano Ronaldo des Jahres 2019. Der mittlerweile 37-jährige Superstar sass zu Beginn des Spiels wie beim 6:1-Kantersieg Portugals im Achtelfinal gegen die Schweiz nur auf der Ersatzbank. Nach seiner Einwechslung in der 51. Minute blieb der zurzeit vereinslose Stürmer ohne grossen Einfluss und sorgte kaum für Torgefahr.
Kaum war das Spiel abgepfiffen und die Sensation perfekt, fingen die TV-Kameras Ronaldo mit Tränen in den Augen ein. Im Gegensatz zu den Mitspielern, die noch auf dem Feld blieben, verschwand CR7 nach seinem 196. Länderspiel (Weltrekord, gleichauf mit Badr al-Mutawa aus Kuwait) umgehend in die Katakomben. Der Gewinn der EM 2016 bleibt sein Höhepunkt mit dem Nationalteam.
Der vielleicht letzte grosse Traum des fünffachen Weltfussballers des Jahres ist am Samstagabend um 17.56 Uhr im Al-Thumama-Stadion in Doha geplatzt: Aus einem WM-Titel wird es nichts. Und ausgerechnet Ronaldos Dauerrivale Lionel Messi hat mit Argentinien noch die Chance, in acht Tagen den goldenen Pokal in die Höhe zu stemmen.
Während Ronaldos Zukunft sowohl in Klub wie Nationalteam offen ist, geht Marokkos Reise weiter. «Ich bin sehr, sehr glücklich. Wir wollen für den ganzen Kontinent Geschichte schreiben», sagte Trainer Walid Regragui. Der 47-Jährige zimmerte eine Truppe zusammen, die an dieser WM enorm defensivstark auftritt. In fünf Partien hat Marokko nur ein Gegentor kassiert – und das war ein Eigentor.
Das Abwehrgerüst geriet gegen Portugal mit zunehmender Spieldauer ins Wackeln. Doch mit Bono durfte sich Marokko auf einen erneut guten Goalie verlassen. Die Frage dürfte sein, wie viel Kraft noch vorhanden und wer überhaupt einsatzfähig ist. Im Viertelfinal mussten Romain Saïss und Hakim Ziyech verletzt ausgewechselt werden, dazu sah Walid Cheddira Gelb-Rot. Mit Noussair Mazraoui und Nayef Aguerd fehlten schon gegen Portugal zwei Verteidiger wegen Blessuren.
— Joga Bonito 🇧🇷 (@ufcfooty) December 10, 2022
Marokko wird mit Herz und Leidenschaft versuchen, mögliche Ausfälle zu kompensieren. Egal, wer im Halbfinal der Gegner sein wird: Er wird auf «Löwen vom Atlas» treffen, die maximal motiviert sind und mit dem Support der gesamten arabischen Welt und einem ganzen Kontinent dafür sorgen wollen, dass ihr Märchen aus 1001. Nacht ein Happy End erhält.
Für die Portugiesen tut es mir natürlich leid, an der EM in zwei Jahren wird das wieder ein Kandidat für das Finale.