In diesem einen Moment wurde Kai Havertz zum Helden. Als er im Final der Champions League im Mai 2021 eine Lücke sah und losrannte, den Ball mit dem ersten Kontakt unter Goalie Ederson hindurch und dann ins verlassene Tor einschob. Weil es der einzige Treffer im Spiel gegen Manchester City blieb, schoss Havertz Chelsea zum grössten Titel im Klubfussball. Und machte damit eine bis dahin eher schwierige erste Saison nach seinem Wechsel, den sich die Blues 80 Millionen Euro kosten liessen, zumindest teilweise vergessen.
Gleichzeitig zeigte er seinem neuen Klub, weshalb er in seiner Heimat als angehender Weltstar und grosser Teil der Zukunft des deutschen Fussballs gesehen wurde. Der langjährige Leverkusen-Manager Reiner Calmund sah in ihm eine Mischung aus Michael Ballack und Franz Beckenbauer. Dieser eine Moment stellte jedoch den Höhepunkt in der bisherigen Karriere von Havertz dar.
In Leverkusen war dieser zuvor innert zehn Jahren von einem elfjährigen Jungen zu einem der von den Topklubs meist umworbenen Talente herangereift. In der Bundesliga stellte er dabei neben seinem Tempo und seinem feinen Füsschen auch seine Vielseitigkeit unter Beweis. Zwar spielte er hauptsächlich im offensiven Mittelfeld, doch wurde er auch auf dem rechten Flügel oder im Sturm eingesetzt. Als Mittelstürmer gelangen ihm in neun Spielen acht Tore und ein Assist.
Chelsea schnappte sich Havertz im Sommer 2020 aber vornehmlich für die Position als Spielmacher hinter der Spitze, schliesslich hatte der Premier-League-Klub einerseits Tammy Abraham und Olivier Giroud im Kader und gab andererseits viel Geld für Havertz' Landsmann Timo Werner aus. Doch Abraham verletzte sich im Februar 2021, Giroud hatte seinen Zenit mit 34 Jahren überschritten und Werner schlug nicht wie erhofft ein. Mangels Alternativen rückte Havertz bald einmal in die Spitze – er hatte ja in Leverkusen gezeigt, dass er es kann.
Ganz so treffsicher war er im Chelsea-Trikot aber nicht. Drei Tore erzielte er in der Saison 2020/21 in 13 Spielen als Mittelstürmer, den Treffer im Final der «Königsklasse» schoss er hingegen als Zehner. Auch nach der Sommerpause, in welcher der belgische Goalgetter Romelu Lukaku verpflichtet wurde, stellte Trainer Thomas Tuchel Havertz wieder ins offensive Mittelfeld. Bis auch Lukaku mit seiner Treffsicherheit und Ausfällen zu kämpfen hatte. Erneut musste Havertz als Stürmer aushelfen, erneut konnte er sich auf jener Position nur bedingt entfalten.
Dennoch kam er vor allem zum Ende seiner Zeit bei Chelsea nur noch im Angriffszentrum zum Einsatz, bevor er im Sommer zum Stadtrivalen Arsenal wechselte. Die Gunners bezahlten 75 Millionen Euro für den mittlerweile 24-Jährigen, damit dieser das Mittelfeld verstärkt. Trainer Mikel Arteta sieht in Havertz vor allem einen zentralen Mittelfeldspieler, eine deutlich defensivere Rolle als jene, die der 42-fache Nationalspieler bei Chelsea innehatte.
Wirklich glänzen konnte Havertz seit dem Erklimmen des europäischen Throns aber auf keiner Position. Auch für seine Leistungen bei seinem neuen Klub musste er sich viel Kritik anhören. Und das nicht nur von Social-Media-Usern, die ihn als Transfer-Flop oder nutzlos bezeichneten. Auch ehemalige Arsenal-Stars kritisierten Havertz. So warf William Gallas dem Neuzugang vor, in der laufenden Saison bisher nichts geleistet zu haben. Emmanuel Petit forderte im September gar, dass Havertz auf die Ersatzbank gesetzt werden müsse, da ihm das Selbstvertrauen fehle: «Er hat Angst, Dinge zu versuchen.»
Und auch die Zahlen sprechen nicht für die Nummer 29 des Klubs aus Nordlondon. Sein einziger Treffer war ein Penalty, den ihm Martin Ödegaard aufschwatzte, dazu kam erst eine Vorlage. Offensiv fehlen ihm die Präzision sowie die Effizienz. Bei seinen zwölf Schüssen in der Liga scheiterte er nur schon daran, den Ball aufs Tor zu bringen. Aber auch bei den für einen Achter wichtigen Statistiken vermag er gemäss fbref.com nicht zu überzeugen. Im Vergleich zu seinen Mitspielern hat er wenig Ballkontakte und spielt ausserdem deutlich weniger Pässe, die dann meist auch noch sehr kurz und ungenau ausfallen.
Dafür ist er defensiv tatsächlich eine Bereicherung, arbeitet viel gegen den Ball, fängt Pässe ab und geht vor allem im Mittelfeld in viele Zweikämpfe mit dem ballführenden Spieler. Dadurch leistet auch Havertz seinen Beitrag dazu, dass Arsenal in der Premier League erneut zu den Titelkandidaten gezählt werden darf. Sein Trainer Arteta sah ihn in den letzten Wochen als einen der Besten bei Arsenal und sagte: «Ich bin wirklich zufrieden mit ihm.» Mit seinen defensiven Fortschritten lässt sich zudem erklären, weshalb sich Havertz zuletzt in einer ganz neuen Rolle probieren durfte.
Deutschland-Coach Julian Nagelsmann stellte ihn nämlich zweimal auf die linke Abwehrseite. Einmal als Teil der Viererkette, einmal neben der Dreierkette. Zwar sagte der Nationaltrainer nach dem 2:3 gegen die Türkei: «Das war keine klassische Linksverteidiger-Position.» Dies wurde auch beim Tor zum 1:0 deutlich, als Havertz im gegnerischen Strafraum auftauchte und in der Manier eines Stürmers verwandelte. Doch gab Nagelsmann damit auch eine Richtung vor.
Will Havertz an der EM im nächsten Sommer eine tragende Rolle spielen, wird er flexibel sein müssen. Denn in der Offensive haben ihn Spieler wie Florian Wirtz, Leroy Sané oder Mittelstürmer Niclas Füllkrug aus der Startformation vertrieben. Dabei ist Kai Havertz ein Spieler, der laut «Spiegel» schon im Training so erhaben und kunstvoll auftritt, dass auch Laien erkennen: «Das hier ist ein Spieler, der in jede Startelf gehört.»
Und das soll er auch in den Augen von Nagelsmann. Nur halt auf der linken Abwehrseite. Dass es eine ungewohnte Rolle für den Offensivspieler ist, ist für Nagelsmann kein Problem: «Ich habe nie darüber nachgedacht, warum ein Weltklassespieler nicht auch mal auf einer anderen Position spielen kann.»
Und der Spieler ist bereit, dies anzunehmen. So habe Havertz zu Nagelsmann gesagt, dass er es probieren wolle. Der Trainer ergänzt: «Ich sehe darin kein Risiko für ihn, sondern eine sehr, sehr grosse Chance, eine tragende Rolle bei einer Heim-EM zu spielen.» Zudem könne er auch von dieser Position offensiven Einfluss nehmen.
In seinen ersten Auftritten in der neuen Rolle machte Havertz seine Sache zumindest gegen die Türkei ordentlich. Doch ganz zu Hause ist Havertz auf der Position (noch) nicht. So verschuldete er in der Schlussphase des Testspiels in Berlin einen – mindestens hart gepfiffenen – Penalty und war damit mitschuldig an der Niederlage. Vorerst geht die Suche nach dem richtigen Platz für Kai Havertz also weiter.