Die Warnung könnte kaum eindringlicher sein. «Du wirst enttäuscht sein!» Ich ignoriere das Lachen am anderen Ende der Telefonleitung. Dabei begleitet der Kollege der «Rheinischen Post» Bayer Leverkusen schon fast seit zehn Jahren.
Er kennt die Stadt also ziemlich gut. «Es gibt das Bayer-Werk. Es gibt eine klitzekleine Innenstadt, aber sonst?» Und dann fügt er an: «Denkst du, es ist Zufall, dass kein einziger Fussballer in Leverkusen lebt?» Die meisten Stars leben in Köln oder Düsseldorf.
Ja, die Ankunft am Bahnhof Leverkusen Mitte ist trostlos. Ein paar Gleise. Rund herum viele Baustellen. Charme? Null. Der Weg zum Stadion, mitten durch einen Park, entschädigt ein wenig. Fast schon idyllisch, wie das Wasser im Bach plätschert, die Vögel pfeifen und die Velofahrer in einer Ruhe vorbeiradeln.
Die BayArena ist schmuck. Aber mit 30'000 Plätzen zu klein, um bei einem Turnier wie der EM 2024 zum Zug zu kommen. Die Spiele finden in der Nachbarschaft statt: in Köln, Düsseldorf, Dortmund und Gelsenkirchen.
Aber spielt der künftige deutsche Meister in dieser Arena? Der Samstag taugt als guter Indikator, wie sehr es um Bayer Leverkusens Ambitionen steht. Die Bayern sind zu Gast fürs Topspiel. Ein Sieg für Leverkusen – und die Euphorie wird unermesslich.
Die Sonne scheint an diesem Dienstag Ende Januar. Öffentliches Training. Knapp 100 Fans sind gekommen, um Granit Xhaka und seinen Kollegen zuzuschauen. Die gute Laune ist überall spürbar. «Wenn wir jetzt nicht Meister werden, wann dann?», diktiert ein Fan ins Mikrofon von «Sport1».
Auch Fadil Berijani steht gebannt am Gitter. Wie gross sind die Chancen auf die Meisterschaft? «100 Prozent! Keine Frage!», erklärt er. In seinem Rucksack hat Berijani ein Leverkusen-Trikot mit der Nummer 34 eingepackt, Xhaka, natürlich. «Früher im Kosovo habe ich mit seinem Vater Fussball gespielt», erklärt er stolz. Und schiebt nach: «Auch Ragip war ein guter Fussballer. Überhaupt ist die ganze Familie sehr sportlich.» Berijanis Augen strahlen, als Xhaka nach dem Training das Trikot unterschreibt. Es wird ein Geschenk für seinen Sohn.
Eindeutig am meisten Aufmerksamkeit von den Fans erhält aber er: Xabi Alonso, der Trainer. Leverkusens Mastermind hat dem Team einen Fussball implementiert, der über Deutschland hinaus für Begeisterung sorgt. Die Nachricht, dass Real Madrid mit Trainer Carlo Ancelotti den Vertrag bis 2026 verlängerte, sorgte in Leverkusen für Freude. Seit aber klar ist, dass Jürgen Klopp in Liverpool aufhört, ist die Sorge gross, dass Alonso im Sommer an die Anfield Road zieht.
Als das Training vorbei ist, die letzten Unterschriften verteilt und alle Selfies geknipst sind, gehen wir weiter, in den Bauch des Stadions. Bevor es in die Katakomben geht, kommen wir an den Parkplätzen für Spieler und Staff vorbei. Jeder Platz ist angeschrieben. Und hinter jedem Platz prangt ein Bild einer Leverkusen-Legende. Xhaka parkiert seinen Wagen vor dem dem Gemälde des Brasilianers Lucio.
Drinnen treffen wir Robert Andrich zum Interview. Bei aller Begeisterung über Leverkusens Transfers im letzten Sommer gibt es auch Verlierer. Andrich beispielsweise. Seit Xhaka da ist, kommt er kaum mehr zum Einsatz. «Natürlich bin ich manchmal sehr sauer über meine persönliche Situation. Aber das gehört im Business leider auch dazu, dass man sich unterordnet. Und vor allem, dass man eben dann bereit ist, wenn man gebraucht wird.»
Trotzdem weiss Andrich über Xhaka nur Gutes zu berichten. «Neben seinen fussballerischen Fähigkeiten hat er auch seine Führungsqualitäten in die Mannschaft gebracht. Ich glaube, dass er einer der Transfers ist, die – unabhängig vom Fussballspielen – der Mannschaft sehr gutgetan haben. Es ist toll, Leute im Team zu haben, die schon so einiges erlebt haben und in entscheidenden Situationen wissen, wie der Fussball funktioniert.»
Am Ende funktioniert der Fussball meistens so: The winner takes it all. Und wer sich dieser Tage in Leverkusen aufhält, merkt, wie aus den Hoffnungen langsam Erwartungen werden. Wie gut die Mannschaft damit umgeht, ist die wohl entscheidende Frage dieser Saison.
Ich mach mich auf den Weg ins Zentrum von Leverkusen. Rund 168'000 Menschen leben in der Stadt. Wobei ein grosser Teil eingemeindet ist. Der Kern von Leverkusen besteht aus einem grossen Einkaufszentrum und einer Fussgängerzone. Ein Rundgang von fünf Minuten reicht, um das Wichtigste zu sehen.
Eine der grossen Fragen lautet: Wo würde Bayer Leverkusen eigentlich einen allfälligen Meistertitel feiern? «Schau dich nach dem Rathaus um», gibt mir der Kollege von der «Rheinischen Post» mit auf den Weg. Irgendwo dort gäbe es wohl genügend Platz für die Fans. Ich stelle fest: die Vorstellung, wie ein «Rathaus» aussieht, kann täuschen. Anstatt eines optisch schönen Gebäudes erblicke ich einzig einen – Pardon – wüsten Kommerzklotz. In der Tat ist da, zwischen Rewe, Saturn und sonstigen Läden, das Rathaus untergebracht.
Immerhin steht an der Ecke ein hübsches Café. Hinter der Theke steht Deniz. Vor zwei Monaten hat der 42-Jährige das «Espresso Perfetto» eröffnet. «Die Innendekoration habe ich selbst gestaltet», sagt er nicht ohne Stolz. Dann reden wir über Fussball. «Ich bin ein Fan von schönem Fussball», sagt er, «und ganz ehrlich: Bayer Leverkusen spielt derzeit den schönsten Fussball von ganz Europa.»
So sagt das Deniz. 30 Jahre habe er selbst gespielt, schiebt er nach. Und dazu, dass er auch Sympathien für Dortmund hegt. «Aber Dortmund spielt nicht mehr um Titel. Die spielen gerade für Geld. Spieler kaufen und dann teuer verkaufen. Das ist das Dortmund von heute.»
Zum Abschied zeigt Deniz nach draussen auf den Platz. «Hier werden die feiern! Das hoffen wir alle. Aber es muss hier sein. Da spielt sich alles ab.» 1993 gewann Leverkusen letztmals den DFB-Pokal. Nun, so glauben nicht wenige, könnte es gar das Double werden.
Ein paar Meter weiter erblicke ich den Fanshop von Bayer Leverkusen. «Der jüngste Erfolg ist deutlich spürbar», sagt Thomas. Er gibt gerne Auskunft. Unter einer Bedingung: «Kein Foto – ich sehe scheisse aus!» Das ist gar übertrieben, aber respektieren wir natürlich.
Die Trikots von Xhaka verkaufen sich gut im Shop. «Er gehört zu den Top 3. Mit Wirtz und Boniface», sagt Thomas. Auch er schwärmt, wie so viele hier, vom Schweizer Nati-Captain. Auf die Bemerkung, dass die Fans gleich hier draussen einen möglichen Titel feiern würden, sagt er: «Das wäre ja toll, wenn ausgerechnet Leverkusen die Münchner Dominanz brechen würde – aber Sie kennen ja die Geschichte, bis jetzt hat es nie geklappt für Leverkusen. Vor allem das Jahr 2002 schmerzt noch immer.»
Damals verliert Bayer den Titel in letzter Sekunde an die Bayern. Verliert den Final in der Champions League. Verliert den Final im DFB-Pokal. Alles innert elf Tagen. Seither gibt es den Ausdruck «Vizekusen», er wurde in einem Anflug von Selbstironie gar patentiert. «Auch wegen den Erfahrungen von damals sollten wir uns nicht zu früh mit einem Titel beschäftigen», sagt Thomas. Und doch ist zu spüren: Die Zeit wäre reif.
Es ist Zeit, um zurück auf den Zug zu gehen. 15 Minuten Verspätung, in anderen Worten: für Deutschland überpünktlich. So schön der Fussball von Leverkusen auch ist – der Abschied aus der Stadt fällt ziemlich leicht. Aber das kümmert gerade niemanden in der Bayer-Familie. Es zählt nur der Sieg im Spitzenspiel gegen Bayern München.