Plötzlich muss der Fahrer zünftig bremsen. Wie aus dem Nichts ist die Schafherde vor uns aufgetaucht und nimmt sich jetzt alle Zeit der Welt, um über die Strasse zu trotten. Vor einer Viertelstunde haben wir das Zentrum von Constanta verlassen, sind zuerst durch ein tristes Industriegebiet und danach vorbei an Ackerland und Wiesen in Richtung Ovidiu gefahren. In der Ferne erkennen wir Flutlichtmasten und wissen, dass wir unserem Ziel nahe sind. Dann geben die Schafe den Weg frei und ein paar Minuten später parkieren wir unseren Wagen vor den Toren der Academia de Fotbal Gheorghe Hagi.
Hier, nur ein paar Kilometer vom Ufer des Schwarzen Meeres entfernt, hat der beste Spieler der rumänischen Fussballgeschichte aus eigener Initiative und mit seinem Geld ein Ausbildungszentrum vom Feinsten bauen lassen. Er hat es nicht getan, um sich ein Denkmal zu setzen, sondern aus Passion für den Fussball und aus Liebe zu seinem Land.
Hagi hat in seiner grossen Karriere so viel Geld verdient, dass er überall auf der Welt mit seiner Familie ein Luxusleben führen könnte. Aber er will es anders. Sein Lebenswerk ist der FC Viitorul Constanta und dessen Akademie. Hagi ist der Präsident des Vereins und der Trainer der ersten Mannschaft, die in der höchsten Liga Rumäniens spielt. Es ist ein wunderschöner Frühlingstag im äussersten Südosten von Rumänien, als Hagi nach dem Morgentraining zum Interview in den Speisesaal der Akademie bittet. Dabei wird schnell deutlich: Wenn es um Fussball geht, ist der 51-Jährige im Gespräch genau so passioniert wie früher als Spieler.
Herr Hagi, Sie könnten ein Leben in Saus und Braus geniessen, stehen aber jeden Tag auf dem Fussballplatz und arbeiten wie besessen an Ihrem Projekt. Weshalb?
Gheorghe Hagi: Ganz einfach: Weil ich liebe, was ich tue. Ich habe es so gewollt und für mich stimmt es. Ich kann machen, was ich schon von klein auf am liebsten getan habe: mich mit Fussball beschäftigen. Mein Projekt ist auch eine Form, dem Sport etwas zurückzugeben. Er hat mich reich gemacht. Aber nicht nur finanziell, sondern vor allem im Herzen. Gibt es etwas Schöneres, als dort, wo ich geboren und aufgewachsen bin, etwas für junge Menschen zu tun und ihnen eine Chance im Leben zu ermöglichen?
Sie selbst sind einst als junger Mann von Constanta weggezogen und haben eine grosse Karriere gemacht. Wir Schweizer erinnern uns besonders gern an eines Ihrer 125 Länderspiele … Es war eine Sternstunde unseres Fussballs.
Sie sprechen von der Weltmeisterschaft 1994 in den USA. Wir verloren 1:4 und die Schweiz war an diesem Tag tatsächlich ein sehr starker Gegner. Aber auch wir spielten gut. Für den Unterschied hat einzig die aussergewöhnliche Effizienz der Schweizer gesorgt.
Die damalige Mannschaft gilt als die beste in der Geschichte Rumäniens.
Die Resultate beweisen dies. Fünf Minuten fehlten uns in der Verlängerung gegen Schweden, um in den Halbfinal einzuziehen. Es war eine Generation von aussergewöhnlich guten Fussballern am Werk. Wir befanden uns mit den besten Mannschaften der Welt auf Augenhöhe. Ich bin überzeugt davon: 1994 hätten wir mit etwas mehr Glück sogar Weltmeister werden können. Wir hatten das Zeug dazu. Auch bei der EM 2000 hatten wir noch einmal eine fantastische Mannschaft beisammen. Auch dort schafften wir es bis in den Viertelfinal.
Was waren die Gründe dafür?
Wir sind alle zusammen in Bukarest gross geworden und hatten einen riesigen Zusammenhalt. Wir waren mächtig stolz, für die Farben unseres Landes zu spielen, und gaben alles. Und nicht zu vergessen, weil es eben ganz wichtig ist: Damals spielten die rumänischen Klubs im Europacup noch auf einem hohen Niveau (Steaua Bukarest gewann 1986 gegen den FC Barcelona den Meistercup und stand drei Jahre später, mit Hagi, gegen die AC Milan im Final; die Red.). Es waren die Klubs, welche die Nationalspieler so sehr geformt hatten, dass diese gegen jeden Gegner mithalten konnten. Das war das Geheimnis unserer Stärke.
Weshalb aber ging es dann nach der EM 2000 so steil bergab?
Ganz einfach: Es wurde nichts mehr in unseren Fussball investiert. Weder in die Organisation noch in die Ausbildung. Man hat einfach nichts unternommen, um auf den Erfolgen unserer Zeit aufzubauen. Es gab keine Strategien mehr, weder kurz-, mittel- noch langfristige. Vor allem aber wurde der Nachwuchs sträflich vernachlässigt. Diese negative Entwicklung bedeutete das Ende unserer glorreichen Fussballepoche. Wir verloren den Anschluss an Länder wie Spanien, Frankreich, Italien und die Schweiz. Diese hatten alle ein Programm, ein Konzept, wie der Fussball weiterentwickelt werden muss, wir dagegen nicht mehr.
Gheorghe Hagi hat sich in Hochform geredet. Er kann seine Enttäuschung über den Niedergang des rumänischen Fussballs nicht verbergen. Sein Engagement als Nationaltrainer 2001 hatte er nach wenigen Spielen aus Frustration gleich selber beendet. Seinem exzellenten Ruf im ganzen Land tat dies aber keinen Abbruch. Gheorghe Hagi – wo immer man diesen Namen in den Mund nimmt, ob in Bukarest, Cluj oder Constanta, die Hochachtung der Menschen für den Volkshelden der späten 80er- und der 90er-Jahre ist spürbar. In Săcele geboren, 40 Kilometer von Constanta entfernt, war Hagi als 15-Jähriger für ein Jahr nach Bukarest gezogen, um eine Fussballschule zu besuchen. Danach kehrte er zurück ans Schwarze Meer, ehe 1987 seine Karriere bei Steaua Bukarest Fahrt aufnahm. Es war die Zeit der Diktatur von Nicolae Ceaușescu, Steaua war der Privatverein der Familie Ceaușescu. Valentin, der Sohn von Nicolae, kümmerte sich um den Klub und Hagi war sein Liebling, dem er jeden Wunsch von den Lippen ablas.
Doch mit dem Sturz der Ceaușescus im Dezember 1989 änderte sich alles. Endlich durfte Hagi, mittlerweile 25 Jahre alt, das Land verlassen und im Ausland spielen. Für Real Madrid, Brescia, den FC Barcelona und Galatasaray Istanbul. Nach dem Ende seiner aktiven Laufbahn wurde Gheorghe Hagi ab 2003 Klubtrainer bei Bursaspor, Galatasaray, Timisoara, Steaua und noch einmal bei Galatasaray. Sein Erfolgsausweis liest sich mit einem Sieg im türkischen Cup bescheiden. Immerhin hat er den FC Viitorul Constanta mit vorwiegend eigenen Spielern in der 1. Liga etabliert.
Herr Hagi, wir haben über den tiefen Fall der Nationalmannschaft gesprochen. Die Talsohle scheint jetzt aber überwunden. Erstmals seit 2008 nimmt Rumänien bei der EM in Frankreich wieder einmal an einem grossen Turnier teil. Was trauen Sie dem Team zu?
Wir haben eine Mannschaft, die ganz hervorragend verteidigen kann. Sie lässt kaum Gegentore zu. Sie macht auf mich einen ziemlich reifen Eindruck. Ich traue ihr auf jeden Fall ein paar gute Resultate zu. Mit Anghel Iordanescu, der ja schon bei der WM 1994 unser Coach war, haben wir überdies einen Trainer mit einer immensen Erfahrung auf höchstem Niveau.
Griechenland hat 2004 gezeigt, was mit einer starken Abwehr möglich ist und wurde sensationell Europameister.
Es stimmt: Mit einer derart starken Abwehr, wie wir sie haben, ist nichts unmöglich. Man muss aber schon auch sehen, dass sich die Mannschaft enorm schwertut mit dem Toreschiessen.
Dieses Problem könnte auch die Schweiz haben. Wie stufen Sie den Schweizer Fussball ein?
Er ist hervorragend organisiert. Es gab immer gute Nachwuchsakademien in der Schweiz. Die Nationalmannschaft besitzt individuell gute Spieler. Als Kollektiv ist sie fähig, auch mit grossen Mannschaften mitzuhalten. Im Gegensatz zu Rumänien gibt es viele Schweizer Spieler, die bei grossen Klubs unter Vertrag stehen. Für mich hat aber noch etwas anderes eine spezielle Bedeutung: Die Schweiz besitzt Spieler, die ihre Wurzeln in den verschiedensten Ländern Europas haben. Ich betrachte diese Mischung als grossen Vorteil. Die Schweiz ist so etwas wie die Nationalmannschaft von Europa, oder sagen wir: eine Europa-Auswahl.
Ein Blick auf das EM-Aufgebot zeigt, dass fast keine Rumänen mehr in grossen europäischen Klubs spielen. Früher verliessen die Stars Bukarest, um für Barcelona, Real, Valencia, Tottenham, Chelsea oder Leverkusen aufzulaufen. Weshalb ist dies nicht mehr der Fall?
Weil die Spieler in Rumänien nicht mehr so gut ausgebildet werden, um die höchsten Anforderungen zu erfüllen. Sie sind schlicht nicht bereit für das Niveau der Topklubs und der europäischen Wettbewerbe, vor allem mental nicht. Im rumänischen Klubfussball wird keine gute Arbeit verrichtet. Aber die Vereine werden auch nicht unterstützt. Es handelt sich um ein gesellschaftliches Problem und betrifft den gesamten Sport im Land. Die meisten Nationen unterstützen ihre Nachwuchshoffnungen. Bei uns gibt es kein Geld, um Projekte zu kreieren. Wie sollen die Vereine den Nachwuchs fördern, wenn es keinen finanziellen Support gibt? Es läuft nur etwas über private Initiativen.
Vom jungen Verbandspräsidenten Razvan Burleanu hört und liest man aber viel Gutes.
Wir warten darauf, dass die Dinge umgesetzt werden, die er vor zwei Jahren bei seiner Wahlkampagne versprochen hat. Änderungen, die dringend nötig sind.
Wie hat sich Fussball verändert, seit Sie Ihre Schuhe an den Nagel gehängt haben?
Das Spiel ist sehr viel schneller geworden. Die individuelle Technik ist dieselbe, aber die Schwierigkeit ist, alles so viel schneller tun zu müssen. Natürlich hat sich auch das ganze Umfeld des Fussballs und seine Vermarktung in grossem Ausmass verändert. Schauen Sie nur, was die Medien heute aus dem Fussball machen. Für viele Menschen ist er eine Religion geworden. Fussball ist ein immenses Spektakel. Alles dreht sich um Analysen, Statistiken und Geld …
Spüren Sie, dass in Rumänien das EM-Fieber steigt?
Und wie! Bei uns ist Fussball ein Spiel fürs Volk, alle nehmen am Schicksal der Nationalmannschaft Anteil. Die Qualifikation war verdient. Wir haben zwar gelitten, es am Ende aber doch noch nach Frankreich geschafft. Die Begeisterung war gross. Die Mannschaft braucht diese, um erfolgreich zu sein und von ihr mitgerissen zu werden. Doch sie steht auf dünnem Eis. Wenn es schlecht läuft, wird bei uns alles ganz schnell ganz heftig kritisiert. Die meisten Rumänen sind nicht in der Lage, eine vernünftige Balance zu finden. Nur Erfolg kann die positive Stimmung hochhalten.
Wird jemals wieder eine rumänische Mannschaft das Niveau Ihrer Generation erreichen?
Das scheint nicht einfach zu sein. Doch andrerseits: Warum soll unser Team in Frankreich nicht in den Halbfinal kommen? Dann hätte es mit einem Schlag mehr erreicht als meine gelobte Generation!